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Blindheit: Einblicke in Leben und Alltag blinder Menschen
Veröffentlicht am:22.10.2025
10 Minuten Lesedauer
Blind zu sein, beeinträchtigt Alltag, Beruf, Mobilität und Freizeit. Auf welche Barrieren stoßen blinde Menschen und wie finden sie sich in ihrer Umwelt zurecht? Ein Betroffener gibt Einblicke in sein Leben.

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Inhalte im Überblick
Blind im Alltag: Wie sich Menschen mit Sehbehinderung orientieren
Nach deutschem Recht ist jemand blind, wenn er oder sie selbst mit Brille oder Kontaktlinsen auf dem besser sehenden Auge nicht mehr als zwei Prozent von dem sieht, was ein Mensch mit normalem Sehvermögen erkennt. Wie viele Menschen in Deutschland davon betroffen sind – darüber gibt es keine genauen Angaben. Ende 2021 waren laut Statistischem Bundesamt knapp 559.000 Menschen blind oder sehbehindert. Erfasst wurden jedoch nur diejenigen, die einen Schwerbehindertenausweis hatten. Da viele blinde und sehbehinderte Menschen keinen solchen Ausweis haben, geht der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband von weitaus höheren Zahlen aus. Blindheit schränkt häufig die Lebensqualität ein.
Menschen mit stark eingeschränktem Sehvermögen sind darauf angewiesen, dass ihr Umfeld barrierefrei ist. Sie sehen nicht, wenn die Fußgängerampel grün, ein Platz in der Straßenbahn frei ist oder eine Baustelle ihnen den gewohnten Weg auf dem Bürgersteig versperrt. Im Bus benötigen sie eine Ansage der nächsten Station.
Ein barriefreies Umfeld für Menschen mit Sehbehinderung
Mittlerweile wird viel für ein barrierefreies Umfeld getan. Es gibt hörbare Ampeln, sprechende Aufzüge oder Leitstreifen mit Rillen- und Noppenplatten auf Straßen, Plätzen und an Bushaltestellen und Bahnhöfen, damit blinde Menschen sich einfacher orientieren und fortbewegen können. Doch solche akustischen Signale und Leitsysteme gibt es längst nicht überall.
Thorsten Büchner hat immer seinen weißen Langstock dabei. Damit orientiert er sich an Häuserwänden und Bordsteinen entlang. An der Bordsteinkante ertastet er mit dem Stock den Unterschied zwischen Straße und Gehweg. Das ist wichtig, um nicht aus Versehen auf die Straße zu laufen und sich in Gefahr zu bringen. Der 46-Jährige wohnt seit vielen Jahren in Marburg, hat sich die Wege allmählich erschlossen und sich gemerkt, wann er links oder rechts abbiegen muss.
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Was sehen blinde Menschen und welche Ursachen hat Blindheit?
Thorsten Büchner wurde mit einer starken Sehbehinderung geboren und ist als Jugendlicher völlig erblindet. Seitdem kann er mit den Augen nur noch ein bisschen hell und dunkel unterscheiden. Es war ein schleichender Prozess. Als Kind brauchte er keinen Blindenstock und konnte anfangs mit einer Sehhilfe noch normal lesen und schreiben. Doch im Laufe der Schulzeit mussten Zahlen und Buchstaben immer größer werden, um sie zu erkennen. Durch mehrere Netzhautablösungen wurde sein Sehvermögen immer schlechter.
Es gibt viele Ursachen, die dazu führen können, dass jemand erblindet. Eine wichtige Rolle spielen das Alter und bestimmte Erkrankungen, zum Beispiel:
- eine altersabhängige Makuladegeneration
- Glaukom (Grüner Star)
- diabetische Retinopathie
- Katarakt (Grauer Star)
- Hornhautrübungen
Auch verschiedene Infektionskrankheiten können zum Verlust des Sehvermögens führen. Dazu gehören:
- Trachom
- Cytomegalievirus (häufige Infektion durch ein Herpesvirus)
- Endophthalmitis
- Histoplasmose
- Keratitis (Hornhautentzündung)
- Röteln
- Gürtelrose
- Syphilis
- Toxoplasmose
- oder Uveitis.
Weitere Ursachen können Unfälle, Stürze oder Verletzungen des Auges sein.
Auch der soziale Status kann eine Rolle spielen. Weltweit leben etwa 90 Prozent der Menschen mit Sehbehinderungen in den ärmsten Ländern der Welt. Armut und eine mangelnde medizinische Versorgung – insbesondere im Bereich der Augenheilkunde – sind Gründe für die Erblindung oder Sehbehinderung.
Hilfe für blinde Menschen im Alltag: Brailleschrift und Apps
Computer, Smartphone und Apps sind wichtige Hilfsmittel für Menschen mit Sehbehinderung im Alltag. Auch für Thorsten Büchner. Er mag Krimis und schätzt inzwischen die riesige Auswahl an Hörbüchern. Mit einem sogenannten Daisy Player können blinde Menschen Hörbücher abspielen.
Mit der Kamera seines Smartphones fotografiert Thorsten Büchner die Post ab und lässt sie sich von einem Sprachassistenten vorlesen. Auch Fotos, die ihm Freunde und Freundinnen aus dem Urlaub schicken, kann er sich beschreiben lassen. An seinem Arbeitsplatz nutzt er eine spezielle Software auf seinem Computer und liest mit Braillezeilen und Screenreader Webseiten oder E-Mails. Alles, was er eintippt, wird in Sprache umgesetzt. Verschiedene Apps können auch Texte in Brailleschrift umwandeln sowie von der Brailleschrift in visuelle Schrift. Trotz der technischen Hilfsmittel stößt Thorsten Büchner immer wieder auf Barrieren. Viele Websites und Apps sind nicht barrierefrei und nur vier Prozent der PDF-Dokumente. Moderne Touchscreens und Touchpads – ob an der Waschmaschine, am Kaffeevollautomaten oder am Bezahlterminal – kann er nicht nutzen, weil sie keine haptischen Orientierungspunkte haben.
