Psychologie

Das Phänomen Nocebo – wann Erwartungen krank machen können

Veröffentlicht am:20.10.2025

11 Minuten Lesedauer

Wenn negative Gedanken die Gesundheit beeinflussen, nennt man das Nocebo-Effekt. So können Sie vermeiden, dass der Nocebo-Effekt Ihre Krankheits-Symptome verstärkt oder Nebenwirkungen hervorruft.

Eine Frau hält in der einen Hand einen Tabletten-Blister und in der anderen ihr Handy.

© iStock / Miljan Živković

Was versteht man unter dem Nocebo-Effekt?

Ein ausführliches Gespräch mit der Ärztin, ein Reel über medizinische Risiken bei Instagram oder Laienmeinungen in Internet-Foren: Manchmal reichen einige Informationen – und plötzlich fühlt sich der Körper krank an, obwohl die Ursache kaum greifbar ist. Was hinter solchen Reaktionen steckt, nennt die Wissenschaft Nocebo-Effekt – abgeleitet vom Lateinischen „nocebo“ für „ich werde schaden“. Er beschreibt das Gegenteil des Placebo-Effekts: Weil Patientinnen und Patienten an eine negative Wirkung glauben oder schlechte Erfahrungen gemacht haben, verstärkt der Nocebo-Effekt Beschwerden oder löst neue Symptome aus. Diese Wirkung kann bereits entstehen, wenn Behandlerinnen oder Behandler mögliche Nebenwirkungen erläutern oder wenn Betroffene Informationen aus anderen Quellen, dem Fernsehen oder Internet, aufnehmen. Nach aktuellen Erkenntnissen beeinflussen dabei nicht nur bewusste Überzeugungen, sondern auch unbewusste Lernprozesse die Wahrnehmung von Schmerzen und Beschwerden. Auch negatives Denken kann wie ein Nocebo wirken.

Oft wird der Nocebo-Effekt allerdings vom medizinischen Fachpersonal und Patientinnen sowie Patienten unterschätzt. Doch das Wissen über Placebo und Nocebo kann maßgeblich den Erfolg oder Misserfolg einer Therapie beeinflussen. Nicht ohne Grund wird in aktuellen Richtlinien in der Schmerztherapie explizit auf die Nutzung des Placebo-Effekts sowie auf die Vermeidung des Nocebo-Effekts hingewiesen.

Wie unterscheiden sich Placebo- und Nocebo-Effekt?

Der Nocebo-Effekt ist die Kehrseite des Placebo-Effekts. Beide entstehen durch psychologische Prozesse im Gehirn – vor allem durch Erwartungen. Wer auf eine Behandlung vertraut, kann dadurch eine spürbare Besserung erleben, selbst wenn die Therapie keinen pharmakologischen Effekt hat. Umgekehrt können negative Erwartungen Beschwerden auslösen oder verstärken, auch dann, wenn es keine medizinische Ursache gibt.

Neurobiologisch lassen sich beide Effekte in ähnlichen Strukturen nachweisen: Hirnareale wie der präfrontale Kortex sind aktiv, wenn Patientinnen und Patienten mit bestimmten Erwartungen auf eine Behandlung reagieren, egal ob positiv oder negativ. Man könnte sagen, die innere Haltung wirkt dabei wie ein Filter: Sie beeinflusst, wie Schmerzen oder Symptome im Körper wahrgenommen und verarbeitet werden.

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Was passiert beim Nocebo-Effekt?

Der Nocebo-Effekt entsteht, wenn das Gehirn eine bevorstehende Belastung, beispielsweise Schmerzen oder Nebenwirkungen, erwartet und diese Erwartung die Verarbeitung von Schmerz- oder Krankheitssignalen negativ beeinflusst. Geht man etwa davon aus, dass ein Medikament Nebenwirkungen hat, reagiert das Gehirn verstärkt auf harmlose Reize oder interpretiert normale Körperempfindungen als Anzeichen einer Verschlechterung. Diese Prozesse laufen teilweise unbewusst ab. Zudem können frühere Erfahrungen, die mit Schmerzen oder Nebenwirkungen verknüpft sind, das Nervensystem so „trainieren“, dass es künftige Beschwerden wahrscheinlicher macht. Besonders deutlich zeigt sich der Nocebo-Effekt in einer krankmachenden Angst vor eingebildeten Gefahren. Durch aufkeimende Angst oder psychisch bedingte Schmerzen schüttet der Körper den Botenstoff Cholezystokinin aus – er wird in der Darmschleimhaut gebildet. Der Botenstoff wiederum verstärkt die Angst und die Wahrnehmung von Schmerzen im Gehirn.

Wie Erwartungen unsere Gesundheit beeinflussen können – das Phänomen Nocebo einfach erklärt.

Welche Beispiele gibt es für den Nocebo-Effekt?

Insbesondere im Zusammenhang mit verstärktem Schmerzempfinden tritt der Nocebo-Effekt immer wieder auf. Experimentelle Studien zeigen: Worte können dabei wie ein Nocebo wirken. In Untersuchungen erklärten Forschenden den Teilnehmenden, dass ein Medikament oder eine Behandlung Schmerzen verstärkt. Die Folge: Die Betroffenen empfanden häufig mehr Schmerzen. Die Forschende ordnen den Nocebo-Effekt bei Schmerzen als hoch ein. Die Art und Weise, wie das Fachpersonal Informationen vermitteln, kann den Verlauf von Beschwerden entscheidend beeinflussen. Negative Formulierungen, ausführliche Aufzählungen von Nebenwirkungen oder ein unsensibler Umgang mit Diagnosen lösen regelmäßig einen Nocebo-Effekt aus.

