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Gesundheitsmagazin

Liebe & Sexualität

Polyamorie? Wir alle können ein Stück weit mehrere Menschen gleichzeitig lieben

Veröffentlicht am:05.08.2025

5 Minuten Lesedauer

Paartherapeutin Anna Holfeld kennt klassische wie alternative Beziehungsmodelle – auch Polyamorie und offene Beziehungen. Im Interview spricht sie über gesundheitliche Vorteile, Eifersucht und welche Fähigkeiten man für Polyamorie braucht.

Zwei männliche und eine weibliche Person sitzen zusammen auf dem Fußboden und sehen fern.

© iStock / FG Trade

Zwischen Monogamie, Polyamorie und vielen Fragen

Es gibt längst viel mehr Formen von Liebesbeziehungen als nur die altbekannte Zweierbeziehung mit sexueller Exklusivität. Moderne Varianten wie Polyamorie oder offene Beziehungen sind für immer mehr Menschen eine Option. Doch sie werfen auch Fragen auf. Anna Holfeld kann diese nicht nur beantworten, sondern auch aus eigener Erfahrung sprechen: Die Berliner Paartherapeutin und Beziehungscoachin hat selbst schon polyamore Beziehungen geführt.

Frau Holfeld, bitte erklären Sie einmal den Unterschied: Was bedeutet Polyamorie, Polygamie und was ist eine offene Beziehung?

Polyamorie heißt, dass ich mehrere Liebesbeziehungen gleichzeitig mit verschiedenen Partnern oder Partnerinnen führe. Ich liebe also mehrere Personen. Das Pendant ist Monoamorie oder Monogamie, das Konzept kennen die meisten: Ich führe eine monogame Beziehung mit einer Person. Polygamie bedeutet, dass man mehrere Ehen mit verschiedenen Personen führt, das ist in Deutschland aber nicht erlaubt. Und wer eine offene Beziehung oder Ehe lebt, darf neben seinem Partner oder seiner Partnerin noch andere Beziehungen führen – in der Regel beschränken sich diese auf Sexualität.

Warum entscheiden sich Menschen, polyamor zu leben?

Ich glaube, dass wir alle ein Stück weit polyamor sind, weil wir zum Beispiel unsere Freundinnen und Freunde lieben und Liebe einfach nur schwer zuteilbar ist. In der Polyamorie wollen Menschen ihre Liebe oder ihre Sexualität oft nicht auf eine Person beschränken, sondern diese ausleben. Das ist natürlich nicht einfach, weil man Personen finden muss, die dieses Konzept teilen. Die meisten Menschen gehen immer noch davon aus, dass eine Liebesbeziehung nur zwischen zwei Menschen geführt wird. Bespricht man das nicht zu Beginn einer Partnerschaft, kann es sein, dass Sie in einer monogamen Beziehung landen, obwohl diese nicht Ihren Idealvorstellungen entspricht.

Anna Holfeld

Portraitfoto von Beziehungscoach Anna Holfeld.

© Katharina Richter

Die Paarberaterin und Beziehungscoachin Anna Holfeld begleitet Paare seit mehr als 14 Jahren bei Anliegen rund um Liebe, Sexualität und Beziehung in ihrer Praxis in Berlin sowie online.

Dann wäre es eine Möglichkeit, die Beziehung zu öffnen?

Der Wunsch nach einer offenen Beziehung entsteht oft, wenn eine Person merkt: Mein Partner oder meine Partnerin kann nicht alle meine Bedürfnisse erfüllen. Dabei handelt es sich nicht zwingend um sexuelle Bedürfnisse, emotionale Bindung oder körperliche Nähe. Das kommt natürlich auch vor. Allerdings spielt häufig der Wunsch nach persönlichem Wachstum, Selbstbestimmung oder der Wille, mit Traditionen zu brechen, eine große Rolle. Nach dem Motto: Ich entscheide unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Vorstellungen, wie ich meine Beziehung gestalte. Die Beziehung zu öffnen oder von Beginn an eine offene Beziehung zu führen, ist eine gute Strategie, die viel Frust vermeidet. Immer unter der Voraussetzung natürlich, dass beide Personen eine offene Beziehung möchten und Konsens herrscht.

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Neben Wachstum und persönlicher Freiheit: Welche weiteren Vorteile haben Polyamorie und offene Beziehung?

