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Gehirn & Nerven

„Menschen mit Neurodiversität haben immer noch mit vielen Vorurteilen zu kämpfen“

Veröffentlicht am:05.09.2025

5 Minuten Lesedauer

Viele Menschen leben mit Neurodiversität, ohne es zu wissen. Denn sie bleibt oft unerkannt – mit Folgen für Schule, Beruf und andere Lebensbereiche. Experte Professor Dr. Zimpel spricht im Interview über Ursachen und Lösungen.

Grundschulkinder sitzen im Schulunterricht und melden sich.

© iStock / skynesher

Neurodiversität: Warum jedes Gehirn anders tickt

Neurodiversität ist kein medizinischer Begriff, sondern beschreibt Menschen, deren Gehirn Besonderheiten im Vergleich zu sogenannten neurotypischen Menschen aufweist – etwa bei ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung), Autismus-Spektrum-Störung oder Lese- und Rechtschreibstörungen. Wer sich als neurodivergent identifiziert, hat meist in einigen Lebens- oder Aufgabenbereichen mit mehr Schwierigkeiten zu kämpfen, während man in anderen Bereichen deutliche Stärken aufweisen kann. Denn neurodiverse Personen haben beispielsweise eine andere Wahrnehmung und lernen anders als sogenannte neurotypische Menschen. Was das genau bedeutet, wie sich Gehirne unterscheiden und welche Rolle die Vielfalt menschlicher Nervensysteme – die Neurodiversität – im Alltag und insbesondere in Schulen spielt, erklärt Professor Dr. André Frank Zimpel im Interview. Der Erziehungswissenschaftler und Psychologe forscht im Zentrum für Neurodiversitätsforschung in Hamburg und lehrt an der Universität Hamburg.

Professor Zimpel, einer ihrer Leitsätze in puncto Neurodiversität lautet: Menschliche Gehirne sind wie Schneeflocken. Was soll das bedeuten?

Gehirne sehen von Weitem alle gleich aus. Betrachtet man sie unter einem Mikroskop, erkennt man, dass keines dem anderen gleicht – genau wie bei Schneeflocken. Es kann kein Gehirn zweimal geben, das ist eine wissenschaftliche Tatsache. Unser zentrales Nervensystem besitzt rund 85 Milliarden Zellen. Und jede Nervenzelle geht circa 1.000 bis 10.000 Verbindungen mit anderen Nervenzellen ein. Legen wir nur einen Kubikzentimeter Gehirn unter ein Mikroskop, können wir mehr Nervenverbindungen beobachten, als es Sterne in der Milchstraße gibt. Daher sind selbst die Gehirne eineiiger Zwillinge radikal verschieden.

Prof. Dr. André Frank Zimpel

Portraitfoto des Psychologen und Erziehungswissenschaftlers Prof. Dr. André Frank Zimpel.

© privat

Der Psychologe und Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. André Frank Zimpel leitet das Zentrum für Neurodiversitätsforschung in Hamburg und lehrt an der Universität Hamburg. Im April 2025 ist sein neues Buch „Wahnsinnig intelligent – Die verborgenen Potenziale neurodivergenter Menschen“ erschienen.

Die Definition von Neurodiversität: Was bedeutet das überhaupt?

An dieser Unterschiedlichkeit setzt auch das Konzept der Neurodiversität an. Bitte erläutern Sie es.

Die Medizin hat eine Neuronorm definiert, die gewisse Standards und Erwartungen an Menschen stellt. Wer davon abweicht, wird als defizitär, krank oder kognitiv beeinträchtigt angesehen. Die Neurodiversität dagegen geht von einer natürlichen, neuronalen Vielfalt in der Gehirnentwicklung aus, ohne Unterschiede als defizitär einzustufen. Nehmen wir als Beispiel das Schulsystem. In jeder Klassenstufe müssen Kinder verschiedene kognitive Leistungen erbringen, entsprechend der definierten Neuronorm. Manche Kinder kommen damit prima zurecht und entwickeln sich gut. Andere müssen sich etwas mehr anstrengen, um diese Standards zu erfüllen. Und dann gibt es noch eine dritte Gruppe: die neurodivergenten Kinder.

Was macht neurodivergente Kinder aus?

Neurodivergente Kinder müssen oft viel Kraft in die Erfüllung bestimmter Erwartungen, Standards und Normen investieren. Die einen verstecken oder kaschieren ihre Unterschiede in Wahrnehmung, Denken und Verhalten. In Fachkreisen nennen wir dieses Verhalten Masking oder Camouflaging. Es erfordert einen enormen Energieaufwand, sodass ihre emotionale und kognitive Entwicklung gefährdet ist, sie unter anderem von Depression, Persönlichkeitsstörung oder sogar posttraumatischer Belastungsstörung bedroht sind. Das gilt übrigens auch für neurodivergente Erwachsene. Bei den anderen neurodivergenten Kindern wird erkannt, dass sie die Neuronormen nicht erfüllen. In der psychiatrischen Praxis wird bei ihnen dann beispielsweise eine Intelligenzminderung oder eine tiefgreifende Entwicklungsstörung diagnostiziert, weil die Abweichung von der Norm pathologisiert wird.

Unter Neurodiversität fallen beispielsweise:

  • ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung)
  • Angststörungen
  • Autismus-Spektrum-Störung
  • Dyskalkulie (Rechenschwäche)
  • Dyslexie (Leseschwäche)
  • Lern- und Entwicklungsstörungen
  • Lese- und Rechtschreibstörungen (LRS)
  • Synästhesie (Vermischung verschiedener Sinneseindrücke)
  • Zwangsstörungen

Wenn das Gehirn anders funktioniert: Wie äußert sich Neurodiversität?

