Psychologie
Ableismus: Was ist das eigentlich?
Veröffentlicht am:15.12.2025
7 Minuten Lesedauer
Ableismus diskriminiert Menschen mit Behinderung. Adina Hermann von den Sozialheld*innen, die sich für Menschenrechte, Inklusion und Barrierefreiheit einsetzen, erklärt im Interview die unterschiedlichen Facetten von Behindertenfeindlichkeit.

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„Es geht darum, dass alle Menschen in dieser Gesellschaft teilhaben können“
Ableismus geht uns alle an – denn ob mit Behinderung oder ohne, wir leben gemeinsam in der gleichen Gesellschaft. Adina Hermann nutzt, seitdem sie 10 Jahre alt ist, einen Rollstuhl und spricht nicht nur über ihre eigenen Erfahrungen, sondern auch darüber, was wir alle für eine inklusivere Gesellschaft tun können.

© Andi Weiland | Gesellschaftsbilder.de
Adina Hermann ist Leitung Kommunikation und Vorstandsmitglied der Sozialheld*innen, die sich für eine inklusive Gesellschaft engagieren. Denn: Teilhabe ist Menschenrecht! Adina Hermann hat Kommunikationsdesign und Art Direction in Hamburg studiert. Heute gibt sie Workshops und bietet Beratungen sowie Vorträge zu Themen wie Diversität in Unternehmen, inklusiver Kommunikation und (digitaler) Barrierefreiheit an. Für Ihre Arbeit kürte sie das Wirtschaftsmagazin Capital 2021 in der jährlich erscheinenden Aufstellung von jungen Macher*innen zur »Jungen Elite – die Top 40 unter 40«.
2024 veröffentlichte sie gemeinsam mit Raúl Krauthausen das inklusive Kinderbuch „Als Ela das All eroberte“. In ihrer Freizeit reist sie leidenschaftlich gern und berichtet, gemeinsam mit ihrem Mann, auf Instagram und unter Mobilista.eu vom Reisen mit Rollstuhl und Kind.
Frau Hermann, Ableismus bedeutet, dass Menschen auf ihre körperliche oder psychische Behinderung reduziert und ungleich behandelt werden. Wie nehmen Sie als Rollstuhlfahrerin Ableismus in Ihrem Alltag wahr?
Ableismus äußert sich häufig darin, dass Menschen mit Behinderung als weniger wert wahrgenommen werden. Das fängt damit an, dass einem zum Beispiel bei der Arbeit bestimmte Sachen nicht zugetraut werden, einfach aufgrund der Behinderung. Oder dass man von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen wird. Ableismus kann aber auch strukturell sein. Es wird im öffentlichen Raum häufig nicht bedacht, ob man sich barrierefrei bewegen kann. Der Faktor Behinderung ist bei vielen nicht präsent.
Ich habe von Geburt an eine Behinderung und sitze, seitdem ich zehn Jahre alt bin, im Rollstuhl. Wie man Ableismus erfährt, kann sehr unterschiedlich sein. Gerade wenn eine Behinderung nicht so deutlich sichtbar ist und man bestimmte Bedarfe äußert, wird man eher abfällig angesprochen: „Was stellst du dich denn so an?“ Personen, die mobilitätseingeschränkt sind, sich aber ohne Hilfsmittel fortbewegen, stoßen beispielsweise häufig auf Unverständnis oder ihnen wird sogar unterstellt, sie würden „nur so tun, als ob”. Sobald eine Behinderung sichtbar ist, bekommt man häufig eine Art Vorschussmitleid. Oder man wird ein bisschen als Held beziehungsweise Heldin dargestellt, der oder die tapfer das Schicksal meistert – und genau dieses Einteilen wollen wir nicht. Wir wollen als Menschen gesehen werden, bei denen die Behinderung nur eines von vielen Vielfaltsmerkmalen ist.
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Könnten Sie eine Situation beschreiben, in der Sie Ableismus erlebt haben und wie sich das angefühlt hat?
Ableismus gibt es auch als aggressive Form, die mir zum Glück selten passiert ist. Im öffentlichen Nahverkehr hat mal jemand zu mir gesagt: „Sowas wäre früher vergast worden.“ Aber dann gibt es viel subtilere Formen von Ableismus. Zum Beispiel bei einer Klassenfahrt, bei der einfach kein barrierefreies Programm geplant wird und dann musst du zusehen, wo du bleibst. Du wirst als behinderter Mensch nicht „gesehen“. Oder das Sanitätshaus geht davon aus, dass du den ganzen Tag zuhause bist – in der Annahme, dass Menschen mit Behinderung nicht arbeiten. Da sind Klischees in den Köpfen, durch die man nicht gleichwertig behandelt wird.
Wie reagieren Sie, wenn Sie aufgrund Ihrer Behinderung diskriminiert werden, haben Sie bestimmte Strategien entwickelt?
Ja, früher, als ich selbst noch unsicherer war, habe ich eher versucht, immer ganz vorsichtig und aufklärend zu sein. Heute mache ich deutlich, was meine Rechte sind und wo meine Grenzen liegen. Das muss man lernen. Denn häufig wird einem als Mensch mit Behinderung das Gefühl gegeben, dass man in einer Bittstellerposition ist. Dass es eigentlich um Menschenrechte geht, das ist noch nicht überall angekommen. Manchmal wird es auch als unverschämt wahrgenommen oder als zu fordernd – und das ist dann schwer auszuhalten.
Herausforderung internalisierter Ableismus
Wie beeinflussen diese Erfahrungen Ihre Selbstwahrnehmung oder Ihr Selbstwertgefühl?
Ich glaube, ich kann das für fast alle sagen, die auch eine Behinderung haben und mit denen ich enger zu tun habe: Es ist für uns alle ein stetiger Lernprozess. Keiner fühlt sich angekommen. Alle versuchen, stärker und selbstbewusster mit solchen Situationen umzugehen und einen noch besseren Weg für sich zu finden – um sich selbst gut zu fühlen und um gleichzeitig dem Umfeld klar zu machen, was eigentlich falsch läuft.
Es gibt auch den Begriff „internalisierter Ableismus“. Ich selber bin ja auch in dieser Gesellschaft groß geworden und habe bestimmte Klischees im Kopf. Manchmal ertappe ich mich selbst bei Gedanken, die gegen mich selbst ableistisch sind. Zum Beispiel der Gedanke, immer zeigen zu müssen, dass ich gut mithalten kann, immer 200 Prozent geben zu müssen, damit ich anerkannt werde. Das wird einem auch ein bisschen anerzogen, vielen Menschen mit Behinderungen geht es so. Behinderungen sind so vielfältig wie Menschen nur sein können und man kann auch dann anderen Personen gegenüber ableistisch sein, wenn man selbst eine Behinderung hat. Wichtig ist, das zu reflektieren.

