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Psychologie

Magersucht: Gefährliches Hungern

Veröffentlicht am:12.07.2021

6 Minuten Lesedauer

Magersucht oder Anorexie ist eine der häufigsten Essstörungen, oft sind junge Frauen in der Adoleszenz betroffen. Was sind typische Symptome und Ursachen? Wie kann die Magersucht behandelt werden? Ein Experte klärt auf.

Jugendliche mit Magersucht schaut sich kritisch im Spiegel an.

© iStock / Yta23

Anorexie: Was ist Magersucht?

„Medizinerinnen und Mediziner sprechen von Magersucht oder Anorexie, wenn jemand einen Body-Mass-Index (BMI) von unter 17,5 aufweist, also das Gewicht einen bestimmten Bereich unterschreitet“, sagt Dr. med. Hans Peter Hofmann. Er ist Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie sowie Chefarzt des Fachbereichs Psychosomatik der Kliniken am Goldenen Steig im bayerischen Freyung. Dort leitet er das Ananke, ein Zentrum für Psychosomatik und Essstörungen.

Ein BMI zwischen 19 und 25 gilt als normal, unter 19 beginnt der Bereich des Untergewichts. Die Magersüchtigen erkennen das aber selbst gar nicht, denn sie leiden an einer verzerrten Körperwahrnehmung.

Meist sind es Eltern, Lehrerinnen oder Lehrer, Freundinnen oder Freunde, die darauf hinweisen, dass jemand immer weiter abnimmt. Jedoch finden sich die meisten Betroffenen auch dann immer noch zu dick und fühlen sich unwohl in ihrem Körper.

Ärzte und Ärztinnen unterscheiden bei Magersüchtigen den restriktiven und den aktiven Typ:

  • Der restriktive Typ hält Diäten und hungert, um abzunehmen.
  • Der aktive Typ erbricht sich zusätzlich und/oder nimmt Medikamente wie Appetitzügler oder Abführmittel, um eine Gewichtszunahme zu verhindern.

Außerdem treiben fast alle Magersüchtigen exzessiv Sport, um nicht zuzunehmen. Der hohe Bewegungsdrang zeigt sich etwa, indem sie mindestens zweimal am Tag ein Workout oder täglich einen Langstreckenlauf machen. Das Hungern und Abnehmen ist – wie im Begriff „Magersucht“ beschrieben – zur Sucht geworden, über die Betroffene die Kontrolle verloren haben.

Wer ist von Magersucht vor allem betroffen?

Junge Frauen und Mädchen sind etwa zehnmal häufiger betroffen als Jungen und Männer im gleichen Alter. Das typische Alter für den Beginn einer Anorexie beziehungsweise Anorexia nervosa ist die Pubertät oder frühe Adoleszenz – sie kann aber auch bis ins höhere Lebensalter auftreten.

„In der Regel liegt der sichtbare Beginn der Essstörung zwischen 12 und 14 Jahren. Betroffen sind außerdem besonders häufig Mädchen, die sehr sportlich, leistungsorientiert und oft gut in der Schule oder im Job sind“, sagt Dr. Hofmann.

Die Betroffenen leiden häufig unter einem verminderten Selbstwertgefühl, das auch auf einen großen Perfektionismus in vielen Lebenslagen zurückzuführen ist. Damit einher geht eine verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers und ein fehlendes Vertrauen in die persönliche Fähigkeit, herausfordernde Situationen zu meistern. Viele von Magersucht Betroffene verleugnen ihre Krankheit lange Zeit und entwickeln erst dann die Motivation, sie zu überwinden, wenn sie feststellen, dass ihre Leistungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt ist.

Meist tritt die Anorexie zusammen mit anderen psychischen Störungen wie Zwangserkrankungen, Angststörungen und Depressionen auf.

Welche Auslöser und Ursachen für eine Magersucht gibt es?

Für den Beginn einer Anorexie spielen verschiedene Faktoren eine Rolle. In der Pubertät verändert sich der Körper, er wird geschlechtsreif. „Der Entwicklungsschub sorgt zum Beispiel dafür, dass das Becken breiter wird oder junge Mädchen etwas zunehmen“, sagt Dr. Hofmann. „Äußerlichkeiten beginnen eine wichtige Rolle zu spielen.“ Und so gewinnen auch gesellschaftliche Einflüsse an Bedeutung, die definieren, dass ein attraktiver Körper schlank sein muss.

