Psychologie
Warum wird Autismus bei Frauen oft nicht erkannt?
Veröffentlicht am:14.05.2025
6 Minuten Lesedauer
Medizinische Tests, die bei weiblichen Personen versagen, und versteckte Symptome führen dazu, dass bei Frauen deutlich seltener Autismus diagnostiziert wird als bei Männern. Was steckt dahinter?

© iStock / Matthias Lindner
Ist Autismus typisch männlich?
Wer an Autismus denkt, stellt sich wahrscheinlich eine männliche, in sich gekehrte Person vor, zu der man nur schwer Zugang findet. Doch die Entwicklungsstörung hat viele Facetten: Aufgrund der großen Bandbreite der Symptome, Schweregrade und Ausprägungen wird sie als „Autismus-Spektrum-Störung“ (ASS bzw. ASD für Autism Spectrum Disorder) bezeichnet. Ursprünglich ging man davon aus, dass Autismus vorrangig bei Jungen oder Männern auftritt. Heute weiß man, dass auch Mädchen und Frauen betroffen sind, deren Symptome aber oft anders interpretiert werden. Daher erhalten sie viel seltener eine Diagnose und sind in der gesellschaftlichen Vorstellung als Patientinnen weniger präsent. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einer männlichen Person Autismus diagnostiziert wird, ist dreimal höher als bei einer weiblichen.
Autismus bei Frauen: Wann treten die ersten Symptome auf?
Die Autismus-Spektrum-Störung ist eine komplexe neurologische Entwicklungserkrankung. Sie beeinträchtigt vor allem die Kommunikation und soziale Interaktion. Betroffene können beispielsweise damit Probleme haben, Gespräche zu beginnen oder in Gang zu halten, wie es bei Small Talk der Fall ist. Außerdem bereitet es ihnen oft Schwierigkeiten, Mimik, Gestik und Körpersprache des Gegenübers zu deuten oder zu verstehen und entsprechend darauf zu reagieren. Sie selbst haben zudem eine reduzierte Mimik.
Menschen mit Autismus zeichnen sich oft durch repetitive Verhaltensweisen oder ein intensives Interesse an bestimmten Themen aus. Die Ausprägungen reichen vom kognitiv stark eingeschränkten Kind, das später im Leben auf Hilfe angewiesen sein wird, bis hin zur hochqualifizierten Wissenschaftlerin, die vielleicht ein wenig eigenbrötlerisch wirkt, aber herausragende Leistungen im Job erzielt. Doch eins haben die Betroffenen in der Regel gemeinsam: Die charakteristischen Autismus-Symptome treten bereits in der frühen Kindheit auf – auch wenn sie insbesondere bei Frauen häufig nicht als solche erkannt werden.
Denn Frauen und Mädchen erhalten die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung nicht nur seltener, sondern im Durchschnitt auch in einem höheren Alter als männliche Patienten. Konkret bedeutet dies, dass das Leiden bei Frauen im Vergleich eher im Erwachsenen- als im Kindesalter erkannt wird. Zudem haben sie ein erhöhtes Risiko, dass Autismus bei ihnen gänzlich unentdeckt bleibt.
Die Autismus-Tests sind auf männliche Patienten zugeschnitten
Der Grund für die Unterversorgung bei Frauen liegt unter anderem in der Diagnostik. Die Standards, mit denen Autismus heute erkannt wird, sind ursprünglich auf der Basis von Daten männlicher Personen mit Autismus entwickelt worden. Sie zeigen vor allem typische Symptome von Jungen oder Männern auf. Doch weibliche Personen haben nachweislich andere Merkmale, die die Tests nicht oder nur unzureichend berücksichtigen.
Die geschlechterspezifischen Unterschiede finden sich in folgenden Bereichen:
- Verhaltensweisen
- soziale und kommunikative Fähigkeiten
- Sprachgebrauch
- zwischenmenschliche Beziehungen
- stereotype und wiederholende Verhaltensweisen
Autismus bei Frauen: Vorurteile erschweren die Diagnose
Nicht nur die Diagnoseverfahren sorgen dafür, dass Autismus bei Frauen seltener und später erkannt wird. Auch Vorurteile spielen eine Rolle. Einem Mädchen wird gesellschaftlich eher zugestanden, ruhig zu sein und seinen eigenen Interessen nachzugehen. Zwirbelt es dazu ständig seine Haare, könnte das leicht als vermeintlich weibliche Geste abgetan, statt als autismusbedingte wiederholende Verhaltensweise erkannt zu werden.
Und ist eine erwachsene Frau beispielsweise kommunikativ und zeigt sich emotional, entspricht das den immer noch vorherrschenden geschlechtsspezifischen Annahmen über weibliche Personen. Gleichzeitig widerspricht dieses Verhalten den gängigen Merkmalen von Autismus wie Zurückgezogenheit und einem Mangel an kommunikativen Fähigkeiten – ein doppeltes Hindernis.
Ist eine Frau dagegen schüchtern, introvertiert oder perfektionistisch, wird sie als ruhige oder zurückhaltende, aber gesunde Person gesehen. Der Effekt: Geschlechtsspezifische Vorurteile führen bei Frauen dazu, dass Autismus unerkannt bleibt oder das Umfeld das Leiden nicht wahrnimmt.
Passend zum Thema
Können Frauen die Autismus-Symptome besser verstecken?
Laut Untersuchungen erschwert ein weiteres Phänomen die Autismusdiagnose bei Frauen: Viele Betroffene haben sich über die Jahre hinweg gut an ihr soziales Umfeld angepasst, um nicht negativ aufzufallen und ihre Schwierigkeiten zu kaschieren.
