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Psychologie

Warum verletzen Menschen sich selbst?

Veröffentlicht am:15.03.2022

6 Minuten Lesedauer

Ritzen, Schlagen oder Verbrühen – manche Menschen, vor allem Jugendliche, fügen sich ohne suizidale Absicht selbst Verletzungen zu. Der Grund, warum sie sich Schmerzen zufügen, ist bei den meisten derselbe: Sie wollen ihre Gefühle unter Kontrolle bringen.

Eine Mutter umarmt ihre Tochter und spricht mit ihr über Sorgen selbstverletzendes Verhalten.

© iStock / fizkes

Porträt von Prof. Dr. Christian Schmahl, Ärztlicher Direktor des Instituts Psychiatrische Psychosomatische Psychotherapie, Klinik Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim.

© Daniel Lukac

Herr Prof. Dr. Christian Schmahl ist Ärztlicher Direktor der Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Im Interview spricht er darüber, welche Erkrankungen selbstverletzendes Verhalten begünstigen und wie Eltern dann reagieren können.

Was ist selbstverletzendes Verhalten?

Zunächst einmal ist jede absichtliche Schädigung der Körperoberfläche ein selbstverletzendes Verhalten. Wir Mediziner unterscheiden dabei suizidales von nicht-suizidalem Verhalten.

  • Suizidales Verhalten: Personen verletzen sich selbst mit der Absicht, Suizid zu begehen.
  • Nicht-suizidales Verhalten: Betroffene schädigen die Körperoberfläche, allerdings nicht mit dem Ziel, sich selbst umzubringen.

Menschen, die sich umzubringen versuchen, also einen Suizidversuch unternehmen, verletzen beispielsweise ihre Pulsadern. Das Ritzen auf der Oberseite der Unterarme fällt unter das nicht-suizidale Verhalten – die Betroffenen haben in der Regel keine Suizidabsicht und wählen deshalb eine „ungefährliche“ Stelle. Es gibt Jugendliche, die sich mehrmals wöchentlich oder sogar täglich verletzen. Der Gedanke an Selbstmord ist dabei vergleichsweise selten. In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Nicht-suizidales Verhalten kommt etwa hundertmal häufiger vor als suizidales Verhalten. Allerdings können wir beide Formen nicht immer strikt voneinander trennen. Es gibt durchaus Jugendliche, die mit nicht-suizidalem Verhalten beginnen und später einen Suizidversuch unternehmen.

Wie verletzen sich Betroffene?

Auf welche Weise sich die Betroffenen verletzen, ist sehr unterschiedlich. Am häufigsten beobachten wir Patienten, die sich Hautschnitte zufügen, also ritzen. Darauf folgen Verbrennungen – Betroffene drücken sich beispielsweise Zigaretten auf der Haut aus. Am dritthäufigsten begegnen uns Patienten, die ihren Kopf gegen die Wand schlagen oder ihre Arme auf die Tischkante hauen. Bei der Art der Verletzung spielt das Geschlecht durchaus eine Rolle. Während sich Mädchen beziehungsweise Frauen eher Hautschnitte zufügen, tendieren Jungen oder Männer dazu, ihre Körperteile auf harte Oberflächen zu schlagen.

Wie häufig kommt Selbstverletzung vor?

Selbstverletzendes Verhalten kommt häufiger vor, als viele denken. Die Altersgruppe zwischen 14 und 17 Jahren ist besonders betroffen. Ungefähr 20 bis 30 Prozent der Jugendlichen verletzen sich in diesem Alter selbst. Die allermeisten von ihnen machen das einmal oder zweimal und hören dann auf. Andere verletzen sich über eine längere Zeit selbst. Im Erwachsenenalter, also ab dem 18. Lebensjahr, tritt Selbstverletzung mit etwa fünf Prozent deutlich seltener auf. In sehr jungen Jahren verletzen sich Menschen nur vereinzelt. Wir beobachten das insbesondere bei Kindern, die körperliche Gewalt oder nur wenig Zuneigung erfahren.

Warum verletzen sich vor allem Jugendliche selbst?

Viele Menschen vermuten, dass sich Betroffene verletzen, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Das ist aber nur selten der Grund für die Selbstverletzung. Die meisten Jugendlichen verletzen sich, weil sie ihre Emotionen regulieren möchten. Für Außenstehende mag das wenig plausibel klingen, aber die Betroffenen versuchen mit der Selbstverletzung, ihre Gefühle und ihren Stress unter Kontrolle zu bringen. Dabei handelt es sich aber keineswegs nur um eine subjektive Wahrnehmung. Wir und auch andere haben dazu Untersuchungen gemacht. Dabei konnten wir beobachten, dass der Stresspegel tatsächlich sinkt, wenn sich Jugendliche im Alltag verletzen.

Die Ergebnisse haben wir durch Patientenbefragungen oder durch Messungen im Labor (Herzfrequenz, Ausmaß an Schwitzen) zusammengetragen. Neben dem Wunsch nach einer Gefühlsregulation und Stressbeseitigung gibt es noch andere Auslöser. Dazu zählen Depressionen, Selbsthass oder Einsamkeit.

