Gehirn & Nerven
Was passiert bei einer Spiegeltherapie?
Veröffentlicht am:21.08.2025
5 Minuten Lesedauer
Die Spiegeltherapie wird vor allem gegen Phantomschmerzen und nach einem Schlaganfall angewandt. Sie soll das Gehirn umtrainieren und so Schmerzen lindern und die Beweglichkeit fördern. Wie erfolgversprechend ist dieser Ansatz?

© IMAGO / Rupert Oberhäuser
Die Spiegeltheorie und ihre Anwendungsbereiche
Die Spiegeltherapie ist eine Behandlungsform in der Physio- und Ergotherapie. Sie hat ihren Namen daher, dass Therapeuten und Therapeutinnen dabei einen ganz normalen Spiegel verwenden, wie er auch bei uns an der Garderobe hängen könnte. Die Spiegeltherapie zielt direkt auf das Gehirn und das periphere Nervensystem ab, die durch eine optische Täuschung trainiert werden sollen. Behandlungsziel ist, Schmerzen zu lindern oder bei Lähmungserscheinungen Bewegungsabläufe zu verbessern oder neu zu erlernen.
Die Spiegeltherapie wurde Ende des 20. Jahrhunderts ursprünglich zur Behandlung von Phantomschmerzen nach Amputationen entwickelt. Später kamen als zusätzliche Einsatzfelder halbseitige Lähmungen nach einem Schlaganfall und weitere chronische Schmerzerkrankungen hinzu. Hier spielen auch Erkrankungen mit einem komplexen regionalen Schmerzsyndrom (CRPS) eine Rolle. Beim CRPS kommt es zu Schmerzen in Fuß, Bein, Hand oder Arm. Hinzu können Beeinträchtigungen der Bewegung und Störungen des vegetativen Nervensystems kommen. Ein CRPS kann nach einer Schädigung peripherer Nerven auftreten, beispielsweise infolge einer Verletzung, aber auch, ohne dass eine Nervenschädigung feststellbar ist.
Die Grundidee der Spiegeltherapie: Vortäuschung eines intakten Körpers
Am besten erforscht ist die Spiegeltherapie im Bereich der Phantomschmerzen und der halbseitigen Lähmung nach Schlaganfall. Bei beiden Krankheitsbildern hat die Erkrankung dazu geführt, dass die Funktionsfähigkeit der beiden Körperhälften unterschiedlich ist. Beim Phantomschmerz ist eine Extremität, zum Beispiel eines der beiden Beine, unversehrt. Die andere musste amputiert werden. Der Grund war entweder ein Unfall oder anders verursachte, nicht mehr heilbare Gewebeschäden.
Bei einem halbseitigen Schlaganfall funktioniert eine Körperhälfte normal. In der anderen Hälfte treten aufgrund des schlaganfallbedingten Absterbens von Nervenzellen im Gehirn unterschiedliche Funktionsbeeinträchtigungen auf, die von der betroffenen Hirnregion abhängig sind. Wenn zum Beispiel das motorische Zentrum der rechten Hirnhälfte geschädigt ist, kommt es auf der linken Körperseite zu Lähmungen.
Bei der Spiegeltherapie geht es in beiden Fällen darum, dem Gehirn durch die spiegelbildliche Verdoppelung der gesunden Körperhälfte den optischen Eindruck eines vollständig intakten Körpers zu vermitteln und so die krankheitsbedingt gestörten Vorgänge im Nervensystem zu korrigieren.
Wie entstehen Phantomschmerzen?
Etwa die Hälfte der Menschen, bei denen eine Amputation notwendig war, leidet innerhalb von sechs Monaten nach dem Eingriff unter Phantomschmerzen. In manchen Fällen halten diese Schmerzen auch über mehrere Jahre an. Die konkrete Ursache von Phantomschmerzen ist bis heute nicht bekannt. Es gibt verschiedene Theorien, die Ursachen im zentralen oder peripheren Nervensystem vermuten. Nach der Amputation eines Körperglieds, beispielsweise eines Beins, kann eine Reizübertragung von dort zum Gehirn nicht mehr stattfinden. Trotzdem spüren Menschen mit Phantomschmerz oft sehr starke Schmerzen in dem Bein, das nicht mehr da ist – der Schmerz wird also in die fehlende Extremität projiziert.
Eine allgemein akzeptierte Annahme ist, dass nach der Amputation eine Umstrukturierung des Gehirns stattfindet – Fachleute nennen das kortikale Reorganisation. Dabei verändern sich bestimmte Areale der Großhirnrinde, die im Gehirn für den nun verlorenen Körperteil zuständig waren. Die kortikale Reorganisation kann zu einer Fehlverarbeitung von Nervenreizen führen, die Betroffene als anfallsartigen Schmerz empfinden – und das in einem Körperteil, den sie gar nicht mehr besitzen. Solche Schmerzen heißen Phantomschmerz.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, Phantomschmerzen zu behandeln, darunter Medikamente zur Schmerzkontrolle oder eine gezielte Nervenstimulation, zum Beispiel durch eine Reizstromtherapie. Der Therapieansatz der Spiegeltherapie zielt darauf ab, die veränderte Reizverarbeitung im Gehirn zu korrigieren.
