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So erleichtern Sie Angehörigen mit Demenz den Alltag

Veröffentlicht am:21.09.2021

9 Minuten Lesedauer

Aktualisiert am: 30.08.2022

Angehörige stellt die Erkrankung Demenz vor eine große Herausforderung, die oft mit Angst und Überforderung verbunden ist. Dabei steht meist eine Frage im Vordergrund: Wie kann ich die erkrankte Person unterstützen, um ihr das Leben zu erleichtern?

Ein junger Mann schaut sich mit einem dem Demenzpatienten ein Fotoalbum an.

© iStock / monkeybusinessimages

Aufgrund der steigenden Lebenserwartung nimmt die Zahl der an Demenz Erkrankten in Deutschland stetig zu – und damit auch die Zahl derer, die sich um sie kümmern. Vielen fällt es schwer, den Alltag zu meistern, Betroffene zu integrieren und zu pflegen – und dabei gleichzeitig zuzusehen, wie eine geliebte Person Stück für Stück verloren geht. Trotzdem möchten sie ihnen den Alltag, so gut es geht, erleichtern.

Prof. Dr. Gabriele Wilz ist Diplompsychologin und Leiterin der Abteilung für klinisch-psychologische Intervention sowie der Ambulanz für Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Sie besitzt langjährige Erfahrung in der psychologischen und psychotherapeutischen Unterstützung von pflegenden Angehörigen. Im Interview erklärt sie, worauf es im Alltag mit an Demenz Erkrankten besonders ankommt, was vermieden werden sollte und wie Musik dabei helfen kann, die Krankheit für einen Moment in den Hintergrund treten zu lassen.

Worauf ist im Umgang mit Menschen mit Demenz besonders zu achten?

Wichtig ist, sich erst einmal über die Erkrankung zu informieren. Es gibt häufig Missverständnisse im Umgang mit Menschen mit Demenz, die darauf zurückzuführen sind, dass Angehörige zu wenig Kenntnis über die Erkrankung und ihre Folgen haben. So lassen sich bereits viele Konflikte und Schwierigkeiten im Alltag vermeiden. Indem ein Verständnis dafür entwickelt wird, wie sich Menschen mit Demenz fühlen – dadurch, dass ihnen Fähigkeiten sukzessiv verloren gehen. Dadurch, dass sie sich nicht mehr zurechtfinden.

Man kann sich beispielsweise vorstellen, in einem fremden Land zu sein: Sie kennen die Sprache nicht, die Schrift nicht und gehen dort verloren. Wie fühlen Sie sich in so einem Moment? Man bekommt Angst, wird unruhig, ist frustriert. All diese emotionalen Belastungssymptome, die Menschen mit Demenz erleben, weil sie sich im Alltag nicht mehr zurechtfinden können, lassen sich oft nachvollziehen. Das ermöglicht ein ganz anderes Verständnis im Umgang miteinander.

„Wichtig ist, sich erst einmal über die Erkrankung zu informieren. Es gibt häufig Missverständnisse im Umgang mit Menschen mit Demenz. Diese lassen sich durch Informationen vorbeugen.“

Prof. Dr. Gabriele Wilz
Leiterin der Abteilung für klinisch-psychologische Intervention sowie der Ambulanz für Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Ein weiterer Punkt ist, dass der Selbstwert von Erkrankten immer mehr angegriffen wird. Weil sie Dinge nicht mehr können, die sie vorher konnten, weil sie nicht mehr einbezogen und von Gesprächen ausgeschlossen werden. Deswegen ist es wichtig, darauf zu achten, ihnen so viel Selbstständigkeit und Autonomie wie nur möglich zu überlassen. Auch das ist Teil eines empathischen, verständnisvollen Umgangs mit ihnen.

Wie ist dieser Umgang im Alltag konkret umsetzbar?

Indem man darauf achtet, sie zu beteiligen – an den Gesprächen, an der Familie, im Haushalt. Auch wenn das oft nicht so funktioniert, wie man es sich vorstellt, weil zum Beispiel die Ergebnisse nicht so ordentlich wie früher sind. Für Erkrankte ist es wichtig, zu wissen: Ich gehöre dazu, ich bin ein aktives Mitglied dieser Gemeinschaft.