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Was ist aufwertender Ableismus?
Haben Sie Ableismus auch schon mal in Form einer Aufwertung erlebt, nach dem Motto: Toll, dass Sie das trotz Ihrer Einschränkung können?
Es gibt den Begriff der „positiven Diskriminierung“. Dahinter kann sich zum Beispiel die Vorstellung verbergen, dass Menschen mit Behinderung immer besonders nett und sozial sind. Das sind Klischees, die mich schon als Kind gestört haben. Ich habe damals viel Zeit im Krankenhaus verbracht und habe ständig von den Erwachsenenen gehört: „Ach, du bist ja so tapfer!“ Ich fand das ganz schrecklich. Denn ich habe mir die Situation ja nicht ausgesucht. Tapfer ist für mich die Heldin, die in ein brennendes Haus rennt und eine Katze rettet. Aber ich bin ja nicht reingerannt, ich war schon in dem brennenden Haus. Ich musste das also aushalten, es gab keine Alternative. Ich glaube, das ist oft nur ein hilfloser Versuch, etwas Nettes zu sagen.
Was wünschen Sie sich von nicht behinderten Menschen im Umgang mit Ihnen?
Ich finde es wichtig, dass man Kindern nicht von Anfang an beibringt wegzugucken, denn damit gibt man ihnen Hemmungen mit, in Kontakt zu treten. Ich erlebe das häufig, Kinder wollen aus Neugier fragen und die Eltern sagen dann: „Nein, guck da nicht so hin!“ Da schwingt eine Scham mit. Das möchte ich auf keinen Fall und das finde ich auch nicht zielführend. Wenn Kinder mich fragen, antworte ich meist so ehrlich wie ich kann. Gleichzeitig sollte man größeren Kindern vermitteln, dass es genauso o.k. ist, wenn das Gegenüber nicht antworten möchte. Und es ist vielleicht nicht der beste Einstieg in ein Gespräch, direkt nach der Diagnose zu fragen. Man könnte es seinen Kindern eher so vermitteln: Überleg doch mal, was ist respektvoll, was ist nett, was ist höflich? Wie möchtest du angesprochen werden? Und vielleicht ist die Diagnose dann nicht die wichtigste Frage von allen. In unserer Gesellschaft ist es nämlich oft so, wenn ein Mensch mit einer sichtbaren Behinderung vorgestellt wird, ist die erste Frage, die gestellt wird: „Ja, was hast du denn?“ Es sollte mehr darum gehen, was den Menschen wirklich ausmacht. Und die Diagnose erfahre ich vielleicht, wenn ich in ein längeres Gespräch komme. Aber sie geht mich als fremden Menschen erstmal nichts an.
Sie sind ja auch als Vorständin von Sozialheld*innen aktiv. Welche Rolle spielt Aufklärung und Aktivismus im Kampf gegen Ableismus?
Wir als Sozialheld*innen verstehen uns als Menschenrechtsorganisation, wir setzen uns für die Rechte von Menschen mit Behinderungen ein und haben verschiedene Projekte, die sich in unterschiedlichen Lebensbereichen abspielen. Zum Beispiel das Projekt „JOBinklusive“, wo es darum geht, Menschen mit Behinderungen zu helfen, auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu gelangen. Wir haben auch Projekte, bei denen es um Mobiliät geht, dazu gehört die WheelMap, die weltweit größte Onlinekarte für rollstuhlgerechte Orte. Oder unser Vielfaltsmagazin mit dazugehörigem Podcast namens DieNeueNorm.de. Es geht immer darum, dass alle Menschen in dieser Gesellschaft gleichberechtigt teilhaben können, auch Menschen mit Behinderungen. Eigentlich arbeiten wir als gemeinnütziger Verein täglich an unserer Abschaffung. Unser Ziel ist eine Gesellschaft, in der niemand mehr für seine Rechte kämpfen muss und Vielfalt und Inklusion selbstverständlich sind.
Die Inhalte unseres Magazins werden von Fachexpertinnen und Fachexperten überprüft und sind auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft.







