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Liebe & Sexualität

„Schamlippen, Scheide und Jungfernhäutchen sollen Frauen kleinhalten“

Veröffentlicht am:14.05.2025

6 Minuten Lesedauer

Gynäkologin Prof. Dr. Mandy Mangler will die Frauenheilkunde sprachlich revolutionieren. Warum es so wichtig ist, die Anatomie des weiblichen Körpers neu zu benennen und es das Jungfernhäutchen nicht einmal gibt, erklärt die Chefärztin im Interview.

Ein Gespräch über Begriffe wie Schamlippen: Zwei junge Frauen sitzen auf dem Sofa und unterhalten sich.

© iStock / Jacob Wackerhausen

Schamlippen oder Vulvalippen: Worte formen Wirklichkeit

Scheide oder Vagina? Schamlippen oder Vulvalippen? Sprache entscheidet darüber, wie die Gesellschaft weibliche Körper wahrnimmt und bewertet – dabei bilden gynäkologische Begriffe keine Ausnahme. Doch viele von ihnen sind überholt, irreführend und beeinträchtigen Frauen nachhaltig. Prof. Dr. Mandy Mangler, Chefärztin für Gynäkologie und Geburtshilfe an zwei großen Berliner Kliniken, setzt sich deswegen für eine zeitgemäße und sensible Aufklärung ein. Im Interview spricht sie über Unwörter, medizinische Machtverhältnisse – und darüber, was Gynäkologie mit Gleichberechtigung zu tun hat.

Prof. Dr. Mangler, der Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe hat sich mit der Frage beschäftigt, ob die Sprache in der Frauenheilkunde noch zeitgemäß ist. Die Antwort: wahrscheinlich nicht. Was muss sich ändern?

Die Beziehung von Ärztinnen und Patientinnen hat sich von dem hierarchischen ‚Ich bin die Ärztin und sage dir, was zu tun ist´ hin zu einer partizipativen, informierenden und begleitenden Beziehung entwickelt. Einige medizinische Begriffe der Frauenheilkunde dagegen stammen noch aus einer Zeit, in der Frauen nicht Medizin studieren konnten, weil sie keinen Zugang zur Bildung hatten. Diese Begriffe sind teilweise über 200 Jahre alt. Anstatt sie als gegeben hinzunehmen, sollten wir sie hinterfragen. Sprache muss sich weiterentwickeln dürfen, genau wie Menschen und Systeme. Manche Begriffe aus Praxis und Lehrbüchern sind veraltet und überholt, wie Scheide oder Schamhaare. Andere sind aus heutiger fachlicher Sicht schlichtweg falsch wie Jungfernhäutchen oder Schamlippen.

Prof. Dr. Mandy Mangler

Porträt von Prof. Dr. Mandy Mangler

© privat

Die Gynäkologin Prof. Dr. Mandy Mangler ist Chefärztin für Gynäkologie an den Berliner Kliniken Vivante Auguste-Viktoria Klinikum sowie Vivantes Klinikum Neukölln. Sie setzt sich für eine sensible und zeitgemäße Sprache in der Medizin ein.

Ist Vulvalippen der korrekte Begriff für Schamlippen?

Das ist ein guter und vor allem wertfreier Begriff: innere und äußere Vulvalippen – oder medizinisch Labien. Sage ich stattdessen zu einer Patientin ‚Das sind ihre kleinen Schamlippen´, transportiere ich zwei Dinge: Erstens, dass die Schamlippen klein sein sollen. Und zweitens, dass man sich für sie schämen soll. Von dem Wort Scham können wir uns in Verbindung mit unserem Körper ganz frei machen. Und die Zuordnung klein und groß ist anatomisch inkorrekt. Es gibt viele Menschen, bei denen die inneren Vulvalippen größer sind als die äußeren: Bei 40 Prozent aller Frauen ist das so. Bei 40 Prozent sind die äußeren Vulvalippen größer als die inneren und bei 20 Prozent sind beide ungefähr gleich groß.

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Die weibliche Anatomie braucht einen sprachlichen Wandel?

In der gynäkologischen Praxis gibt es eine großes Machtgefälle: Die behandelnde Person ist angezogen, die zu untersuchende Person ist unbekleidet. Zudem findet der Großteil der Untersuchung an sensiblen Organen statt. Ein respektvoller Umgang und zeitgemäße Sprache verkleinern dieses Gefälle. Denn Worte formen Gedanken und Taten. Sie können ermächtigen oder entmachten – insbesondere, wenn es um den Frauenkörper geht. Wollen wir also als Gesellschaft Frauen weiter kleinhalten, indem wir ihnen vermitteln, dass kleine Schamlippen ein vermeintliches Ideal sind und Frauen sich für ihre Körper schämen sollen? Oder wollen wir sie ermächtigen? Ich frage mich bei meinen Kindern auch: Welche Wörter kann ich ihnen mitgeben – Vulva oder Vagina – und was lernen die Kinder im Schulunterricht? Oder bringen wir ihnen weiterhin das Wort Scheide bei?

Kleines Glossar: korrekte Begriffe in der Frauenheilkunde

  • Große und kleine Schamlippen, Scheidenvorhof, Kitzler = Vulva
  • Jungfernhäutchen = Corona Vaginalis
  • Kitzler = Klitoris
  • Schamhaare = Vulvahaare oder Intimbehaarung
  • Große und kleine Schamlippen = Äußere und innere Vulvalippen
  • Scheide = Vagina
  • Vaginaeingang = Vaginaausgang

Was spricht gegen Scheide?