„Wenn wir unsere Patienten fragen, warum sie sich ritzen, geben sie häufig an, dass sie damit negative Gefühle oder Stress loswerden.“

Prof. Dr. Christian Schmahl
Ärztlicher Direktor des Instituts Psychiatrische Psychosomatische Psychotherapie, Klinik Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim

Gibt es Erkrankungen, die selbstverletzendes Verhalten begünstigen?

Ja, es gibt tatsächlich Erkrankungen, die eine Selbstverletzung begünstigen. Dazu zählt vor allem die sogenannte Borderline-Störung. Dabei leiden Betroffene durch eine Störung der Emotionsregulation unter sehr starken Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrüchen. Über 90 Prozent der Borderline-Patienten nutzen die Selbstverletzung als ein Ventil, um ihre Emotionen zu regulieren.

Fassen wir die Thematik etwas weiter und nehmen den Begriff selbstschädigendes Verhalten hinzu, dann stoßen wir auch auf Problematiken wie Substanzgebrauchsstörungen (Drogen, Alkohol oder Essstörungen. In der Praxis taucht Selbstverletzung nicht selten in Kombination mit Essstörungen oder Drogenmissbrauch auf. Betroffene suchen sich sozusagen mehrere Kanäle, um den Stress oder ihren inneren Konflikt loszuwerden. Bei Alkoholkonsum sinkt zudem die natürliche Hemmschwelle, sich selbst zu verletzen.

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Wie erkenne ich selbstverletzendes Verhalten?

Selbstverletzendes Verhalten erkenne ich als Außenstehender zunächst an den Verletzungen. Diese sind aber nicht immer offensichtlich.

Folgende Hinweise deuten auf selbstverletzendes Verhalten hin:

  • Das Tragen langärmliger Kleidung, auch im Sommer, um Narben oder Wunden zu verbergen.
  • Das Horten von Verbandsmaterial, Pflastern oder Ähnlichem im Zimmer.
  • Rückzugsverhalten (das Kind verschwindet nach der Schule im Zimmer und schließt ab)
  • Ungewöhnlich häufige Verletzungen wie Prellungen oder Blutergüsse, ohne erklärende organische Ursachen, wie eine Blutgerinnungsstörung.

Was kann ich tun, wenn sich mein Kind selbst verletzt?

Eltern sind gut beraten, wenn sie das Kind bei einem Verdacht direkt ansprechen. Viele Patienten sind dankbar für einen offenen Austausch und fühlen sich erleichtert, wenn sie über das Problem reden. Manchmal ist aber das Eltern-Kind-Verhältnis so belastet, dass ein Gespräch nicht weiterhilft. Dann sind Beratungsstellen eine gute Anlaufstelle. Fast jede Stadt bietet Erziehungsberatungsstellen an. Auch Wohlfahrtsverbände wie die Caritas, das Diakonische Werk oder das Rote Kreuz beraten Hilfesuchende.

Ein Teenager ist beim Kampfsporttraining als Stressausgleich.

© iStock / OLGA RYAZANTSEVA

Sport und Bewegung sind hilfreiche Maßnahmen, um Stress auf gesunde Art und Weise zu bewältigen.

Selbstverletzung: Ab wann zum Arzt?

Eltern sollten sich immer dann an einen Kinder-und-Jugend-Psychiater oder -Psychotherapeuten wenden, wenn sie das Gefühl haben, dass die Familie oder das Kind das Problem nicht alleine lösen kann. Erste Anlaufstellen sind schulpsychologische Beratungsstellen oder die bereits genannten Wohlfahrtsverbände beziehungsweise Erziehungsberatungsstellen. Die Mitarbeiter können bereits einschätzen, ob das Kind weitergehende Hilfe benötigt. Natürlich haben Eltern auch die Möglichkeit, sich direkt an einen Kinder-und-Jugend-Psychiater oder -Psychotherapeuten zu wenden. Dieser stellt zunächst fest, ob eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung vorliegt und setzt dann ggf. an zwei verschiedenen Stellen an: Zum einen versucht er, mit dem Patienten die Auslöser, wie zum Beispiel den Schulstress oder Familienstress, aufzudecken und zu beseitigen.

Funktioniert das nicht, vermitteln Psychotherapeuten dem Betroffenen Methoden, mit denen er den Stress anders bewältigt. Eine Möglichkeit ist, Konflikte zukünftig offen anzusprechen oder ein anderes Ventil zu finden.

In unserer Praxis geben wir Patienten beispielsweise eine Art Notfallkoffer mit, der bestimmte Fähigkeiten (Skills) enthält. Darin befinden sich:

  • Körperbezogene Skills: Igelball, Ammoniaktropfen zum Riechen – Methoden, um den Stressreiz auf andere Weise als durch Selbstverletzungen zu unterbinden.
  • Gedanken-Skills: langsames Zurückzählen in Dreierschritten, Erinnern an den letzten Urlaub – Aufforderungen zum Ablenken.

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