Kinder
Mein Kind stottert: Was kann ich tun?
Veröffentlicht am:17.06.2021
13 Minuten Lesedauer
Aktualisiert am: 12.06.2025
Etwa fünf Prozent der Kinder fangen bis zu ihrem sechsten Lebensjahr an zu stottern. Was die Ursachen sein können und wann logopädische Hilfe sinnvoll ist, wissen Sprechwissenschaftlerin Emilia Rudolf und Sprachtherapeut Georg Thum.

© iStock / Thurtell
Stottern belastet Eltern und Kind
Wenn das Kind plötzlich beginnt zu stottern, fürchten viele Eltern einen bleibenden Sprachfehler. Oft verschwindet die Sprachstörung im Kleinkindalter von allein wieder, in einigen Fällen wird daraus aber ein dauerhaftes Stottern. Das belastet Kinder und Eltern. Wer stottert und Probleme hat, etwas flüssig auszusprechen, wird häufig von anderen gehänselt und ausgegrenzt. Das führt dazu, dass die Kinder sich nicht trauen, bestimmte Wörter auszusprechen oder überhaupt etwas zu sagen. „Viele Menschen, die stottern, entwickeln ein sogenanntes Vorbeugeverhalten, um ihr Stottern zu verstecken“, sagt Georg Thum, fachlicher Leiter der Beratungsstelle Stottern und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München.
Welche Ursachen kann Stottern haben? Wann ist die Hilfe eines Logopäden oder einer Logopädin sinnvoll? Diese Fragen beantworten Georg Thum und die klinische Sprechwissenschaftlerin und „Frankini“-Therapie-Entwicklerin Emilia Rudolf.
Welche Ursachen hat das Stottern?
Stottern ist eine sogenannte Redeflussstörung. In Deutschland sind etwa 800.000 Menschen davon betroffen. Meistens setzt Stottern im Alter von zwei bis sechs Jahren ein. Jungen stottern dabei etwa fünfmal so häufig wie Mädchen.
Doch was sind die Ursachen? „Man weiß bisher, dass Stottern eine hohe Vererbbarkeit hat“, sagt Georg Thum. „Die Vererbbarkeit liegt bei 40 Prozent. Das bedeutet, dass Menschen, die stottern, meistens auch stotternde Angehörige im Familienkreis haben.“ Somit wird die Wahrscheinlichkeit, ob jemand stottert oder nicht, weitergegeben. Doch auch neurologische Faktoren spielen eine Rolle.
Georg Thum (M.A.)
Georg Thum ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er bietet Lehrveranstaltungen zu den Themen Redeflussstörungen, Therapie des Stotterns und zur Praxis der Beratung im Bereich Stottern an. Außerdem ist Georg Thum Mitglied des wissenschaftlichen Fachbeirats der Bundesvereinigung Stottern und Selbsthilfe e.V. (BVSS) und Mitautor der AWMF S3-Leitlinie „Redeflussstörungen. Pathogenese, Diagnostik und Behandlungen von Redeflussstörungen.“
Die Sprechtherapeutin Emilia Rudolf erklärt: „Es gibt sowohl anatomische Veränderungen als auch Veränderungen in den neurophysiologischen Abläufen. Man könnte also sagen, dass das Sprechzentrum, also die Hirnkommunikation nicht störungsfrei funktioniert.“ Georg Thum, der vor allem mit stotternden Kindern arbeitet, erläutert das den Eltern gerne so:
„Wenn Sie einen Film streamen wollen und die Datenverbindung nicht stark genug ist, dann fängt der Film an zu ruckeln. Ganz vereinfacht dargestellt ist die Übertragungsgeschwindigkeit beim Stottern einfach nicht so schnell. Dabei funktionieren die Sprechwerkzeuge, also die Lippen, die Zähne, die Zunge, einwandfrei. Es scheitert lediglich an der Übertragung. Und eben nicht am Fernseher.“
Georg Thum
Fachlicher Leiter der Beratungsstelle Stottern und Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sprachheilpädagogik der LMU München
Es sind demnach zwei Ursachen für das Stottern verantwortlich: die Vererbung und die Neurologie. „Alles, was sonst so kursiert, ist wiederlegt“, erklärt Emilia Rudolf. „Das reicht von Atemfehlern bis hin zu Atemstörungen. Es gibt auch kein traumatisches Erlebnis, welches das Stottern verursacht. Allerdings können spezielle Situationen zum Stottern beitragen, es aber nicht verursachen.“
Das Kind stottert: Worauf sollten Eltern achten?