Worin unterschieden sich neurodivergente von neurotypischen Gehirnen?

Unsere Forschungen haben ergeben, dass sich Neurodivergenz auf die Aufmerksamkeitssysteme im menschlichen Gehirn auswirkt. Davon gibt es drei große Gruppen:

  • Die alarmierenden Aufmerksamkeitssysteme: Sie reagieren auf Unerwartetes wie plötzliche Lautstärke, Gerüche, Grelles. Schlage ich beispielsweise in einer Vorlesung unangekündigt auf das Pult, gibt es einen lauten Knall – und ich habe die Aufmerksamkeit der Studierenden.
  • Die orientierenden Aufmerksamkeitssysteme: Neurotypische Menschen können etwa vier Dinge gleichzeitig erfassen. Daher bestehen Buchstaben auch nur aus maximal vier Strichen. Menschen im Autismus-Spektrum können dagegen mehrere Dinge simultan wahrnehmen und sind deswegen schnell reizüberflutet.
  • Die exekutiven Aufmerksamkeitssysteme: Diese können wir willkürlich steuern. Mit ihnen praktizieren wir Masking und Camouflaging. Sie sind bei neurodivergenten Menschen schneller überlastet als bei neurotypischen Personen.
In Video erklärt Doc Felix, was ADHS ist, welche Ursache bei Kindern dahintersteckt, welche Symptome häufig auftreten und wie die Diagnose gestellt wird.

Neurodivergenz scheint weitreichende Auswirkungen zu haben. Wie gut wird sie erkannt?

Schätzungsweise ist eine von sieben Personen neurodivergent. Viele Betroffene warten längere Zeit, um in psychiatrischen Einrichtungen eine Diagnose zu bekommen. Andere erhalten nie eine Diagnose, weil sie durch Masking und Camouflaging im Alltag funktionieren oder sie sich im Berufsleben geeignete Nischen gesucht haben. Zum Beispiel finden sich unter Start-up-Gründerinnen und Gründern oft Menschen im ADHS-Spektrum. Dabei kommt ihnen die für ADHS typische Risikofreude zugute. Und Menschen im Autismus-Spektrum machen beim Programmieren viermal weniger Fehler als neurotypische Personen. Wenn sie im sogenannten Flow-Zustand sind, können sie alles Ablenkende ausblenden. Neurodivergente Menschen haben maßgeblich an der Entwicklung der Grundlagen Künstlicher Intelligenz mitgewirkt und treiben sie voran.

Neurodivergente Menschen: immer noch vielen Vorurteilen ausgesetzt

Ein männliches Zwillingspaar sitzt nebeneinander.

© iStock / 35007

Jedes Gehirn ist anders. Selbst die Gehirne eineiiger Zwillinge haben nicht dieselben neuronalen Verknüpfungen. Deswegen ist Neurodiversität keine Seltenheit.

Dann kann es auch Vorteile haben, neurodivergent zu sein?

Man hat andere Potenziale – und in unserer neurotypischen Welt vor allem viele Nachteile und Schwierigkeiten. Wer seine Diagnose am Arbeitsplatz offenlegt, muss immer noch mit Ablehnung, Vorurteilen sowie Stigmatisierung und Diskriminierung rechnen. Durch Social Media gibt es bei den jüngeren Generationen ein größeres Bewusstsein für Neurodiversität, doch ein echter Durchbruch steht noch aus.

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Welches sind die größten Missverständnisse bei Neurodiversität?

Dass Betroffene unter einem Intelligenzmangel leiden oder eine schlechte Erziehung genossen haben. Ihnen wird immer noch gespiegelt, sie seien dumm, unfähig, nicht normal, verhaltensgestört oder nicht in der Lage zu lernen. In Fachkreisen schauen viele Forscherinnen und Forscher nur auf die Defizite neurodivergenter Menschen und verschweigen die Potenziale. Dabei ist eine realistische Selbsteinschätzung, also seine Defizite und Potenziale zu kennen, der mit Abstand größte Faktor für Bildungserfolg. Es ist wissenschaftlich bewiesen: Selbsteinschätzung ist wichtiger als Intelligenz, wichtiger als die Qualität der Schule oder des Elternhauses für Bildungserfolg.

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Wie können wir die Gesellschaft für divergente Menschen stattdessen inklusiver gestalten?

Wir müssen besser darauf vorbereitet sein, dass es Menschen gibt, die nicht neurotypisch sind – und dass wir neurodivergente Kinder im Bildungssystem haben. Wir brauchen sinnvolle Unterstützungsangebote für Kinder im Autismus-, ADHS-, oder Tourette-Syndrom-Spektrum, Kinder mit Lese-rechtschreib-Schwäche, mit Dyskalkulie oder Trisomie 21. Studierenden im ADHS-Spektrum hilft es beispielsweise nicht, wenn sie als sogenannten Nachteilsausgleich doppelt so viel Zeit für eine Klausur bekommen. Das ist kein Nachteilsausgleich, sondern eine Verschlimmerung. Für sie bedeutet eine Vier-Stunden-Klausur oft schon eine enorme kognitive Anstrengung. Ähnlich geht es Studierenden im Autismus-Spektrum: Sie dürfen öfter fehlen. Allerdings werde viele Informationen an Universitäten über den Flurfunk ausgetauscht – soziale Interaktionen, die Menschen im Autismus-Spektrum überfordern. Es bringt ihnen nichts, wenn ihre Anwesenheitspflicht zwar reduziert wird, ihre Teilhabe dadurch aber weiter abnimmt. Es gibt noch viel zu tun.

Fachlich geprüft
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