Psychologie

Transgenerationales Trauma: Wenn alte Wunden neue Generationen treffen

Veröffentlicht am:06.11.2025

9 Minuten Lesedauer

Eltern können unverarbeitete, belastende Gefühle an ihre Kinder weitergeben – auch unbewusst. Forschende sprechen dann von transgenerationalem Trauma. Was das bedeutet und wie man den Kreislauf durchbrechen kann.

Eine erwachsene Frau spricht mit ihrer Mutter am Esstisch.

© iStock / jeffbergen

Was ist ein transgenerationales Trauma?

Wer ein Trauma erlebt und nicht verarbeitet hat, möchte dies sicherlich nicht an seine Kinder weitergeben. Doch ohne es zu wollen oder sich dessen bewusst zu sein, können Eltern ihre Traumata an Kinder weitergeben. Das gilt vor allem dann, wenn Vater oder Mutter Gewalt, Krieg, Flucht oder Missbrauch erfahren haben. Forschende sprechen dann von einem transgenerationalen Trauma. Es beschreibt die Weitergabe traumatischer Belastungen von einer Generation zur nächsten, etwa durch Erziehungsmuster oder emotionale Dynamiken – und sogar durch biologische Mechanismen.

Aber auch abgewehrte und verleugnete Schuldverstrickungen können sich durch die Generationen ziehen. Ein Beispiel: Bei schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wie dem Holocaust, kann es bei den Tätern und Täterinnen passieren, dass sie ihre Empathiefähigkeit verlieren. Die Folge: Sie nehmen ihr Handeln nicht als schuldhaft wahr und erkennen es auch nicht als solches an. Dadurch vermeiden sie es, Schuldgefühle zu empfinden. Geben die Betroffenen diese Schuldverstrickung an ihre Kinder weiter, können diese, ohne die familiäre Belastung zu kennen, unter Gefühlen von Schuld und Scham leiden. Werden die Emotionen dann abgewehrt, können sie sich auf die nächste Generation übertragen, sodass die Enkelkinder auch Schuld und Scham erleben, ohne zu wissen, woher die Gefühle überhaupt stammen.

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Wie funktioniert die transgenerationale Weitergabe?

Es muss kein kollektives Trauma wie eine Naturkatastrophe, Terroranschläge, Krieg, Völkermord oder Gewalt gewesen sein, dass man selbst oder eine vorherige Generation erlebt hat, um seine Kinder damit zu belasten oder selbst von einer vorherigen Generation belastet worden zu sein. Auch Bindungstraumata wie Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit können als transgenerationales Trauma weitergegeben werden.

Generell gehen psychoanalytische Modelle davon aus, dass starke Gefühle wie Angst, Trauer oder Wut, die nach einem Trauma nicht verarbeitet wurden, unbewusst an die nächste Generation vermittelt werden können. Denn traumatische Erfahrungen, die nicht verarbeitet wurden, hinterlassen Spuren in der Persönlichkeit und im Verhalten. Kinder identifizieren sich mit ihren traumatisierten Eltern und übernehmen diese Defizite oder wollen unbewusst die unterdrückten Gefühle der Eltern ausleben oder ausgleichen. Dabei verlieren sie das Gespür für die Grenze zwischen dem eigenen Empfinden und den seelischen Verletzungen der Eltern. Weil traumatische Erinnerungen häufig nicht offen angesprochen werden, bleiben sie für die Kinder vage, aber emotional spürbar. Um die Herkunft dieser Gefühle besser zu verstehen, versuchen sie oft unbewusst, ähnliche Situationen im eigenen Leben nachzustellen – in der Hoffnung, dadurch Klarheit zu gewinnen.

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Kann ein transgenerationales Trauma vererbt werden?

Neben psychologischen und sozialen Einflüssen untersuchen Forschende auch biologische Mechanismen der transgenerationalen Weitergabe von Traumata. Besonders im Fokus steht die Epigenetik – also Veränderungen der Genaktivität, die nicht auf Mutationen im Erbgut selbst beruhen, sondern auf molekularen „Markierungen“. Studien deuten darauf hin, dass extreme Stresserfahrungen, wie Krieg, Gewalt oder Flucht, epigenetische Veränderungen hervorrufen können. Diese epigenetischen Markierungen können über die Keimbahn – also über Ei- oder Samenzellen – an die Nachkommen weitergegeben werden. Das bedeutet nicht, dass Kinder die Traumata „erben“ wie eine Krankheit, aber sie können dadurch eine veränderte Stressanfälligkeit oder emotionale Reaktionsweise entwickeln. Das beeinflusst ihre emotionale Belastbarkeit, auch wenn die Kinder selbst keiner extremen Gefahr ausgesetzt waren.