Häufig tritt das Stottern ganz plötzlich auf. Georg Thum erlebt immer wieder, dass sich Eltern dann fragen, was denn da passiert ist. Und denken: Mein Kind ist vom Baum gefallen, das muss ein Schock gewesen sein. Oder: Wir lassen uns gerade scheiden, sicherlich liegt es daran. „Man findet immer irgendetwas und es werden oft irgendwelche Zusammenhänge geknüpft. Aber: Das kann niemals die Ursache des Stotterns sein“, sagt Georg Thum. Viel wichtiger sei es, dass Eltern von kleinen Kindern genau hinschauen sollten, denn Stottern entsteht ab circa zwei Jahren. Das bestätigen auch mehrere Studien. Sie belegen außerdem, dass das Stottern bei etwa 40 bis 50 Prozent der Kinder plötzlich auftritt, innerhalb von ein bis drei Tagen und sich dann über ein bis drei Wochen manifestieren, also festigen, kann.
Emilia Rudolf (M.A.)
Emilia Rudolf arbeitet als Therapeutin und Konzepterin Digitales Lernen am Institut der Kasseler Stottertherapie. Das Institut bietet Stotter-Therapien für alle Altersgruppen an. Emilia Rudolf plant und setzt digitale Therapiekonzepte um und führt Therapieeinheiten für Kinder und Erwachsene durch. Außerdem berät sie Eltern und Angehörige.
Für Eltern ist das eine schwierige Zeit, wenn ihr Kind plötzlich Schwierigkeiten beim Sprechen hat. Nicht jede Pause und jede Wiederholung muss bedeuten, dass ihr Kind stottert. Doch welche konkreten Anzeichen gibt es dafür, dass es sich tatsächlich um ein Stottern handelt?
Bei Redeflussstörungen wird zwischen funktionalen Unflüssigkeiten und stottertypischen Unflüssigkeiten unterschieden.
Funktionale Unflüssigkeiten
„Es gibt sehr viele Kinder“, sagt Emilia Rudolf, „die im Kleinkindalter funktionale Unflüssigkeiten zeigen. Das liegt an der Sprachentwicklung.“ Da gerät einiges aus dem Lot. Typisch sind Wiederholungen von ganzen Wörtern oder Satzteilen. Emilia Rudolf nennt ein Beispiel: „Also dann war ich, dann, dann war ich, also dann war ich …“ Das seien typische, altersgemäße Wiederholungen und sei völlig normal. „Wir Logopäden sagen dann immer: Normal ist es, wenn es eine Funktion hat. Wenn das Kind erstmal nachdenken muss, es etwas betonen möchte und ein Wort nicht findet. Auch ganz typisch ist, dass funktionale Unflüssigkeiten immer locker sind, es ist also keine Anspannung zu sehen“, erklärt Emilia Rudolf.
Was sind funktionale Unflüssigkeiten?
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat diese Beispiele für normale, funktionale Unflüssigkeiten bei Kleinkindern zusammengestellt:
- Pausen
Beispiel: „Ich habe das ääähm weggeworfen“ oder „Ich habe das --- weggeworfen.“ - Revisionen (Änderung, Abänderung) von Wörtern und Wortverbindungen
Beispiel: „Das ist ein schönes – kein schönes Programm“ - Wiederholung von Wörtern
Beispiel: „Lässt sich das – lässt sich das nicht besser machen?“ - Abgebrochene Wörter
Beispiel: „Das hat auch noch niemand ver...“
Stottertypische Unflüssigkeiten
Das Kind spricht nicht flüssig. Doch wann handelt es sich um Stottern? „Bei den stottertypischen Unflüssigkeiten kommen die Anspannung dazu oder die Lautwiederholungen. Man kann das manchmal richtig sehen. Und hinzu kommen noch die Blockaden. Das ist nie funktional. Wenn also ein Wort richtig klemmt, ist das immer ohne Funktion. Und dann geht man davon aus, dass ein Kind stottert!“, sagt Emilia Rudolf.
Was sind stottertypische Unflüssigkeiten?
Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hat diese Beispiele für stottertypische Unflüssigkeiten zusammengestellt:
- Wiederholungen von Lauten, Silben oder einsilbigen Worten
Beispiel: „I-I-I-Ich – ich will jetzt auch mal was sagen.“
Ein Wort bzw. eine Silbe wird unflüssig gesprochen, obwohl mehrere Laut- und Silbenwiederholungen und eine stille Pause vorkommen. - Lautdehnungen
Beispiel: „LLLLLass mich in Ruhe“ - Wortunterbrechungen
Beispiel: gefüllte oder stille Pausen innerhalb eines Wortes: „Regen ---- tonne“ - Blockierungen
Beispiel: „Ich --- kann das nicht“
Das /k/ wurde mit Anspannung gesprochen, die in der vorherigen Pause aufgebaut wurde.