Wenn Informationen krank machen

Nicht nur Gespräche mit Ärztinnen oder Ärzten, sondern auch andere Informationsquellen lösen unter Umständen den Nocebo-Effekt aus oder verstärken ihn. Es gibt immer wieder Hinweise darauf, dass Internetrecherchen, Social Media und Medienberichte die Erwartungen stark beeinflussen können und Betroffene häufiger Nebenwirkungen entwickeln. In Neuseeland meldeten beispielsweise vermehrt Personen Nebenwirkungen durch ein Thyroxinpräparat bei den zuständigen Behörden, nachdem negativ über das Medikament berichtet worden war. Thyroxin wird als Wirkstoff bei Schilddrüsenerkrankungen eingesetzt.

Eine Ärztin beträt eine Seniorin in der Sprechstunde. Die Seniorin lächelt die Ärztin an, die Ärztin ist von hinten zu sehen.

© iStock / FatCamera

Den Nocebo-Effekt vermeiden: Durch eine sensible Aufklärung über Gefahren und Nebenwirkungen können Ärztinnen und Ärzte das Risiko für den Nocebo-Effekt verringern.

Erlernte negative Reaktionen: Nocebo durch Konditionierung

Psychologisch betrachtet entstehen Nocebo-Reaktionen auch durch Lernprozesse: Sie beruhen entweder auf eigenen Erfahrungen (Konditionierung), auf äußeren Einflüssen wie Suggestion oder auf Beobachtung. Ein bekanntes Beispiel ist die antizipatorische Übelkeit: Wer nach mehreren Chemotherapien immer wieder erbrechen musste, dem kann später schon durch den Geruch von Desinfektionsmitteln übel werden – ganz ohne neue Medikamentengabe.

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Wie kann das Fachpersonal vor dem Nocebo-Effekt schützen?

Von Ärztinnen und Ärzten ist eine besondere Aufmerksamkeit gefragt, damit sie nicht aus Versehen den Nocebo-Effekt auslösen. Denn er verstärkt sich mit jeder Wiederholung – gerade, wenn die gleichen Risiken mehrfach erwähnt werden. Deshalb raten Experten und Expertinnen dazu, unnötige Doppelaufklärungen zu vermeiden, etwa bei wiederholten Eingriffen oder wenn verschiedene Fachrichtungen beteiligt sind. Sinnvoller ist es, die Betroffenen direkt zu fragen, was sie bereits wissen. Nennt die Patientin oder der Patient ein mögliches Risiko selbst, wirkt dieses weniger beunruhigend, als wenn es von ärztlicher Seite betont wird. Trotzdem dürfen Behandlerinnen und Behandler natürlich nicht ihre Pflicht vernachlässigen, über Risiken und Nebenwirkungen von Medikamenten und Behandlungen aufzuklären. Der Fokus sollte dabei möglichst auf einer positiven Gesprächsführung liegen. Behandlerinnen und Behandler, die behutsam aufklären, realistische, aber ausgewogene Informationen geben, ohne etwas zu verschweigen, und gezielt Vertrauen aufbauen, verringern den Nocebo-Effekt. Besonders wichtig ist dabei, mögliche Risiken zwar anzusprechen, aber auch die Vorteile und den Nutzen daraus zu besprechen.

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Was kann ich selbst gegen den Nocebo-Effekt tun?

Der beste Schutz vor dem Nocebo-Effekt ist eine vertrauensvolle Beziehung zwischen Ihnen und Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt. Häufig tritt der Nocebo-Effekt nach der Aufklärung über medizinische Risiken auf. Allerdings ist die Behandlerin oder der Behandler verpflichtet, selbst sehr seltene aber typische Risiken zu erwähnen. In so einer Situation können Sie aktiv werden und darum bitten, dass Ihnen nur die praktisch relevanten Aspekte und die wahrscheinlichen Folgen erklärt werden. Dann verantworten Sie das fehlende Detailwissen selbst. Dadurch erhalten sie weniger Informationen, die potenziell neue Ängste und Sorgen auslösen können.

Frauen leiden übrigens häufiger als Männer unter einer krankmachenden Angst vor potenziellen oder eingebildeten Gefahren. Aber auch ältere Menschen und Personen, die vom Typ her eher ängstlich sind, entwickeln häufiger einen Nocebo-Effekt. Das bedeutet allerdings nicht, dass sich diese Personengruppen generell Nebenwirkungen oder Krankheiten einbilden. Wer sich selbst als vorsichtig oder ängstlich einschätzt, für die oder den kann es unter Umständen ratsam sein, keine exzessive Internetrecherche zu einer Krankheit zu betreiben, Social-Media-Inhalte zu dem Leiden zu konsumieren oder sich in Internet-Foren zu informieren. Zudem ist es eine Möglichkeit, Ihrer Ärztin oder Ihrem Arzt bestehende Sorgen mitzuteilen, damit man Ihnen diese nehmen kann und sie fachlich berücksichtigt.

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