„Indem man darauf achtet, Erkrankte zu beteiligen – an den Gesprächen, an der Familie, im Haushalt – befriedigen Sie deren Bedürfnis, ein aktives Mitglied der Gemeinschaft zu sein.“

Prof. Dr. Gabriele Wilz
Leiterin der Abteilung für klinisch-psychologische Intervention sowie der Ambulanz für Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Wie kann man sich in akuten Situationen der Überforderung verhalten?

Es gibt gezielt Möglichkeiten, die eine Eskalation verhindern – und zwar, indem man lernt, schnell einzuordnen, wann man an seine Grenze stößt, und zu reagieren. Gehen Sie zum Beispiel in einen anderen Raum, um sich durch kurzfristige Distanz oder Bewegung erst einmal zu sammeln und zu überlegen – kann ich an dieser Situation jetzt etwas ändern? Wie kann ich deeskalieren? Der Familiencoach Pflege erklärt ganz genau, wie Sie sich aktiv auf diese Momente vorbereiten können – zum einen, indem Sie Auslöser finden, die sich wiederholen und vermieden werden können, zum anderen, indem man aktiv gegensteuert.

Auf welche Gefahren für die Erkrankte oder den Erkrankten ist im Alltag zu achten?

Das sind größere und kleinere Dinge. Beginnend bei dem Teppich, der nicht rutschen darf, über Gegenstände, die im Weg sein könnten, bis hin zu einem Badezimmer, das eventuell umgebaut werden muss – um beispielsweise Haltegriffe anzubringen. Es gibt Herdabschaltautomatiken, Notknöpfe, Steckdosensicherungen. Pflegeberatungsstellen können hier sehr differenziert Auskunft geben.

Welche Situationen sollten vermieden werden?

Vor allem Situationen, die hektisch werden können. Wenn beispielsweise zu viele Termine anstehen oder nicht genügend Zeit fürs Anziehen bleibt. Es macht viel aus, wenn Dinge in Ruhe stattfinden können, wie das Schuheanziehen oder das Abendessen. Zudem bedeuten Hintergrundgeräusche einen hohen Stressfaktor für die Erkrankten – wie etwa Radio oder Fernseher, die nebenherlaufen. Das sind zu viele Lärmquellen, die nicht zugeordnet werden können. Zu viele Eindrücke können verwirren, anstrengen und Stress verursachen.

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Wie wichtig ist Gedächtnistraining und das Sprechen über die Vergangenheit?

Angehörige überfordern Betroffene dadurch oft. Das verursacht Misserfolgserlebnisse – und die sind schlecht. Sie führen zu Niedergeschlagenheit und depressiven Verstimmungen. Wichtig ist es, den Selbstwert zu fördern und Aktivitäten, die Spaß machen, gemeinsam auszuüben. Man muss abwägen, was möglich ist und was der Person Freude bereitet, wie Bewegung, Spiele oder Haushaltsarbeiten. Wir haben auch enorm gute Erfahrungen mit der Lieblingsmusik gemacht. Playlisten für den mp3-Player mit den Lieblingsliedern der Betroffenen aus dem jungen Erwachsenenalter sind unheimlich wertvoll. Viele Menschen, die vorher gar nicht gesprochen haben, kamen durch die Musik wieder mit ihren Angehörigen ins Gespräch.

Auch bei dem Sprechen über die Vergangenheit ist es wichtig, die Erkrankten nicht unter Druck zu setzen oder zu forcieren, wenn Dinge eben nicht mehr erinnert werden können. Da das Langzeitgedächtnis aber länger erhalten bleibt, kann es eine schöne gemeinsame Erfahrung sein, beispielsweise alte Lieder zu hören, gemeinsam zu tanzen, Fotoalben anzuschauen. Aber nicht als Aufgabe oder Training, sondern weil es Freude bereitet.

„Viele Menschen, die vorher gar nicht gesprochen haben, kamen durch die Musik wieder mit ihren Angehörigen ins Gespräch.“

Prof. Dr. Gabriele Wilz
Leiterin der Abteilung für klinisch-psychologische Intervention sowie der Ambulanz für Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

Zwei Senioren tanzen miteinander zu Hause.

