#Achtsamkeit am 18.02.2021

Chronisches Fatigue-Syndrom: Leben mit maximaler Erschöpfung

Junger Mann ist erschöpft.
iStock/simonapilolla

Eine unerklärliche totale Schwäche verändert das Leben der Betroffenen tiefgreifend: Die kleinsten Aktivitäten erfordern zum Teil tagelanges Ausruhen, und schon Sitzen kann eine große Anstrengung bedeuten. Über das Leben mit dem Chronischen Fatigue Syndrom.

Ständig müde, Konzentrationsschwierigkeiten und Antriebslosigkeit: Menschen, die unter dem Chronischen Fatigue Syndrom (CFS)/Myalgische Enzephalomyelitis (ME) leiden, können ihren Alltag nur noch mit Mühe meistern – wenn überhaupt. GESUNDNAH hat mit Lukas Neroni aus Baden-Württemberg gesprochen, der seit etwa acht Jahren mit der Krankheit lebt und bei Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen vom Charité Fatigue Centrum in Berlin nachgefragt, ob CFS bald heilbar sein könnte.

Chronisches Erschöpfungssyndrom: Langer Leidensweg bis zur Diagnose

Lukas Neroni ist 15 Jahre alt, als sein gewohntes Leben endet und er chronisch krank wird. Seitdem hat er das Gefühl, dass sein Leben nur noch an ihm vorbeizieht. Alles begann damit, dass er häufig unter schweren Mandelentzündungen mit hohem Fieber litt. Es folgten Schlafstörungen, extreme Licht- und Geräuschempfindlichkeit, starke Benommenheit, Schwindel, Taubheitsgefühle. „Dass mit mir etwas nicht stimmte, ist mir vor allem in der Schule aufgefallen. Ich konnte nicht mehr klar denken, war durcheinander, vergesslicher als sonst. Mir fiel es sehr schwer, Dinge zu lernen, und das, obwohl ich davor immer ein guter Schüler war“, erzählt Neroni. Heute ist er 23 Jahre alt und täglich auf die Hilfe von anderen angewiesen.

 

Erst im Oktober 2020 spricht ein Arzt aus, was Lukas Neroni schon seit 2018 vermutet: Er leidet unter einem Chronischen Fatigue Syndrom/Myalgische Enzephalomyelitis, kurz ME/CFS. Das heißt, seine Leistungsfähigkeit ist gegenüber dem gesunden Zustand permanent stark verringert. Meist beginnt die Krankheit plötzlich, typischerweise nach einer Infektion. Es zeigt sich eine schwere Erschöpfung (sowohl körperlich als auch kognitiv), die zum Dauerzustand werden kann.

Was ist das Chronische Fatigue Syndrom?

Die genauen Ursachen der Erkrankung sind bislang nicht geklärt. Das CFS wird von den meisten Ärzten und Wissenschaftlern als Multisystemerkrankung mit Fehlregulation des Immunsystems, des Nervensystems und des zellulären Energiestoffwechsels beschrieben. Bei den meisten Patienten beginnt die Erkrankung nach einer Infektion. Als Auslöser gelten bislang u. a. das Epstein-Barr-Virus, Herpes simplex Virus Typ 1, Humanes Herpesvirus Typ 6, Enteroviren, Influenza, Borrelien, Chlamydien, Legionellen und Coxiellen. Wird das CFS durch eine Infektion ausgelöst, wird eine gestörte Immunregulation mit Autoimmunität angenommen.

Durch Belastung wird beim Fatigue-Syndrom alles noch schlimmer

So war es auch bei Lukas Neroni. Doch seine Ärzte nahmen ihn nicht ernst. Alle bescheinigten ihm, dass mit ihm alles in Ordnung sei und er einfach mehr Sport machen solle. „Die Ärzte haben mir nie wirklich geholfen, herauszufinden, unter welcher Erkrankung ich leide. Ich habe mich dadurch, dass ich ja angeblich gesund war, immer weiter gepusht, was mich immer kränker gemacht hat.“ Denn körperlicher und psychischer Stress können zu einer Zunahme der Beschwerden führen. Dadurch kann sich der Zustand immer weiter verschlechtern. Bei besonders schwerwiegender Erkrankung können die Betroffenen sogar pflegebedürftig werden.