Dabei treten drei Strategien immer wieder auf:
- Kompensation: Es werden bestimmte Verhaltensweisen erlernt und angewendet, um eine „normale“ soziale Interaktion zu ermöglichen.
- Maskierung: Autistische Symptome werden im Alltag vor anderen versteckt, um nicht aufzufallen.
- Assimilation: Verhaltensweisen und Einstellungen anderer werden beobachtet und übernommen, um sich in soziale Situationen einzufügen.
Expertinnen und Experten nennen das Anwenden dieser Strategien „Camouflaging“ – also das bewusste Anpassen an gesellschaftliche Erwartungen. Obwohl es bekannt ist, wird „Camouflaging“ in den aktuellen Tests und diagnostischen Ansätzen nicht ausreichend berücksichtigt und verhindert oft, dass das medizinische oder psychologische Fachpersonal Autismus in Betracht zieht. Für die Betroffenen bedeutet das „Camouflaging“ einen enormen Kraftaufwand und kann bei vielen zu einem erhöhten Stresslevel führen.
Passende Angebote der AOK
Psychotherapie: ambulante Hilfe – das leistet die AOK
Ob Depression, Angststörung oder Zwangserkrankung: Die AOK bietet professionelle Hilfe bei psychischen Erkrankungen und übernimmt die Kosten für eine ambulante Psychotherapie.
Wie erkennt man Autismus bei erwachsenen Frauen?
Wer bei sich selbst Verhaltensweisen bemerkt, die auf Autismus hindeuten könnten, oder sich fragt: „Bin ich betroffen?“, kann zunächst eigenständig aktiv werden. Überprüfen Sie, ob folgende Anzeichen bei Ihnen auftreten:
- Dauerstress oder Überforderung in sozialen Situationen: Das Leben wird als ständige Anpassung an andere wahrgenommen, die emotional und körperlich erschöpft.
- Starke Fokussierung auf Spezialinteressen: Ob es um Literatur, Kunst oder Wissenschaft geht – Betroffene tauchen tief in Themen ein, investieren viel Zeit in diese und bauen Spezialkenntnisse auf.
- Extremer Perfektionismus oder Selbstkritik: Der Wunsch, sich an andere anzupassen und deren Verhaltensweisen zu übernehmen, kann auf „Camouflaging“ hinweisen. Versuche, typische autistische Verhaltensweisen zu kaschieren, können den Perfektionismus verschärfen.
- Schwierigkeiten, nonverbale Signale zu entschlüsseln: Menschen mit Autismus haben Probleme, Mimik und Gestik des Gegenübers zu deuten. Sie merken zwar, wenn etwas nicht stimmt, können dieses Gefühl jedoch häufig nur schwer oder gar nicht einordnen und im Zuge dessen nicht adäquat reagieren.
- Gewohnheiten und Struktur: Menschen mit Autismus haben ein starkes Bedürfnis nach vorhersagbaren Abläufen, gewohnten Strukturen und Ritualen. Fordert jemand Spontanität oder Flexibilität von ihnen, verursacht dies Stress.
- Frühe Auffälligkeiten: Autistische Verhaltensweisen sind bereits in der Kindheit aufgetreten. Eventuell wurden sie durch Familienangehörige bemerkt.
Stellen Sie Anzeichen für Autismus bei sich fest, klären Sie diese gegebenenfalls mit auf Autismus spezialisierten Psychologinnen, Psychologen, Psychiaterinnen oder Psychiatern ab.

© iStock / SDI Productions
Autismus-Diagnose beim Fachpersonal
Bei Verdacht auf Autismus wird der ICD-10 (das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation) zur Diagnostik eingesetzt. Dazu gehören unterschiedliche Tests wie Fragebogen-Befragungen. Allerdings gilt der ICD-10 als veraltet, weil er nur zwischen frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom sowie atypischem Autismus unterscheidet. Eine überarbeitete und erweiterte Version, der ICD-11, ist seit 2022 zwar grundsätzlich anwendbar, allerdings aus lizenzrechtlichen Gründen in Deutsch noch nicht im Einsatz. Wann es endlich so weit sein wird, ist aktuell noch unklar. Die wichtigste Neuerung beim ICD-11: Der ICD-11 erlaubt die übergreifende Diagnose „Autismus-Spektrum-Störung“. Hierfür dürfen nicht mehr ausschließlich soziale und kommunikative Einschränkungen vorliegen, wie es bisher das Fall war. Das könnte ein Vorteil für die ASS-Diagnose bei Frauen sein, da sie ihre sozialen und kommunikativen Einschränkungen oft verbergen. Experten und Expertinnen drängen auf den Einsatz des ICD-11 zur Diagnose, weil der ICD-10 die wachsenden Erkenntnisse der letzten Jahre hinsichtlich des Autismus-Spektrums sowie die Unterschiede zwischen Männern und Frauen nicht mehr abbildet. Wer eine Untersuchung auf Autismus beispielsweise in einem Fachzentrum oder einer psychiatrischen Klinik durchführen lässt, sollte danach fragen, inwieweit die Fachexperten und Fachexpertinnen inhaltliche Kenntnis vom ICD-11 haben und ob die Neuerungen bei der Diagnose berücksichtigt werden können.
Informationen rund um Autismus und Selbsthilfegruppen
Der Bundesverband zur Förderung von Menschen mit Autismus stellt nicht nur Informationen rund um Autismus bereit, sondern auch eine deutschlandweite Karte mit einer Suchfunktion nach Einrichtungen/Therapiezentren, Regionalverbänden etc.
Der Verein autSocial e.V. von Autist*innen für Autist*innen bietet neben Selbsthilfegruppen auch Informationen speziell für Frauen sowie eine Online- und Offline Selbsthilfegruppe für Frauen mit Autismus.