© iStock / DGLimages

Musik und Tanz kann verbinden und Freude bereiten – den Demenzpatienten und Angehörigen.

Sind Routine und Gewohnheiten wichtig für den Erkrankten?

Das kommt ganz darauf an, ob die Gewohnheiten für den Erkrankten noch passen. Nicht generell sind Routinen und Gewohnheiten gut. Das können sie sein, wie etwa Tagesstrukturen oder vertraute Abläufe, die der Mensch mit Demenz zuordnen kann. Aber die Person verändert sich durch die Demenz auch. Man muss abwägen, ob die Routinen noch gut für den Betroffenen sind, ob er vielleicht mehr Ruhepausen, mehr Bewegung oder Beschäftigung braucht. Manchmal ist es so, dass sich Menschen mit Demenz in einer Tagespflegeeinrichtung oder einem stationären Pflegeheim wohler fühlen, weil sie Geselligkeit brauchen und dort auch finden. Es kommt ganz darauf an, was die oder der Einzelne für sein Wohlbefinden benötigt.

Wie finde ich die Bedürfnisse meines Angehörigen heraus?

Meistens ist das an den Gefühlen und dem körperlichen Ausdruck des Betroffenen spürbar. Man merkt, ob eine Person unruhig oder angespannt ist. Das Wohlbefinden ist im Grunde im Gesicht und an der Körperhaltung erkennbar. Man kann Unterschiede erkennen, was Wohlfühlmomente sind und in welchen Augenblicken es der Person nicht gut geht. Anhand dieser Momente lässt sich möglicherweise feststellen, woran es liegt, dass sich der Betroffene in der Situation unwohl fühlt.

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Wie entscheide ich, ob es meinem Angehörigen zu Hause oder in einem Heim besser geht?

Das ist sehr schwer pauschal zu beurteilen. Je weiter die Krankheit fortschreitet, desto mehr ändern sich auch die Bedürfnisse. Im Frühstadium kann man sich durchaus darüber unterhalten und austauschen. An dieser Stelle können die Betroffenen das noch selbst mitentscheiden und eine Meinung dazu haben. Das wird natürlich schwieriger, wenn die Demenz weiter fortschreitet – ab einem gewissen Punkt ist ein Selbstentscheiden nicht mehr möglich. Man merkt aber beispielsweise: Geht es dem Betroffenen besser, wenn er alleine oder mit nur einer Person zusammen ist, oder eher bei geselligeren Zusammenkünften?

Die Entscheidung ist aber auch stark von den Angehörigen abhängig. Wenn ich als Angehöriger eine Lebenssituation habe, mit der ich häusliche Pflege gut vereinbaren kann und ich merke, das tut auch dem Betroffenen gut, ist das wunderbar. Es gibt aber auch ganz häufig den Fall, dass die Angehörigen an eine Belastungsgrenze kommen. Sei es aufgrund der eigenen Lebensumstände oder des Ausmaßes der Erkrankung. Dann kann ein Pflegeheim notwendig und wichtig sein. An diesem Punkt geht es darum, den Übergang in ein Heim gut und unterstützend zu gestalten – sowohl für die oder den Betroffenen als auch für die Angehörigen. Das bedeutet, sich langfristig mit der Entscheidung auseinanderzusetzen, sich ein umfangreiches Bild von dem Heim zu machen und auch zu überlegen: Wie gestalte ich mein Leben ohne meinen Angehörigen? Brauche ich dabei Unterstützung?

Viele vergessen, dass ein Pflegeheim auch bedeuten kann, mehr Zeit für den Erkrankten zu haben. Mehr qualitative Zeit mit ihm zu verbringen, ohne sich um Pflege und Versorgung sorgen zu müssen. Hier herrscht nach wie vor noch oft ein Schwarz-Weiß-Denken – dabei bedeutet ein Pflegeheim nicht, sich nicht mehr um seinen Angehörigen zu kümmern.

