Gehirn & Nerven
„Unser Nervensystem kann Tumore wachsen oder schwinden lassen“
Veröffentlicht am:28.08.2025
5 Minuten Lesedauer
Krebs und Nervensystem – was haben sie miteinander zu tun? Prof. Dr. Frank Winkler hat dazu Erstaunliches herausgefunden. Im Interview spricht er über seine Erkenntnisse, die Vieles verändern werden.

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Warum das Nervensystem bei Krebs eine große Rolle spielt
In seinen Forschungsarbeiten hat der Neurologe Prof. Dr. Frank Winkler entdeckt, dass Nervenzellen des Gehirns mit den Zellen von Gehirntumoren kommunizieren. Diese bahnbrechende Erkenntnis rückt nicht nur das Nervensystem in den Fokus von Krebstherapien, sondern eröffnet neuartige Behandlungsansätze – auch bei anderen Krebsarten, die nun in klinischen Studien geprüft werden. In Fachkreisen gelten die Erkenntnisse von Prof. Dr. Winkler daher als Pionierarbeit im Bereich „Cancer Neuroscience“, der Krebs-Neurowissenschaft. Für seine Arbeit wurde der Experte mit dem renommierten Brain Prize 2025 ausgezeichnet. Es ist der höchstdotierte Forschungspreis der Neurowissenschaften und Neuromedizin. Im Interview erklärt Prof. Dr. Winkler, warum das Nervensystem das fehlende Puzzleteil im Kampf gegen Krebs sein könnte.
Prof. Dr. Winkler, die Krebs-Neurowissenschaft ist noch ein junges Fachgebiet – was verbirgt sich dahinter?
Wir untersuchen das Zusammenspiel von Nervensystem und Krebszellen. Denn das Nervensystem ist ein Meisterregulator in unserem Körper – und kann sogar Krebs steuern. Es befeuert oder hemmt das Wachstum, die Metastasierung und die Resistenz gegen Therapien. Bisher waren die Krebswissenschaftler und -wissenschaftlerinnen darauf fokussiert, dass Tumoren ungebremst wachsen, beeinflusst von einigen Körperzellen. Doch wir haben herausgefunden, dass Tumore mit etwas so Komplexem wie dem Nervensystem wechselseitig kommunizieren.
Prof. Dr. Frank Winkler

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Der Neurologe Prof. Dr. Frank Winkler forscht an der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg sowie am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). Zudem ist er geschäftsführender Oberarzt der Neurologischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg sowie am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg und behandelt Patientinnen und Patienten mit Hirntumoren.
Das bedeutet: Tumorzellen kommunizieren mit dem menschlichen Gehirn und umgekehrt?
Beim Nervensystem denken viele zuerst ans ZNS, das zentrale Nervensystem, also das Gehirn. Allerdings durchzieht das Nervensystem den gesamten Menschen, interagiert mit jedem Teil des Körpers und nimmt alles wahr, was im Organismus passiert. Das periphere Nervensystem lenkt beispielsweise willkürliche Bewegungen. Das vegetative Nervensystem dagegen lenkt alles, was wir nicht bewusst steuern können wie den Herzschlag oder die Magen- und Darmtätigkeiten. Tumoren führen mit dem gesamten Nervensystem sogenannte Crosstalks – sie tauschen Informationen aus.
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Crosstalks – diese Art der Gespräche zwischen Tumor und Nervensystem müssen Sie bitte näher erklären.
Bisher wusste man, dass das Nervensystem bestimmte Substanzen produziert, die einen Tumor beeinflussen, wenn sie nah genug beieinanderliegen. Wir haben jedoch herausgefunden, dass Nervenzellen und Tumorzellen zusammen Synapsen bilden können. Das sind Verbindungsstellen, an denen die Nervenzellen Signale weitergeben. Diese Verbindungsstellen haben dieselbe Struktur wie herkömmliche Synapsen, die nur aus Nervenzellen bestehen. Auch die Kommunikation der Synapsen funktioniert identisch. Weil nun ein Tumor in das menschliche Synapsensystem eingebunden ist, wird dieser durch die Nervenzellimpulse ständig aktiviert.
Der Tumor hört das Nervensystem quasi ab?
Im Prinzip ja. Über die Verbindung empfängt der Tumor die Impulse der Nervenzellen. Sie regen die Tumorzellen an, sich zu teilen, zu verbreiten und Metastasen zu bilden. Gleichzeitig helfen diese Verbindungen ins Nervensystem dem Tumor dabei, sich Krebstherapien zu widersetzen. Unsere Forschungsgruppen konnten das bei Hirntumoren und dem zentralen Nervensystem sehr gut nachweisen.
Aufbau und Funktion des Nervensystems auf einen Blick
Zentrales Nervensystem (ZNS): Es besteht aus den Nervenzellen im Gehirn und dem Rückenmark. Das ZNS liegt geschützt im Schädel und im Wirbelkanal der Wirbelsäule.
Peripheres Nervensystem: Alle Nervenbahnen außerhalb von Gehirn und Rückenmark, die beispielsweise die willentlichen Bewegungen steuern sowie die wahrgenommenen Reize aus der Umwelt und dem eigenen Körper zurück an das ZNS transportieren.
Vegetatives Nervensystem: Parasympathikus und Sympathikus – Nerven, die nicht willentlich beeinflussbar sind und automatisch lebenswichtige Körperfunktionen wie Herzschlag, Blutdruck, Verdauung und Stoffwechsel steuern.