Wenn ein Kind solche Unflüssigkeiten beim Sprechen zeigt und Eltern sich große Sorgen machen, sollten sie unbedingt zum Kinderarzt oder zur Kinderärztin beziehungsweise zum Logopäden oder zur Logopädin gehen. Denn Eltern haben einen großen Einfluss darauf, wie wohl sich ihr Kind beim Sprechen fühlt. Gibt es ein halbes Jahr lang keine Veränderungen und Verbesserungen und zeigen sich Blockaden oder körperliche Spannungen beim Sprechen – bewegt sich das Kind beispielsweise beim Sprechen stark mit, dann ist es immer wichtig, frühzeitig zu einem Arzt zu gehen“, rät Emilia Rudolf.
Entscheidend ist der Zeitpunkt der Behandlung. Darauf weist Georg Thum hin. „Ein früher Behandlungsbeginn kann eine Heilung begünstigen. Haben aber weder das Kind noch die Eltern einen Leidensdruck, kann man durchaus bis zu sechs Monate abwarten, ob das Stottern wieder zurückgeht. Wichtig ist es immer, auf die Risikofaktoren zu schauen. Ist eine genetische Disposition vorhanden? Handelt es sich um einen Jungen? Dann sollte man das Stottern zeitnah abklären lassen.“
Auch die Symptomatik des ersten Stotterns ist wichtig: Verändert sich das Stottern? Ist es manchmal tagelang gar nicht da, spricht das eher dafür, dass es sich wieder legen kann. Wird das Stottern dagegen stärker, sollte es abgeklärt werden. Eine gute Möglichkeit sind die kinderärztlichen Untersuchungen. Unter anderem bei der U7a, U8 und U9 findet eine Befragung der Eltern zur Sprachentwicklung des Kindes statt. Meistens lässt sich dann schon klären, ob ein Kind stottert und ein Gang zum Logopäden oder zur Logopädin sinnvoll ist.
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Therapien und Behandlungsmöglichkeiten gegen das Stottern
Viele Menschen, die stottern, entwickeln ein sogenanntes Vorbeugeverhalten, um ihr Stottern zu verstecken. „Sie entwickeln Tricks und tun beispielsweise so, als wenn sie überlegen würden, um nicht antworten zu müssen, wenn ein Stottergefühl auftritt“, so Georg Thum. „Vor allem stotternde Kinder melden sich in der Schule weniger, bekommen schlechtere Noten, weil sie Angst haben, sich zu melden. Es entstehen regelrechte Sprechängste.“ Um dies zu verhindern, gibt es für stotternde Erwachsene und Kinder verschiedene Therapien und Behandlungsansätze:
Die medizinischen AWMF-S3-Leitlinien „Redeflussstörungen“ unterscheiden diese fünf Therapie-Verfahren:
- Verfahren der Sprechrestrukturierung: die gebräuchlichste Form ist das „Fluency Shaping“, z. B. die „Kasseler Stottertherapie“. Dabei handelt es sich um ein verhaltenstherapeutisches Übungsverfahren, bei dem eine neuartige Sprechweise erlernt wird, die stottertypische Unflüssigkeiten nicht aufkommen lässt oder vermeiden soll. Geeignet ist dieses Verfahren für Kinder ab zwölf Jahren und für Erwachsene. Es gibt jedoch Hinweise, dass Kinder zwischen sechs und elf Jahren ebenfalls von dieser Therapieform profitieren können. Für dieses Therapieverfahren besteht derzeit die größte empirische Evidenz.
- Verfahren der Stottermodifikation: Das Ziel ist die Bearbeitung der auftretenden Stotterereignisse. Dazu gehören der „Kids-Ansatz“ (Kinder dürfen stottern) für Kinder und Jugendliche und MINI-Kids für Kinder im Vorschulalter sowie „IMS“ (Intensiv-Modifikation-Stottern) für Jugendliche und Erwachsene. Bei diesen Therapien wird eine Sprechtechnik eingeführt, die es ermöglicht, direkt in der gestotterten Silbe das fehlgesteuerte automatisierte Sprechen zu stoppen und diese mit einer bewusst geführten Artikulationsbewegung zu realisieren. Damit soll auch die psychosoziale Belastung durch das Stottern reduziert werden. Sie eignet sich für Kinder und Erwachsene.