Traumatische Erlebnisse können zudem das körpereigene Stresssystem dauerhaft verändern –nicht nur bei den direkten Betroffenen, sondern bei ihren Kindern und Enkelkindern. Forschende haben Hinweise darauf gefunden, dass traumabedingter Dauerstress den Spiegel des Stresshormons Cortisol beeinflusst. So wurde bei Nachkommen traumatisierter Menschen ein veränderter Cortisolwert gemessen, der mit einer gesteigerten inneren Alarmbereitschaft (auch Hypervigilanz genannt) in Verbindung steht.

Drei Generation: Ein Kleines Mädchen, seine Mutter und die Großmutter lachen zusammen im Garten.

© iStock / Goodboy Picture Company

Ein transgenerationales Trauma lässt sich durch behutsame Gespräche oder auch eine Gesprächstherapie auflösen, sodass keine weiteren Generationen belastet werden.

Wie äußert sich transgenerationales Trauma bei Kindern?

Kinder von traumatisierten Eltern sind häufig emotional stark belastet – selbst dann, wenn sie die traumatischen Erlebnisse ihrer Eltern nicht kennen oder nicht bewusst miterlebt haben. In Untersuchungen zeigen sich bei diesen Kindern vermehrt Symptome wie Angst oder sozialer Rückzug. Auch körperliche Beschwerden ohne klare Ursache treten häufiger auf. Ein zentrales Merkmal ist dabei die emotionale Unklarheit: Viele Kinder spüren, dass „etwas nicht stimmt“, erhalten aber keine Erklärung dafür. Das kann zu einer inneren Verunsicherung führen, die sich in Verhaltensauffälligkeiten oder psychosomatischen Symptomen äußert. Zudem zeigen sich über Generationen hinweg oft wiederkehrende Beziehungsmuster, etwa ein starkes Bedürfnis nach Kontrolle oder Schwierigkeiten, Vertrauen aufzubauen. In manchen Familien kommt es auch zur sogenannten Parentifizierung: Kinder übernehmen zu früh Verantwortung, weil sie spüren, dass ihre Eltern innerlich überfordert sind.

PTBS entsteht durch schwere Traumata wie Unfälle oder Gewalt. Symptome werden durch Trigger ausgelöst. Eine gezielte Therapie hilft, Spätfolgen zu vermeiden.

Lässt sich ein transgenerationales Trauma auflösen?

Auch wenn transgenerationale Traumafolgen tiefgreifend sein können, zeigen Untersuchungen: Es gibt Wege, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Eine Möglichkeit ist es, mit seinen Kindern über die traumatischen Erlebnisse behutsam zu sprechen.

Schweigen oder sprechen? Die Rolle familiärer Kommunikation

Klammern Eltern belastende Erlebnisse komplett aus, führt das häufig bei ihren Kindern zu Verunsicherung, Schuldgefühlen oder Wut, insbesondere, wenn emotionale Spannungen oder auffälliges Verhalten im Alltag dennoch spürbar sind. Kinder ziehen dann möglicherweise eigene Schlüsse daraus, die belastender sein können als die Wahrheit. Eine vermeidende Kommunikationsweise wirkt sich also langfristig negativ auf das psychische Wohlbefinden aus. Anders sieht es aus, wenn Eltern bereit sind, altersgerecht über ihr Erlebtes zu sprechen. Entscheidend ist dabei allerdings, dass die Aufklärung sensibel stattfindet, ohne die Kinder zu überlasten, sonst droht eine sekundäre Traumatisierung.

Wie der Kreislauf durchbrochen werden kann

Eine Psychotherapie hilft Betroffenen aller Generationen dabei, unterdrückte Erlebnisse und Gefühle aufzuarbeiten, die emotionale Verfügbarkeit gegenüber den eigenen Kindern zu verbessern und dysfunktionale Weitergabemuster zu verändern. Kinder traumatisierter Eltern kann es beispielsweise erleichtern, wenn sie in der Therapie die Gefühle, die sie von ihren Eltern übernommen haben und die sie fälschlicherweise für ihre eigenen halten, an diese zurückgeben.

Auch auf gesellschaftlicher Ebene sind unterstützende Maßnahmen wichtig. Wenn Fachkräfte aus Jugendhilfe, Pädagogik oder Medizin für transgenerationale Zusammenhänge sensibilisiert sind, lassen sich betroffene Familien frühzeitig erkennen und gezielt begleiten.

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