 

„Ich habe lange dagegen angekämpft. Doch erst, als ich die Krankheit akzeptiert habe, ging es mir besser. Ich habe akzeptiert, dass ich von nun an ein anderes Leben führe, als ich es vorher getan habe. Ich versuche, mich nicht mehr unter Druck zu setzen, Dinge loszulassen.“ Lukas Neroni ist die meiste Zeit ans Haus  gebunden. „Meistens halte ich mich ausschließlich in dunklen Räumen auf, da ich die Helligkeit nicht ertragen kann. Auch Wärme und Lärm halte ich nicht aus.“

 

Seitdem er erkrankt ist, hat er mehr als 20 Kilogramm zugenommen, da er sich kaum bewegen kann und die meiste Zeit liegt oder unter großer Anstrengung sitzt. Vor der Erkrankung war er sportlich, hatte viele Interessen und Freunde. Davon ist ihm nicht viel geblieben. „Auch wenn ich trotz Therapie zurzeit kein normales Leben führen kann, hat mir die Diagnose geholfen – endlich wusste ich, worunter ich leide. Bei entsprechenden Symptomen sollte man immer einen Arzt aufsuchen und sich behandeln lassen, um den Zustand nicht noch weiter zu verschlimmern.“ Sein Rat: Betroffene sollten sich rechtzeitig schonen und ihre Grenzen nicht überschreiten wollen.

Lukas Neroni ist am Fatigue Syndrom erkrankt.
Copyright/privat

#MEAwarenessHour: Jeder kann für die Betroffenen kämpfen

Seine größte Motivation ist seine kleine Tochter, für die er endlich als Vater da sein möchte. „Ich werde weiterhin dafür kämpfen, dass meine Erkrankung mehr Aufmerksamkeit bekommt. Denn ich bin mir sicher: Wenn die Krankheit besser erforscht wird, könnten wir alle gesund werden oder zumindest wieder mehr am Leben teilnehmen.“

Und: Jeder kann etwas tun, um auf die Erkrankung aufmerksam zu machen. Jeden Mittwoch von 21 bis 22 Uhr findet die ME Awareness Hour auf Twitter statt. „Dort kann jeder unter dem Hashtag #MEAwarenessHour mitmachen, der für uns kämpfen möchte – und das ganz einfach vom Sofa aus. Das würde dazu beitragen, die Erkrankung bekannter zu machen. Denn es ist keine seltene Krankheit – und sie kann jeden treffen.“

Chronisches Fatigue Syndrom bald heilbar? Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen im Interview

Sie ist einer der weni­gen Wissenschaftler in Deutschland, die sich mit dem Chronischen Fatigue Syndrom, also der Erkran­kung unter der Lukas Neroni leidet, beschäftigen: Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, Leiterin des Charité Fatigue Centrums Berlin. Im Gespräch mit GESUNDNAH klärt sie über die Erkrankung, die Symptome und Ursachen auf.

Wie verbreitet ist das Chronische Fatigue Syndrom (CFS)?

Es ist eine häufige Erkrankung. Wir gehen mittlerweile von einem Anteil von 0,5 Prozent der Bevölkerung aus – das wären in Deutschland etwa 400.000 Menschen. Und von denen sind etwa zehn Prozent so schwer krank, dass sie bettlägerig sind – oftmals ohne jegliche Versorgung zu Hause.

Was sind die Symptome beim Fatigue Syndrom?

