AOK Baden-Württemberg
Anosmie: Wenn man sich selbst nicht mehr riechen kann
Veröffentlicht am:04.08.2025
5 Minuten Lesedauer
Was passiert, wenn einer der wichtigsten Sinne einfach verschwindet? Claudia Missel lebt seit vielen Jahren ohne Geruchs- und Geschmackssinn – und kämpft täglich mit den emotionalen Folgen ihrer Anosmie. Ein bewegender Einblick in ihr Leben.

© Stephan Funk
Gerüche haben im Leben der 63-Jährigen immer eine große Rolle gespielt. Ob die Duftnote ihres Parfüms, blühende Obstbäume im Garten, der würzige Zimt der Weihnachtsbäckerei oder Weihrauch in der Kirche, mit ihren Lieblingsdüften waren für Claudia Missel vielfältige Emotionen an schöne Erlebnisse in ihrer Kindheit und Jugend verknüpft, die sie jetzt nur noch schwer erahnen kann.
Über die Jahrzehnte sind ihre Geruchserinnerungen nach und nach komplett verblasst, was die Biberacherin sehr belastet. Auch dass sie nie erfahren wird, wie besonders ihre Enkelkinder als Babys duften, tut der zweifachen Oma „von Herzen weh.“ Durch den fehlenden Geruchs- und Geschmacksinn leidet sie an Schwankungen bei der Wahrnehmung ihrer Umgebung. Das wiederum wirkt sich auf ihre Gefühle aus. Claudia Missel fehlt seit Jahrzehnten die große Lebensfreude. Das macht sich gelegentlich auch an ihrer depressiven Verstimmung bemerkbar.
Schleichender Verlauf
Die Oberschwäbin kann sich noch genau daran erinnern, als sich vor nahezu drei Jahrzehnten die ersten Einschränkungen bei ihr bemerkbar machten. „Meine dritte Tochter war noch ganz klein, als sich mein Geruchs- und Geschmackssinn schleichend immer weiter zurückbildete.“ Lediglich salzig, süß, sauer, bitter und umami kann Claudia Missel noch mit ihrer Zunge unterscheiden, jedoch nicht die feinen Nuancen und Aromen von Lebensmitteln. Bis heute kennt sie nicht den Grund für ihre Beeinträchtigung. Auch verschiedene Ärzte konnten ihr bisher nicht weiterhelfen und machten nur wenig Hoffnung. Oft wird sie gefragt, ob ein Unfall oder ein anderer Anlass der Auslöser für ihren Sinnesverlust war, was sie stets verneint. Da jedoch auch ihre verstorbene Mutter an der gleichen Erkrankung litt, hofft Claudia Missel sehr, dass ihre Töchter davon verschont bleiben.
Schätzungsweise jeder zwanzigste Mensch in Deutschland aus allen Altersgruppen kann nicht mehr riechen, jeder Fünfte leidet an einer Beeinträchtigung des Riechsinns. Gerade in der Corona-Pandemie haben viele Betroffene ihren Geruchssinn verloren, auch Krebserkrankte leiden während der Chemotherapie oftmals unter Geruchs- und Geschmacksverlust. Bei den meisten kehrt er jedoch zurück, andere leiden jedoch dauerhaft unter dem Verlust dieses wichtigen Sinneseindrucks.
Verlässt sich auf andere Sinne
Aus alter Gewohnheit macht Claudia Missel jeden Morgen die Wohnungsfenster weit auf, um die Zimmer zu lüften. Doch schnell folgt die tägliche Ernüchterung, dass sie die verbrauchte Raumluft gar nicht von einer frischen Brise unterscheiden kann. Noch gravierender wirkt sich ihre Erkrankung in der Küche beim Kochen oder Backen aus. Ohne Geruchs- und Geschmackssinn schmeckt das Essen anders oder gar nicht mehr. Daher isst Claudia Missel auch nur, was sie früher schon mochte. „Bei der Nahrungszubereitung habe ich inzwischen ein Augenmaß für die Gewürze oder Kräuter“, erklärt sie. „Nur beim Abschmecken muss ich gelegentlich fremde Hilfe in Anspruch nehmen, ob noch etwas fehlt.“
Als Ausgleich zu ihren fehlenden Sinneswahrnehmungen setzt sie verstärkt auf optische und akustische Anreize. „Für mich ist es wichtig, dass die Mahlzeiten appetitlich aussehen und eine angenehme Konsistenz haben, die Umgebung gemütlich ist und die gesamte Atmosphäre stimmig ist.“
Dass man ohne Geruchssinn auch Gefahren ausgesetzt ist, vor denen man als Riechender geschützt ist, musste Claudia Missel vor einigen Jahren selbst erfahren. Sie vergaß beim Kochen einen Topf auf dem Herd, der kurz vor dem Entflammen stand. Zum Glück ging die Geschichte gut aus. „Anschließend haben wir im gesamten Haus zu Sicherheit Rauchmelder installiert, noch lange bevor es vom Gesetzgeber vorgeschrieben wurde.“
Doch das Riechorgan schlägt nicht nur Alarm bei Rauch und Brand, es warnt auch vor Chemikalien und anderen schädlichen Stoffen sowie verdorbenen Lebensmitteln. Daher fühlt sich Claudia Missel insbesondere in fremder Umgebung oftmals unsicher. „Wenn ich an einem unbekannten Ort bin, fehlen mir vielen Informationen, die man sonst automatisch durch die Nase bekommt.“
Neue Selbsthilfegruppe ist großer Lichtblick
Während ihre Familie großes Verständnis für ihre Beeinträchtigung hat, stößt Claudia Missel bei ihren Mitmenschen oft auf wenig Einfühlungsvermögen, da ihre Anosmie ja weder schmerzhaft noch lebensbedrohlich sei. Auch von der Medizin fühlt sie sich alleine gelassen. „Die Ärzte haben mir jegliche Hoffnung auf eine Therapie genommen.“ Einen Lichtblick sieht sie seit dem Herbst vergangenen Jahres.
Mit der Neugründung einer Selbsthilfegruppe für Menschen mit Geruchs- und Geschmacksverlust aus dem Raum Biberach findet Claudia Missel alle zwei Monate endlich die Unterstützung, die sich ihr halbes Leben gewünscht hat. „Ich genieße es sehr, mich bei den Treffen mit Leidensgenossinnen und -genossen ausgiebig auszutauschen und folge mit großem Interesse den Fachvorträgen, die von unserer engagierten Leiterin organisiert werden.“
Darüber hinaus setzt Claudia Missel ihre ganze Hoffnung nach wie vor auf die Fortschritte in der Medizinforschung und einen durchschlagenden Erfolg bei der Anosmiebehandlung. Ihr größter Wunsch: „Ich möchte erst von dieser Welt gehen, wenn ich vorher noch einmal riechen und schmecken kann.“