In der Pubertät machen Jugendliche oft auch erste Versuche abzunehmen, die jedoch nach außen häufig nicht auffallen oder von den Eltern als normal angesehen werden. Es ist keine Seltenheit, dass Mutter und Tochter zusammen eine Diät machen. „Doch diese können sich verselbstständigen und so eine Magersucht auslösen“, sagt der Facharzt für psychosomatische Medizin. „Hinzu kommen eventuell negative, kränkende Rückmeldungen von außen oder der Vergleich mit schlankeren Freundinnen.“ Auch emotionaler, körperlicher oder sexueller Missbrauch kann eine Essstörung auslösen.

Zusätzlich spielt die genetische Disposition, also die erbliche Veranlagung, eine entscheidende Rolle für die Entwicklung einer Magersucht. Je größer die genetische Disposition ist, desto weniger soziokulturelle Auslösemechanismen – wie etwa ein instabiles Selbstwertgefühl oder Kränkungen von außen – brauchen Patientinnen und Patienten, um krank zu werden. In betroffenen Familien tritt die Magersucht außerdem gehäuft auf. Oft herrscht eine schwierige Familienatmosphäre, wenn beispielsweise die Mutter schon mit Essstörungen zu kämpfen hat oder hatte.

„In unserer Gesellschaft gilt leider immer noch die Formel: Wer schlank ist, ist sexy und wer sexy ist, ist erfolgreich.“

Dr. med. Hans Peter Hofmann
Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie

Spielt Perfektionismus als Charaktereigenschaft demnach eine Rolle?

Ein Schuss Perfektion gehört oft dazu, denn die meisten Magersucht-Patientinnen und -Patienten haben eine zwanghafte Ader. In der Regel tritt die Anorexie zusammen mit anderen psychischen Störungen wie Zwangserkrankungen, Angststörungen und Depressionen auf. Viele Betroffene verleugnen ihre Erkrankung lange und entwickeln erst dann die Motivation sie zu besiegen, wenn sie feststellen, dass ihre Leistungsfähigkeit deutlich beeinträchtigt ist.

Tritt Magersucht in der Corona-Pandemie vermehrt auf?

Von den restriktiven Maßnahmen und Kontaktbeschränkungen in der Pandemie sind psychisch Vorerkrankte besonders betroffen. Durch den vermehrten Familienkontakt fühlen sich Menschen mehr beachtet oder eben auch beobachtet. Wer bereits Probleme mit Essstörungen hatte, erleidet häufiger Rückfälle. Vor allem Angststörungen und Depressionen treten in der Pandemie gehäuft auf.

Wie sieht die Therapie bei Magersucht aus?

In der Therapie geht es darum, die Schallgrenze, die sich die Betroffenen gesetzt haben, gemeinsam zu überwinden: Magersüchtige haben ein bestimmtes Gewicht im Kopf, das logisch nicht hinterfragbar ist. Sie können also nicht erklären, warum sie an dieser Gewichtszahl festhalten, haben aber eine massive, paranoide Angst davor, dieses Gewicht zu überschreiten.

Die Therapie besteht deswegen aus zwei Handlungssträngen:

  1. Es wird ein Ess-Vertrag geschlossen: Die Patienten haben die Vorgabe zuzunehmen. Es soll ein BMI von 19 erreicht werden, dieser markiert die Grenze zum Untergewicht. Dafür wird an der Normalisierung des Essverhaltens gearbeitet.
  2. In der Gesprächstherapie wird begleitend über Ängste und Sorgen gesprochen. Dabei sind verschiedene Ansätze möglich: Etwa eine tiefenpsychologische, verhaltenstherapeutische oder familientherapeutische Herangehensweise.

Wann findet eine ambulante, wann eine stationäre Behandlung statt?

Dazu gibt es eine Vorgabe der Fachgesellschaft: Liegt der BMI unter 15 muss stationär behandelt werden, darüber ist eine ambulante Behandlung möglich. Viele Magersüchtige haben massives Untergewicht, wenn sie in einer Klinik aufgenommen werden. Ihr BMI liegt zum Teil bereits bei zehn und damit in einem lebensgefährlichen Bereich.