Wie läuft die Spiegeltherapie ab?
Bei der Spiegeltherapie wird der Patient oder die Patientin so an einem Spiegel positioniert, dass die beeinträchtigte (gelähmte oder amputierte) Extremität durch den Spiegel verdeckt und die gesunde Extremität durch den Spiegel gedoppelt wird. Beispielsweise haben Armamputierte durch die Spiegelung in der Wahrnehmung zwei vollständige Arme. Bewegt der Patient oder die Patientin den gesunden Arm, bewegt sich im Spiegel auch der andere (nicht vorhandene oder gelähmte) Arm.
Die Vortäuschung zweier funktionsfähiger Arme vermittelt dem Gehirn den Eindruck, dass beide Extremitäten vorhanden sind und sich einwandfrei bewegen lassen. Bei einem armamputierten Menschen soll dem Gehirn also die Botschaft vermittelt werden: „Ich habe zwei Arme.“ Bei Patienten und Patientinnen mit Schlaganfall ist die entsprechende Nachricht ans Gehirn: „Ich kann beide Arme vollumfänglich bewegen.“ Die optische Illusion kann aber nur dann einen bleibenden Eindruck im Nervensystem hinterlassen, wenn die Spiegeltherapie über einen längeren Zeitraum regelmäßig angewendet wird.
Patienten und Patientinnen erhalten eine Einführung in die Spiegeltherapie in einer ergotherapeutischen oder physiotherapeutischen Praxis. Da Regelmäßigkeit wichtig ist, bekommt jeder und jede in der Regel auch ein Programm für zuhause. Die Häufigkeit und Dauer der Übungen sind individuell unterschiedlich.
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Was bewirkt eine Spiegeltherapie?
Bei den beiden Haupteinsatzfeldern der Spiegeltherapie – Phantomschmerz und halbseitige Lähmung nach Schlaganfall – werden unterschiedliche Wirkmechanismen angenommen. Diese sind jedoch sowohl bei Menschen mit Phantomschmerzen als auch bei Schlaganfallpatienten und -patientinnen noch nicht vollständig verstanden. Viele Wirkmechanismen sind deshalb noch spekulativ.
Spiegeltherapie gegen Phantomschmerzen Spiegeltherapie in der neurologischen Rehabilitation nach Schlaganfall
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Wie gut erforscht ist die Wirksamkeit der Spiegeltherapie?
Die medizinische Forschung weiß also nicht genau, über welche Mechanismen die Spiegeltherapie wirkt. Weiß man aber wenigstens, dass sie wirkt?
Kaum verlässliche Studien zur Spiegeltherapie
Um es gleich vorwegzunehmen: Es fehlt noch an methodisch guten Studien, die zeigen, dass die Spiegeltherapie langfristig wirksam ist. Am besten untersucht ist die Wirksamkeit der Spiegeltherapie beim Phantomschmerz und bei halbseitiger Lähmung nach Schlaganfall. Allerdings sind die vorliegenden Studien auch bei diesen beiden Erkrankungen nur zum Teil aussagekräftig. Die Stichproben sind oft klein, der Beobachtungszeitraum ist meist auf wenige Monate begrenzt und die Ergebnisse der Studien sind teilweise widersprüchlich. Mögliche Nebenwirkungen der Spiegeltherapie wurden meist nicht systematisch erfasst. Die Patientinnen und Patienten berichten oft über Verwirrtheit und Schwindel. In einigen Fällen kann die Spiegeltherapie bei Menschen mit Phantomschmerzen auch zu einer Verschlimmerung der bestehenden Beschwerden führen.
Hinweise auf Wirksamkeit bei konsequentem Training
Trotz der genannten Einschränkungen finden sich in vielen Studien Hinweise darauf, dass sich Phantomschmerzen und Bewegungseinschränkungen mit einer Spiegeltherapie bessern, insbesondere wenn die Patientinnen und Patienten häufig und über längere Zeit üben. Welchen Stellenwert die Spiegeltherapie im Vergleich zu anderen Behandlungsmöglichkeiten von Phantomschmerzen oder schlaganfallbedingten Lähmungen einnimmt, lässt sich bislang noch nicht sicher sagen. Auch hier müssen noch weitere Studien durchgeführt werden. Andererseits ist die Spiegeltherapie eine einfache Behandlungsmöglichkeit, die von den Patienten und Patientinnen nach Anleitung auch selbständig durchgeführt werden kann. Ihr Arzt oder Ihre Ärztin kann mit Ihnen besprechen, ob die Spiegeltherapie für Sie persönlich eine geeignete Option ist.
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