- Ein Mix aus Sprechrestrukturierung und Stottermodifikation ist beispielsweise „SAS“ (Stärker als Stottern) oder die „BST“ (Bonner Stottertherapie). Beide eignen sich für Kinder ab zwölf Jahren und Erwachsene.
- Operante Verfahren (Verhaltenstherapie), unter anderem das australische Lidcombe-Programm, beruhen auf dem Prinzip, ein neues Sprechverhalten zu lernen. Sie werden unter konstanter Mitarbeit der Eltern durchgeführt. Flüssiges Sprechen wird positiv verstärkt und auftretende Stotterereignisse werden sanft korrigiert. Es eignet sich für Kinder von drei bis sechs Jahren.
- Indirekte Verfahren und Methoden, beispielsweise im „PCI-Ansatz“ (Parent-Child-Interaction), erfordern die Mitarbeit der Eltern. Die Sprechflüssigkeit des Kindes soll zum Beispiel dadurch zunehmen, dass die Eltern langsamer und einfacher sprechen und gelassener auf das Stottern reagieren. Die Methode wird bei Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren eingesetzt.

© iStock / Zinkevych
Warum ist es so wichtig, Stottern früh zu behandeln?
Stottern kann zu einem lebenslangen Problem werden. Deshalb raten Fachärzte und Fachärztinnen dazu, das Stottern frühzeitig zu behandeln, idealerweise schon im Kindergartenalter. Gerade dann haben Kinder gute Chancen, ihr Stottern durch eine Therapie komplett zu überwinden. Wird diese Phase verpasst, verringert sich die Erfolgschance rapide bis zum Eintritt der Pubertät und bleibt auch danach weiterhin gering.
Wer ist die richtige Ansprechperson?
Emilia Rudolf liegt noch etwas sehr am Herzen. Sie empfiehlt Eltern, zu einem Spezialisten oder einer Spezialistin zu gehen, also zu einem Logopäden oder einer Logopädin, die sich auf Stottertherapie spezialisiert haben. „Stottern ist bei vielen Logopäden nur ein Randthema“, so Rudolf, „ein spezifischer Ansatz ist aber sinnvoll und gewinnbringend und fördert die Erfolgschancen, vor allem bei Kindern.“ Auch Georg Thum findet das sinnvoll. Sein Tipp: „Fragen Sie bei Ihrer Therapeutin vor Ort nach, ob sie auf Stottern spezialisiert ist und nach einem der genannten Ansätze arbeitet.“
Wie sind die Erfolgsaussichten?
Dazu wurde viel geforscht. Fachärzte und Fachärztinnen sowie Studien berichten, dass bei Kindern im Kindergartenalter das Behandlungsziel zunächst eine Remission (ein Rückgang) des Stotterns ist. Da die Chancen bei kleineren Kindern, vor allem im Kindergartenalter, hoch sind, sollte die Behandlung möglichst vor dem Schuleintritt abgeschlossen sein.
Frankini-Programm: spezielle Therapie für Kindergartenkinder
Speziell für kleine Kinder haben Dr. Alexander Wolf von Gudenberg, Entwickler der „Kasseler Stottertherapie“ und Mitarbeiterinnen wie die Sprechwissenschaftlerin Emilia Rudolf das sogenannte Frankini-Programm für Kindergartenkinder entwickelt. Es gilt als eine Kombination aus den oben genannten Therapieverfahren.
„Frankini ist eine vorwiegend online durchgeführte Kombination aus indirekter Elternberatung und direktem Sprechtraining mit den Kindern. Die Sprechtechnik nennt man ‚weiches Sprechen‘. Wir strukturieren das Sprechen dabei generell um. Uns geht es nicht um die einzelnen Stottermomente, sondern wir versuchen, durch ein weiches Hineingehen in einen Satz diesen leichter durchlaufen zu lassen“, erklärt Emilia Rudolf.
Die Mitarbeit der Eltern spielt eine entscheidende Rolle. Ein halbes Jahr wird mit ihnen gearbeitet. Zunächst werden die Eltern geschult, damit sie sich sicherer im Umgang mit Stottern fühlen. „Nach einem halben Jahr kann man dann mit dem weichen Sprechen für Kinder beginnen. Die Kinder lernen dann so eine Art Federwörter, die ihnen die Möglichkeit geben, leicht und sanft in einen Satz einzusteigen“, sagt Emilia Rudolf.
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