Gibt es weitere Krebsarten, die besonders intensiv mit anderen Teilen des Nervensystems kommunizieren?
Krebsarten im Magen-Darm-Trakt, Prostatakrebs und vermutlich auch Lungenkrebs stehen im engen Austausch mit dem vegetativen Nervensystem, genau genommen mit dem Parasympathikus. Je nach Organ und Zelltyp hemmt der Parasympathikus das Krebswachstum oder bestärkt es. Das wird aktuell noch genauer erforscht. Beim Gegenspieler, dem Sympathikus, dagegen hat man schon eindeutig festgestellt, dass er in den meisten Fällen das Tumorwachstum stimuliert – beispielsweise bei Brustkrebs.
Der Sympathikus wird bei Stress aktiviert. Gibt es durch die Krebs-Neurowissenschaft neue Erkenntnisse, ob Stress das Krebswachstum befeuert?
Zurzeit sind die wissenschaftlichen Daten noch nicht belastbar genug, um gesichert sagen zu können: Stress fördert das Wachstum von Tumorzellen. Allerdings gibt es viele Anzeichen, die dafürsprechen, und es ist ein spannendes Themenfeld. Es würde mich in keiner Weise wundern, wenn eine Studie in Zukunft diesen Zusammenhang auch bei Menschen eindeutig belegt.
Neurowissenschaft neue Erkenntnisse, ob Stress das Krebswachstum befeuert?
Zurzeit sind die wissenschaftlichen Daten noch nicht belastbar genug, um gesichert sagen zu können: Stress fördert das Wachstum von Tumorzellen. Allerdings gibt es viele Anzeichen, die dafürsprechen, und es ist ein spannendes Themenfeld. Es würde mich in keiner Weise wundern, wenn eine Studie in Zukunft diesen Zusammenhang auch bei Menschen eindeutig belegt.
Woran arbeiten Sie aktuell wissenschaftlich?
Wirplanen gerade die dritte Studie, in der wir eine Art vonSchrittmacherzellen über das Nervensystem hemmen wollen. Diese Schrittmacherzellen schlagen wie ein kleines Herz in den Tumornetzwerken. Wenn man sie bremst, kann das die Strahlentherapie deutlich effektiver machen. Währenddessen wollen unsere Kolleginnen und Kollegen in Australien die Wirkung von Beta-Blockern bei Brustkrebs weiter erforschen. Das sind beides vielversprechende Studien.
Welches Potenzial haben Medikamente wie Beta-Blocker?
Betablocker hemmen das sympathische Nervensystem. Dieses beeinflusst wiederum sehr viele Tumorarten außerhalb des Gehirns. Wird das sympathische Nervensystem gebremst, wachsen die Tumoren nicht weiter. Darüber hinaus gibt es noch über 100 andere „neuroaktive“ Medikamente, die in Deutschland bereits zugelassen sind – in der Neurologie, in der Psychiatrie oder im Fachbereich der Inneren Medizin. Die Substanzen können die Signale des Nervensystems verändern und die Tumoren zum Wohle des Patienten beeinflussen. Diese Möglichkeiten erforschen wir weiter. Denn wir können nicht einfach annehmen, Substanz A hemmt das Nervensystem, dieses interagiert mit dem Tumor, also sinkt das Tumorwachstum.
Es gibt beispielsweise einen aggressiven Hirntumor, der in der Regel im Hirnstamm wächst – vor allem bei Kindern, aber auch bei jungen Erwachsenen. Nehmen die Betroffenen Wirkstoffe wie Valium ein, die das zentrale Nervensystem bremsen, schrumpft dadurch nicht der Tumor. Im Gegenteil: Das Valium regt die Tumorzellen an, weiter zu wachsen. Daher müssen wir das Zusammenspiel zwischen Substanzen, Nervensystem und Tumoren weiter erforschen.
Versorgungsverträge mit dem INFORM-Projekt
Das INFORM-Projekt ist eine Vernetzung der kinderonkologischen Zentren in Deutschland mit dem Deutschen Krebsforschungszentrum und der Uniklinik Heidelberg.
Sie bietet krebskranken Kindern mit einem Rückfall oder einer Hochrisikoerkrankung die Chance auf einen neuen Behandlungsweg., Die AOK hat Versorgungsverträge geschlossen, damit Versicherte an dem wissenschaftlichen Projekt teilnehmen können.
Wird es eines Tages eine Tablette geben, die das Nervensystem derart beeinflusst, dass eine bestimmte Art von Tumor stirbt?
Ich bin überzeugt davon, dass die nächsten Jahre und Jahrzehnte weiter zeigen werden: Das Nervensystem sitzt im Chefsessel – es steuert nicht nur unseren Körper, sondern auch Krebs. Werden wir deshalb mit einer neurowissenschaftlichen Therapie den Körper von Krebs heilen können? Also eine Substanz entwickeln, die quasi über das Nervensystem eine Stopptaste im Körper drückt und der Tumor zugrunde geht? Ich glaube nicht. Ich sehe das große Potenzial im Zusammenspiel mit anderen Krebstherapien. Wenn wir über das Nervensystem den Tumor und seine Netzwerke stören, wirken etablierte Anwendungen wie Strahlen-, Chemo- oder Immuntherapie besser und sind verträglicher für den Körper. Das konnten wir in unterschiedlichen vorklinischen Studien zeigen und müssen es jetzt in klinischen Studien weiter ausbauen.
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