Eine intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, seinen Wünschen, Bedürfnissen und seinen Mustern. Aus psychologischer Sicht macht man neue Bindungserfahrungen, die in der Regel von dem Vorbild der Eltern abweichen. Das fördert das emotionale Wachstum. Insbesondere in einer polyamoren Beziehung muss man ständig reflektieren: sich selbst, aber auch die Bedürfnisse seiner Partner oder Partnerinnen und mit ihnen im Austausch stehen. Daran wachsen natürlich auch die kommunikativen Fähigkeiten. Gleichzeitig kann Polyamorie die psychische Gesundheit entlasten.

Darauf müssen Sie bitte näher eingehen: Wie kann Polyamorie die psychische Gesundheit unterstützen?

Ich denke, dass die polyamore Beziehungsform zu einer größeren emotionalen Autonomie führt. Man macht die Erfahrung: Ich kann leichter für mich selbst sorgen und bin nicht ausschließlich von der Zuwendung einer Person abhängig. Gleichzeitig haben Sie in einer polyamoren Beziehung mehr emotionale, aber auch logistische Ressourcen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung: Ich lebe mit meinem Ex-Mann, einem unserer Kinder sowie meiner Frau in einer Erwachsenen-WG. Mittlerweile führe ich eine monogame Beziehung mit meiner Frau, doch das war nicht immer so. Ich lebe zwar nicht mehr polyamor, aber die Vorteile sind geblieben. Egal worum es geht, Krankheit, Geld, Kindererziehung, emotionale Probleme: Man hat eine Mehrfachunterstützung, kann Aufgaben oder Bedürfnisse auf verschiedene Personen verteilen und wird dadurch entlastet. Gleichzeitig lasten meine Bedürfnisse nicht nur auf einer Person. Auch das können alle Beteiligten als Erleichterung empfinden. Denn eine Beziehung, in der ich die einzige Stütze für meinen Partner bin oder die gesamte Care-Arbeit an mir hängt und in der ich zudem noch unglücklich bin, kann wirklich stressig sein.

Das bedeutet im Umkehrschluss: In einer unerfüllten Beziehung leidet die Gesundheit?

Wer in einer unerfüllten Beziehung feststeckt, stellt in der Regel irgendwann mentale oder sogar körperliche Stress-Symptome fest. Das können beispielsweise innere Unruhe, ein Gefühl von Unzufriedenheit, sexuelle Unlust, negative Gedankenspiralen, aber auch Einschlafstörungen, Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen oder Muskelverspannungen sein.

Eine männliche Person und eine weibliche Person sitzen nebeneinander auf einem Sofa bei einem Paartherapeuten, der sich Notizen macht.

© iStock / SrdjanPav

Damit Polyamorie funktionieren kann, ist die Kommunikation über Bedürfnisse und Grenzen essenziell – bei Bedarf auch mit professioneller Unterstützung.

Welche Rolle spielt Eifersucht in polyamoren Beziehungen?

Natürlich können eigene Unsicherheiten oder unbearbeitete Bindungsthemen auftauchen, die zu Eifersucht führen, wenn ich polyamor lebe. Allerdings ist der Besitzanspruch meist viel geringer, wenn ich mehrere Menschen liebe. Gleichzeitig gibt es keine sexuelle oder emotionale Exklusivität wie in einer monogamen Beziehung, die schneller zu Eifersucht führt. Schließlich habe ich mich bewusst dazu entschieden, meinen Partner oder meine Partnerin zu teilen und/oder selbst eine weitere Liebesbeziehung mit einer anderen Person zu führen. Wie das Gefühlsleben allerdings auf einen polyamoren Lebensstil reagiert, kann man sich vorher nicht vollends ausmalen, sondern entdeckt es erst durch die Erfahrung. Ich möchte an dieser Stelle noch betonen, dass eine polyamore Beziehung nicht automatisch eine polyamore Sexualität inkludiert. Im Gegenteil: Es ist eher die Ausnahme, dass alle Beteiligten einer polyamoren Partnerschaft miteinander Sex haben. Trotzdem hält sich dieses Vorurteil hartnäckig.

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Wann raten Sie davon ab, polyamor zu leben oder die Beziehung zu öffnen?

Wenn ich es nicht schaffe, mich mit meinen Mustern, persönlichen Grenzen, Bindungsstilen sowie Triggerpunkten auseinanderzusetzen, wird eine polyamore Beziehung vermutlich scheitern. Es hilft nicht, diese Defizite in weiteren Liebesbeziehungen zu vervielfältigen. Bei Klienten oder Klientinnen, die mit dem Partner oder der Partnerin nicht über ihre Bedürfnisse sprechen können, oft eigene Grenzen übergehen oder die Beziehung insgeheim verlassen möchten, denen rate ich davon ab, die Beziehung zu öffnen.

Fachlich geprüft
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