AOK Bremen/Bremerhaven
Zwischen Stolz und Scham
Veröffentlicht am:25.06.2025
5 Minuten Lesedauer
Young Carer - so nennt man Kinder und Jugendliche, die in ihren Familien Pflegeaufgaben übernehmen. Melanie Budde aus Bremen war eine von ihnen. Der Grat zwischen normaler familiäre Unterstützung und Überlastung ist schmal.

© Jens Lehmkühler
Bewusste Entscheidung für Verantwortung
Es war ein ganz normaler Tag. Als Melanie Budde (s. Foto rechts) von der Schule kam, lag ihr Stiefvater auf dem Sofa zum Mittagsschlaf. Die 15-jährige Schülerin dachte sich nichts dabei. Erst als ihre ältere Schwester vom Gassigehen zurückkam, wurden die beiden stutzig. Denn der Familienhund benahm sich merkwürdig. Die Hündin jaulte und stupste den Stiefvater immer wieder an. Erst jetzt fiel auf: Er atmete nicht mehr. Melanies Schwester rief den Rettungsdienst und begann mit der Wiederbelebung. Die Diagnose im Klinikum Bremen-Mitte war dann eindeutig: Kammerflimmern.
Wenn Melanie Budde sich daran erinnert, wird ihr immer noch flau. „Wir hatten ein gutes Verhältnis, das alles hat mich sehr verstört. Ich konnte monatelang nicht zur Schule gehen“, erzählt sie. Erst nach fast einem Jahr kehrte ihr Stiefvater nach Hause zurück – mit Pflegestufe 5. Er wurde über eine Sonde ernährt, war in den Bewegungen stark eingeschränkt und musste das Sprechen neu lernen. Die zwei Schwestern und ihre Mutter kümmerten sich um ihn. Mit 15 Jahren übernahm Melanie Budde viel Verantwortung. „Niemand hat mich gezwungen. Ich habe das bewusst so entschieden“, sagt die heute 24-Jährige.
Zwischen normaler Unterstützung und Überforderung
Melanie Budde ist kein Einzelfall. Schätzungsweise eine halbe Million Kinder und Jugendliche übernehmen in Deutschland Pflegeverantwortung in ihren Familien. Diese Zahl ergibt sich unter anderem aus Befragungen von Schülern, die die Universität Witten/Herdecke im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums für eine Studie durchgeführt hat. Die jungen Pflegenden übernehmen nach einem Schlaganfall des Vaters Verantwortung, bei der fortschreitenden MS-Erkrankung der Mutter, der Behinderung des Bruders oder der Demenz der im Haushalt lebenden Oma. Sie übernehmen Pflegeaufgaben, kaufen ein, kochen, trösten oder unterstützen beim Anziehen und der Körperpflege. Manchmal versorgen sie auch jüngere Geschwister oder füllen Anträge für das Amt oder die Krankenkasse aus.
Birgitt Pfeiffer ist Vorständin des Paritätischen Bremen. Sie engagiert sich auch politisch für die Young Carer und hat bereits mit vielen von ihnen gesprochen. „In der familiären Pflege wird wie selbstverständlich mitgeholfen. Das kann anstrengend oder sogar belastend sein, aber oft ist es eine gute Erfahrung“, berichtet sie. „Pflegende Kinder und Jugendliche lernen in dieser Zeit oft viel und sind stolz darauf, ein tragender Teil der Familie zu sein. Sie sind selbstwirksam.“ Aber der Übergang zwischen normaler familiärer Unterstützung und einer Überforderung sei schleichend.
Wunsch nach Verständnis
Die Erfahrungsberichte zeigen, dass pflegende Jugendliche bei Überbelastung oft mit Rückzug reagieren: vom Freundeskreis, von Freizeitaktivitäten und der Schule. In der Folge lassen Konzentration und Leistung im Unterricht nach, zudem werden die Jugendlichen sozial isoliert. Viele Young Carer wollen nicht, dass eine außenstehende Person Einblick bekommt, manche aus Scham, andere fürchten sich vor dem Jugendamt und den möglichen Konsequenzen für die Familie. Genauso hat es auch Melanie Budde erlebt. Sie traute sich nicht, jemanden nach Hause mitzubringen. „Man macht sich angreifbar“, sagt sie. Viele Freundschaften seien zerbrochen, weil sie sich nicht um sie gekümmert habe. „Ich bin zur Einzelgängerin geworden“, erzählt sie. Sie blieb zu Hause, aus Angst, dass in ihrer Abwesenheit wieder etwas passieren könnte. Von der Schule fühlte sie sich im Stich gelassen, hatte nach langen Fehlzeiten Probleme, trotz guter Noten ein Abschlusszeugnis zu bekommen.
Wege aus der Isolation
Eine, die die Situation von Young Carern gut kennt, ist Claudia Buß (s. Foto links). Sie arbeitet seit vielen Jahren in der Pflege und leitet einen neuen Treff für pflegende Kinder und Jugendliche in Obervieland. Immer am ersten Mittwoch im Monat sitzen im Bürgerhaus in der Alfred-Faust-Straße 4 ein halbes Dutzend Jugendliche beisammen – ein geschützter Rahmen, der ihnen die Möglichkeit gibt, sich mit anderen über ähnliche Erfahrungen auszutauschen. „Für diese jungen Menschen gibt es kaum Angebote. Sie sind unter dem Radar“, kritisiert Buß. Was den jungen Menschen oftmals fehle, sei Anerkennung.
Ähnlich sieht das auch Melanie Budde: „Ich will kein Mitleid, sondern dass man mich ernst nimmt.“ In ihrer Jugend hätte sie sich mehr Unterstützung von der Schule gewünscht: „Lehrkräfte müssten mehr sensibilisiert werden. Und es sollte genug Fortbildungen für Sozialarbeitende und für Pädagoginnen und Pädagogen geben.“ Die 24-Jährige macht derzeit eine Ausbildung zur Pflegefachfrau. Sie bringt viel Erfahrung mit, und „was ich dort lerne, kann ich zu Hause anwenden“. Denn inzwischen versorgen sie und ihre Schwester daheim nun ihre Mutter, die nach mehreren Schlaganfällen pflegebedürftig ist. Die Trauer um den mittlerweile verstorbenen Stiefvater hole alle drei immer wieder ein. „Dann sprechen wir miteinander oder gehen zu dritt ins Café, um rauszukommen.“ Kraft zieht Melanie Budde auch aus der Beziehung zu ihrem Freund. „Nach dem Tod meines Stiefvaters holte er mich aus einem tiefen Loch.“
Autorin: Catrin Frerichs
Weiterführende Links zum Thema
Unterstützung für Young Carer
- In der Bremer Arbeitsgemeinschaft Young Carer wollen Fachleute die Bedingungen der jungen Menschen verbessern und sichtbarer machen. Die AG ist offen für Teilnehmende. Kontakt über Eckhard Lotze, Pflegereferat im Gesundheitsressort Bremen, Telefon 0421/361-2886.
- Pausentaste.de ist eine Plattform des Bundesfamilienministeriums. Dort finden sich Informationen für Betroffene und Eltern sowie Material für Fachkräfte.
- Kinder und Jugendliche können die Hotline des Kinderschutzbundes Nummer gegen Kummer 116110 anwählen. Auch eine Beratung per Mail oder Chat ist möglich.
- Tipps und Erfahrungsberichte gibt es unter echt-unersetzlich.de. Das gemeinnützige und kostenfreie Hilfsangebot für Jugendliche und junge Erwachsene in Berlin wird unter anderem von der AOK gefördert.