Ein sehr schlankes Mädchen stochert lustlos in ihrem Salat herum und mag kaum etwas essen, vielleicht ist sie von Magersucht betroffen.

© iStock / Viktoria Korobova

Magersucht ist eine der häufigsten Essstörungen, junge Frauen sind etwa zehnmal häufiger betroffen als Jungen im gleichen Alter.

Welche Folgen kann die Magersucht haben?

Der Elektrolyt- und Wasserhaushalt des Körpers ist durch die mangelnde Nahrungsaufnahme und eventuell durch zusätzliches Erbrechen gestört. Das kann zu einem verlangsamten Herzschlag, Herzrhythmusstörungen und Störungen der Nierenfunktion führen. Im schlimmsten Fall kann ein Herzstillstand die Folge sein. Durch das Erbrechen wird der Zahnschmelz geschädigt. Zusätzlich können Kreislaufbeschwerden und Konzentrationsstörungen auftreten.

Ein weitere, sehr ernsthafte Folge ist die Osteoporose. Durch den Nährstoffmangel findet bei schwerer Magersucht ein irreversibler Abbau der Knochen statt. Chronisch anorektische Patienten sind deswegen anfälliger für Knochenbrüche.

Bei starkem Untergewicht kommt es zu einer sogenannten Lanugobehaarung. Der feine Haarflaum bildet sich, um zu verhindern, dass der Körper auskühlt.

Letztlich gibt es eine Unterfunktion in allen Körperbereichen, die individuell unterschiedlich lange aufrechtzuerhalten ist. Irgendwann sind Patientinnen etwa auf den Rollstuhl angewiesen. Bereits ein leichter Infekt kann zu einer gefährlichen Elektrolytschwankung und damit zum Tod führen. Die chronisch anorektischen Patienten haben ein bis zu 16 Prozent erhöhtes Risiko, an der Magersucht zu versterben.

Beginnt die Anorexie im frühen Lebensalter, kann sie außerdem zu Problemen in der Entwicklung führen. Das Knochenwachstum kann gestört sein, außerdem tritt womöglich die Menstruation gar nicht erst auf oder bleibt aus.

„Die chronisch anorektischen Patienten haben ein bis zu 16 Prozent erhöhtes Risiko an der Magersucht zu versterben.“

Dr. med. Hans Peter Hofmann
Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie

Wie hoch sind die Heilungschancen bei Magersucht?

Die Behandlung ist kompliziert, da die meisten Patienten unter mehreren psychischen Erkrankungen leiden. Bei etwa 50 Prozent der Behandelten tritt eine Heilung ein – oft reicht aber ein stationärer Aufenthalt dafür nicht aus. 

Unter den restlichen 50 Prozent gibt es einen Teil, der immer Probleme mit Essstörungen haben wird. Aus einer Magersucht kann sich zum Beispiel eine Bulimie oder Binge-Eating-Störung entwickeln. Der andere Teil bleibt chronisch an Anorexie erkrankt und hat damit ein erhöhtes Sterberisiko. Das liegt unter anderem auch daran, dass Patienten mit Sucht- und anorektischen Erkrankungen im Bereich der psychischen Erkrankungen das höchste Suizidrisiko haben.

Wie sollten sich Angehörige oder Freunde von Magersüchtigen verhalten?

Sie sollten die Magersucht in einem wohlmeinenden, nachfragenden und nicht vorwurfsvollen Ton ansprechen. Es sollte außerdem ein Hausarzt miteinbezogen werden, der regelmäßig das Gewicht kontrolliert, die Elektrolyte im Auge behält und ein EKG durchführt. Er kann an einen Spezialisten für Essstörungen verweisen. Im Internet gibt es ebenfalls viele hilfreiche Informationen für Eltern und Patienten, zum Beispiel das bayerische Therapienetz für Essstörungen.

Beratungsstellen gibt es flächendeckend in ganz Deutschland. Hier können sich sowohl Betroffene als auch Angehörige melden. In unsere Klinik kommen die Eltern auch ohne ihr Kind zum Vorgespräch und lassen sich beraten. Man sollte auf keinen Fall wegschauen, sondern nachfragen!

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