„Ein Pflegeheim bedeutet nicht, sich nicht mehr um seinen Angehörigen zu kümmern.“

Prof. Dr. Gabriele Wilz
Leiterin der Abteilung für klinisch-psychologische Intervention sowie der Ambulanz für Forschung und Lehre an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

So unterstützt Sie die AOK beim Thema Demenz

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Als pflegender Angehöriger auf sich selbst Acht geben

Die Betreuung und Pflege von Menschen mit Demenz ist eine enorm beanspruchende Aufgabe – und oft überfordernd, wenn noch andere Pflichten bestehen, man einen Job oder eigene Kinder hat. All das sorgt dafür, dass Angehörige oft langfristig und kontinuierlich am Limit ihrer Kräfte sind. Da ist es nur natürlich, dass man leichter reizbar oder ausfällig wird, erschöpft ist oder sich in gewissen Situationen nicht mehr unter Kontrolle hat. Deswegen ist es sehr wichtig, als Angehöriger auch auf sich selbst zu achten und selbstfürsorglich dafür zu sorgen, nicht in so eine Überbeanspruchung zu geraten. Ansonsten kann die Pflege langfristig nicht geleistet werden, weil die eigene Gesundheit darunter leidet. Das bedeutet: Holen Sie sich Hilfe, allein können Sie das nicht schaffen. Bauen Sie genügend Pausen und Erholungsphasen ein, entpflichten Sie sich von bestimmten Aufgaben. Planen Sie systematisch: Wer kann wo unterstützen – familiär sowie professionell?

Was sind Alarmzeichen einer Überforderung?

Überforderung ist keine Seltenheit, deswegen ist es ratsam, auf die Warnzeichen zu achten. Typische Indikatoren sind Schlafstörungen und anhaltende Erschöpfung. Ich erlebe oft Angehörige, die sagen, dass sie eigentlich lebensfrohe Menschen sind, die gerne andere Personen getroffen haben, und es jetzt nicht mehr tun, weil es ihnen zu viel wird.

Spätestens bei solchen Anzeichen der Überforderung ist es wichtig, wieder auf sich selbst zu schauen, die eigenen Bedürfnisse zu erkennen und ernst zu nehmen. Die Devise lautet: So viel Unterstützung wie nötig, so früh wie möglich. Hierbei helfen auch Angebote wie Pflegeberatung, Selbsthilfegruppen, psychologische Beratung, telefonische Beratung sowie der Familiencoach Pflege der AOK. Die Entscheidung, sich Hilfe durch andere Verwandte, ambulante Pflege oder eine Pflegeeinrichtung zu organisieren, wird oft als negativ im Sinne von Versagen empfunden. Hilfe anzunehmen, ist jedoch wichtig.

Familiencoach Pflege

Das Online-Selbsthilfeprogramm der AOK für Angehörige von Demenzkranken.

Der „Familiencoach Pflege“ hilft Angehörigen, den Pflegealltag besser zu bewältigen und sich vor Überforderung zu schützen. Ein Fokus liegt auf den schwierigen Pflegesituationen wie der Betreuung von Menschen mit Demenz und dem Umgang mit belastenden Gefühlen. Mehr unter familiencoach-pflege.de.

Wie wichtig ist es, mir psychologische Hilfe zu suchen, wenn ich überfordert bin?

Wenn ich selbst als Angehöriger Wege finde, wie ich die Situation gut oder besser bewältigen kann, wirkt sich das unmittelbar auch auf den Betroffenen aus. Die meisten Angehörigen profitieren sehr von psychologischer Unterstützung. Dabei wird gezielt an ihren persönlichen Problemen gearbeitet, wie Schuldgefühlen, Überforderung, Reizbarkeit und auch dem fortschreitenden Verlust einer geliebten Person. Oft reichen schon wenige Stunden an psychotherapeutischer Unterstützung aus, um große Veränderungen zu bewirken.

Auch Selbsthilfegruppen für Angehörige können eine große Hilfe sein, um sich auszutauschen und auch zu merken: Es ist okay, wie ich mich fühle, anderen geht es ähnlich. Allerdings ist hierbei zu bedenken, dass man viele persönliche Geschichten von anderen hört, die einen zusätzlich belasten können – und auch individuelle Lösungen werden nicht immer gefunden. Von daher muss man stets entscheiden, was für einen selbst der richtige Weg ist.

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