In der Regel soll Scheide Vagina und Vulva als Einheit beschreiben. Es ist die deutsche Übersetzung des lateinischen Wortes Vagina, das Schwertscheide oder Hülle bedeutet. Das Wort stammt aus einer Zeit, in der Männer noch mit Schwertern unterwegs waren. Hier erkennt man deutlich den männlichen und patriarchalen Einfluss auf die Gynäkologie. Ein Schwert steckt man in seine Halterung, die Scheide. Wo stecken wir einen Penis hinein? Der erinnert uns an ein Schwert, den stecken wir in die Scheide! Die weibliche Anatomie wird hier mit ihrer Funktion für die heterosexuelle männliche Lust beschrieben. Eine Scheide hat nur dort eine Berechtigung, wo es auch ein Schwert gibt. Dabei ist Scheide nicht nur ein veralteter Begriff, sondern hinsichtlich sexueller Lust ist Scheide beziehungsweise Vagina auch nicht das Äquivalent zum Penis. Sondern das richtige Äquivalent ist die Klitoris.

Die Klitoris ist quasi der weibliche Penis? Das müssen Sie bitte erklären …

Klitoris und Penis sind evolutionär und anatomisch äquivalente Organe. Beide haben eine Vorhaut und eine Eichel. Die meisten Menschen kennen nur die Klitoriseichel, das Organ geht aber bis weit in den Körper hinein. Es ist circa elf Zentimeter lang. Wie der Penis besteht die Klitoris aus Schwellkörpern. Beide entstehen aus dem gleichen Gewebe und haben vor allem dieselbe Funktion. Sie sind zuständig für die sexuelle Empfindlichkeit des jeweiligen Menschen. Weil unser Blick auf die Sexualität aber männlich geprägt ist, glauben wir, dass Penis und Vagina ein Paar sind. Ein großer Nachteil für die Frauen. Denn unser Orgasmusorgan bei der Sexualität ist nicht die Vagina, sondern die Klitoris mit ihrer gesamten Größe.

Eine Patientin sitzt angezogen auf einer Behandlungsliege. Auf einem Hocker vor ihr sitzt die Frauenärztin und erklärt der Patientin gendersensible Sprache – zum Beispiel, dass Vulvalippen ein passenderes Wort für Schamlippen ist.

© iStock / Svitlana Hulko

Aufklärung in der Frauenarztpraxis: In einer zeitgemäßen Sprache ist Vulvalippen ein passenderes Wort für Schamlippen.

Veraltetes Konzept: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht

Sie setzen sich nicht nur für eine zeitgemäße Benennung der weiblichen Anatomie ein, sondern auch der Sexualität. Was steckt dahinter?

Bisher haben Männer definiert, was lustvoller Geschlechtsverkehr ist – aus ihrer Perspektive. Die Norm ist seitdem Penetration, der Penis wird in die Vagina gesteckt. Für Frauen soll das auch lustvoll sein. Ist es aber in der Regel nicht. Schließlich wird die Vagina kaum von sensiblen Nerven durchzogen, damit man ein Baby möglichst schmerzfrei hindurchpressen kann. Dass die Frau durch ausschließlich vaginale Penetration einen Orgasmus hat, kommt eigentlich nur vor, wenn das Paar anatomisch so gut zusammenpasst, dass gleichzeitig die Klitoris stimuliert wird. Auch der Akt der Penetration ist vom männlichen Blick geprägt: Frau und Vagina sind dabei passiv. Ich bevorzuge die Sichtweise von Autorin Bini Adamczak, die sogenannte Zirklusion. Anstatt sich passiv penetrieren zu lassen, erhält die Vagina ihre aktive Rolle. Sie umschließt den Penis und steuert dadurch Intensität und Tempo der Interaktion. So wird das tradierte Konzept der Frau als Empfangende aufgebrochen – und damit auch der männerzentrierte Blick auf die Sexualität.

Neben der Frau als Empfangende ist auch das sogenannte Jungfernhäutchen ein uraltes männliches Konzept …

Und eben nur ein Konzept, ein sprachliches Konstrukt, ein Mythos. Das Jungfernhäutchen gibt es nicht! Es ist eine anatomische Struktur, eine Schleimhautfalte, die seit Jahrhunderten genutzt wird, um Frauen einzuteilen und zu bewerten. Es existiert kein Häutchen, das durch die erste Penetration reißt. Tritt Blut beim Geschlechtsverkehr auf, stammt es durch Verletzungen der Vulva oder Vagina. Der Prozentsatz von Frauen, bei denen das geschehen ist, lag in einer meiner Umfragen nur bei 25 Prozent. Mit der Erfindung des Jungfernhäutchens wurden zwei Dinge zementiert: Penetration als Standardsexualität und die Macht der Aussage darüber, ob eine Frau rein ist oder nicht. In der Realität ist es nur eine Schleimhautfalte, die jede weibliche Person besitzt: vom Mädchen bis zur alten Frau, egal ob mit Penetrationserfahrung oder ohne.

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Welcher Name wäre für die Schleimhautfalte passender als Jungfernhäutchen?

Ich würde diesem Areal gerne keinen Namen geben, weil es Frauen unnötig klassifiziert und religiösen sowie kulturellen Druck ausübt. Es ist absurd, dass Frauen medizinisch darauf untersucht werden, ob sie noch Jungfrau sind. Das ist ein pseudomedizinischer Kult. Auch der medizinische Begriff Hymen (altgriechisch für Haut oder Häutchen) zahlt auf den Mythos Jungfernhäutchen ein. Wenn wir es benennen wollen, dann als Schleimhautfalte oder Corona Vaginalis, lateinisch für Kranz oder Krone. Damit bildet man sprachlich ab, was es anatomisch wirklich ist. In Schweden wurde Jungfernhäutchen übrigens schon offiziell durch Corona Vaginalis ersetzt. Es wird Zeit, dass wir in Deutschland auch dorthin kommen!

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