Bei Betroffenen kann bereits leichte Anstrengung zur Zunahme der Symptome führen und somit zu einer Verschlechterung ihres Zustandes. Es ist eine Erkrankung, bei der vor allem eine ausgeprägte kognitive Störung und starke Schmerzen, zum Beispiel Muskel- oder Kopfschmerzen, auftreten. Häufig leiden die Betroffenen auch unter massiven Schlaf- und Organfunktionsstörungen. Es kann zum Beispiel sein, dass das Herz zu schnell schlägt, dass die Atmung beschleunigt ist oder der Darm nicht mehr richtig arbeitet. Letztendlich kann jede Körperfunktion gestört sein.

Wie kommt es zu der Erkrankung?

Verschiedene Infektionen können CFS auslösen. Das sehen wir jetzt auch bei COVID-19: Nach überstandener Infektion bleibt die Erschöpfung bei einigen bestehen. Es ist nicht so sehr das Virus selbst, das die Erkrankung auslöst, sondern wahrscheinlich das Immunsystem, das durch die Infektionskrankheit aktiviert wird und danach nicht mehr „zur Ruhe“ kommt. Wir nehmen an, dass CFS, wenn es durch eine Infektion ausgelöst wird, eine Autoimmunerkrankung ist. Alles, was unbewusst im Körper abläuft: das Herz schlagen und den Darm arbeiten lassen, zu atmen – all das wird auch durch das Immunsystem beeinflusst. Und dieser Prozess kommt bei CFS durcheinander. Das kann unter anderem eine Erklärung für dieses komplexe Krankheitsbild sein.

Welche Patienten kommen zu Ihnen ins Fatigue Centrum?

Häufig haben die Patienten, die zu uns kommen, durch Internetrecherche selbst den Verdacht, unter CFS zu leiden. Und bei vielen stellen wir dann auch die Diagnose. Wir haben aber leider nur die Möglichkeit, Patienten zu sehen, die aus Berlin kommen. Für alle anderen und auch für behandelnde Ärzte haben wir eine Webseite mit Informationen und Diagnosekriterien entwickelt. Da es kaum CFS-Anlaufstellen gibt, bleibt es Aufgabe des betreuenden Hausarztes, die Diagnose zu stellen und die Behandlung zu beginnen.

Warum dauert es häufig so lange, bis die Diagnose gestellt wird?

Darauf habe ich keine gute Antwort. Ich glaube, es liegt vor allem daran, dass die Erkrankung bei vielen Ärzten nicht gut bekannt ist oder jahrzehntelang falsch als eine psychische Erkrankung im Sinne eines Burn-outs eingeordnet wurde. Wenn man die Erkrankung jedoch kennt, dann ist sie bei den meisten Patienten nicht schwer zu diagnostizieren, da es ein typisches Zusammentreffen von verschiedenen Symptomen ist.

Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen leitet das Charité Fatigue Centrum in Berlin.
Charité

Welche Symptome müssen denn vorhanden sein?

Es müssen die schwere Fatigue, Schmerzen und Konzentrationsstörungen sowie die Belastungsintoleranz vorliegen. Das heißt, nach moderater Anstrengung kommt es oftmals zu einer tagelangen Verschlechterung.

Wie kann man Erschöpfung und CFS voneinander abgrenzen?

Das ist ein wichtiger Punkt. Erschöpfung ist ja ein ganz unspezifisches Symptom, das heißt, bei sehr vielen Erkrankungen wie beispielsweise Eisenmangel, Rheuma oder Schilddrüsenfunktionsstörungen sind die Patienten auch erschöpft. Aber deshalb ist es noch lange nicht das CFS. Deswegen ist es so wichtig, dass Ärzte andere Krankheiten ausschließen.

Mit welchen Vorurteilen werden Betroffene konfrontiert?

Ein häufiges Vorurteil ist, dass es sich um eine psychische Erkrankung handelt und dass sich die Patienten einer Behandlung verweigern. Denn bei vielen Krankheiten ist es in der Tat so, dass sich die Erschöpfung durch Sport bessert. Beim CFS ist Sport hingegen das absolut Verkehrte: Betroffene müssen vielmehr ein Zuviel an Belastung vermeiden.

Wie machen Sie den Patienten nach der Diagnose Mut?