„Wenn ich im Restaurant oder Supermarkt mit meiner Bankkarte bezahlen möchte und das Kartenlesegerät keine Knöpfe hat, kann ich es nicht bedienen.“
Thorsten Büchner
Öffentlichkeitsarbeit blista, Bundesweites Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung
Der Weg zu einem selbstbestimmten Leben mit Sehbehinderung
Thorsten Büchner engagiert sich seit langem in der Kommunalpolitik und macht heute viele Dinge, die er sich vor zwanzig Jahren nicht vorstellen konnte. Audio-Beschreibungen ermöglichen ihm, Filme im Kino zu sehen oder in Ausstellungen zu gehen. Es gibt heutzutage viel mehr Bücher in Brailleschrift und in Großdruck. Die Universität Marburg stellt blinden und sehbehinderten Studentinnen und Studenten persönliche Studienhelferinnen und -helfer zur Seite. Bei Fußballspielen sieht Thorsten Büchner zwar nicht, was auf dem Rasen passiert, aber er hört es. Größere Vereine bieten inzwischen spezielle Reportagen für blinde Menschen an. Was er weiterhin nicht kann, ist Auto- und Fahrradfahren.
Der Umzug nach Marburg war ein wichtiger Schritt in seinem Leben. Damals war er 14 Jahre alt und wollte unbedingt Abitur machen. Doch in der Nähe seines Elternhauses gab es keine Schule, die ihn aufnehmen wollte. Also zog er vom Saarland nach Hessen, um an der Carl-Strehl-Schule, einer staatlich anerkannten privaten Förderschule mit dem Förderschwerpunkt „Sehen“, sein Abitur zu machen. Er wohnte im Internat, musste Küchendienste übernehmen und einkaufen gehen. Von zuhause kannte er das nicht.
„Ich fühlte mich natürlich am Anfang ziemlich alleine. Aber damals habe ich gelernt, selbstständig zu werden und was ich mir selbst zutrauen kann. Ich bin allein in die Stadt gegangen und habe im Supermarkt eingekauft.“
Thorsten Büchner
Öffentlichkeitsarbeit blista, Bundesweites Kompetenzzentrum für Menschen mit Blindheit und Sehbehinderung
Seitdem hat sich viel verändert und für Menschen mit Sehbehinderung verbessert. An der Carl-Strehl-Schule lernen sehende und blinde Schülerinnen und Schüler gemeinsam und das Thema Inklusion spielt in allen Bereichen der Gesellschaft eine viel größere Rolle. Dennoch ist Thorsten Büchner manchmal auch auf Hilfe angewiesen. Wenn er in eine andere Stadt fährt oder Urlaub macht, ist es für ihn schwierig, sich in der fremden Umgebung auf Bahnhöfen, Straßen oder Plätzen zurechtzufinden. Bei größeren Einkäufen im Supermarkt bittet er die Angestellten, ihm zu helfen. Alle Produkte einzuscannen würde viel zu lange dauern.

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Hilfe für blinde Menschen richtig anbieten
Ganz wichtig ist: Bevor Sie etwas tun, fragen Sie einen blinden Menschen, ob Sie ihm helfen können. Seien Sie nicht traurig, wenn Ihr freundliches Angebot abgelehnt wird. Manche schätzen die eigene Unabhängigkeit mehr als die Hilfe anderer. Wird dagegen Unterstützung gewünscht, können Sie Ihren Arm zum Festhalten anbieten. Schieben oder ziehen Sie einen blinden Menschen nicht, weil dann das Gefühl der Sicherheit verloren geht. Kündigen Sie an, wenn eine Stufe kommt, es ein Geländer an der Treppe gibt oder es am Gehsteig rauf und runter geht.
Blindheit: Welche Folgen kann sie haben?
Bei kleinen Kindern kann sich die motorische, sprachliche, emotionale, soziale und kognitive Entwicklung verzögern. Kinder im schulpflichtigen Alter können ein niedrigeres Bildungsniveau haben. Mögliche Folgen bei älteren Erwachsenen sind soziale Isolation, Depression und Angstzustände. Beim Gehen können Schwierigkeiten auftreten. Auch das Risiko für Stürze und Knochenbrüche ist höher sowie die Wahrscheinlichkeit, früher in ein Pflegeheim zu müssen. Darüber hinaus ist eine Sehbehinderung auch eine enorme finanzielle Belastung.
Passende Angebote der AOK
AOK-Clarimedis: medizinische Informationen am Telefon
An 365 Tagen im Jahr stehen AOK-Versicherten Fachärztinnen und Fachärzte sowie medizinische Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachrichtungen bei Clarimedis, dem medizinischen Info-Telefon der AOK, zur Verfügung.
Blindheit: die Bedeutung der anderen Sinne
Blinde Menschen lernen, die anderen Sinne mehr zu nutzen. Eine Studie an Mäusen zeigt, dass sich durch das Erblinden Gedächtnisstrukturen des Gehirns und insbesondere Vorgänge in den sensorischen Arealen verändern. Mit dem Tastsinn, Gehör und Riechsinn können sich blinde Menschen orientieren und sich durch ihre Umgebung navigieren. Das zu lernen, braucht allerdings Zeit und Übung. Blinde Menschen können auch Geräuschen besser folgen und Hintergrundgeräusche stärker ausblenden als sehende Menschen.
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