Es hört sich ungewöhnlich an, aber viele Patienten sind allein schon dankbar, überhaupt eine Diagnose zu bekommen. Ich erkläre ihnen, dass wir eine Besserung erzielen können, wenn wir an verschiedenen Stellen ansetzen.

Welche Behandlungsmöglichkeiten gibt es?

Die gute Nachricht: Wir können die Patienten immer behandeln. Bislang ist es aber eine rein symptomatische Behandlung, das heißt, wir können nur die Symptome wie beispielsweise Schlafstörungen oder Schmerzen lindern. Wichtig ist, dass man dem Patienten erst mal erklärt, was überhaupt mit ihm los ist. Und dass körperliche Belastung und mentaler Stress die Erkrankung verschlechtern. Wenn der Patient das verstanden hat und lernt, besser mit der Krankheit umzugehen, dann kommt es oft zu einer gewissen Besserung. Einfach weil es diese ständigen Crashs nicht mehr gibt. Aus diesem Grund raten wir Betroffenen auch, Entspannungstechniken zu erlernen.

Ist CFS heilbar?

Die Chance auf eine spontane Heilung ist niedrig. Das heißt, nur bei im Mittel etwa fünf bis zehn Prozent heilt die Erkrankung mit der Zeit von alleine aus. Dass CFS bislang noch nicht heilbar ist, liegt meines Erachtens daran, dass es nie richtig untersucht wurde. Wenn wir den Mechanismus der Erkrankung kennen würden, dann könnten wir auch gezielt Medikamente entwickeln. Und dann halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass man CFS auch heilen kann.

Gibt es vielversprechende Therapieansätze?

Wir konnten beispielsweise in Studien zeigen, dass Behandlungsverfahren, die bei Autoimmunerkrankungen wirken, zum Teil auch bei CFS wirksam sind. So führte eine Blutwäsche im Rahmen einer Studie, bei der bestimmte Antikörper aus dem Blut herausgefiltert werden, bei den Patienten zu einer Besserung der Symptome.

Was kann das Umfeld bzw. die Gesellschaft tun?

Angehörige und Freunde sollten die Patienten ernst nehmen und sehen, dass sie schwer krank sind. Die Ärzte müssten sich besser mit CFS auskennen, um die Patienten bestmöglich zu betreuen. Was wir zusätzlich brauchen, sind Forschungsförderungen und gezielte Therapiestudien. Aber auch die Krankenkassen sind gefragt. Da es sich bei CFS-Erkrankten um sehr aufwendige Patienten handelt, müsste es eine Chronikerpauschale geben – damit die Ärzte die Behandlung entsprechend vergütet bekommen. Dafür benötigen wir dringend eine Neubewertung der Erkrankung. Zudem wären auch für CFS sogenannte Disease-Managementprogramme sinnvoll, wie sie es beispielsweise für Diabetes oder Bluthochdruck gibt.

Könnte sich durch die Corona-Pandemie etwas ändern?

Das einzig Gute an COVID ist, dass sich inzwischen mehr Wissenschaftler, Ärzte und Politiker stärker für CFS interessieren. Weil es eben eine mögliche Folge der überstandenen Corona-Infektion ist. Wir sehen eine relevante Anzahl – gerade von jungen Menschen –, die nach COVID nicht mehr gesund werden und die nach sechs Monaten die Diagnosekriterien für CFS erfüllen. Da haben wir leider schon eine ganze Reihe bei uns in der Ambulanz gesehen.

Fatigue-Syndrom: Selbsthilfegruppen für Betroffene

Wenn du dich über die Krankheit eingehender informieren möchtest, hilft dir die Website des Charité Fatigue Centrums weiter. Zudem gibt es Selbsthilfegruppen, an die sich Betroffene und Angehörige wenden können – auch bei uns in Baden-Württemberg. Es kann sein, dass sich während der Corona-Pandemie die meisten Gruppen virtuell treffen, frage am besten direkt nach.

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