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Gehirn & Nerven

Schmerztherapie bei älteren Patienten: Das muss beachtet werden

Veröffentlicht am:12.01.2022

6 Minuten Lesedauer

Patienten im höheren Alter erhalten häufig keine ausreichende Schmerzbehandlung, da ihre Leiden als unvermeidlich angesehen werden. Im Interview erklärt Dr. Klaus Weil welche Rolle das Alter in der Schmerztherapie spielt.

Eine ältere Person mit Schmerzen hat eine Tablettendose in der Hand.

© iStock / FilippoBacci

Porträt von Dr. med. Klaus Weil, Chefarzt der Klinik für Geriatrie und Frührehabilitation des Malteser Krankenhauses St. Franziskus Hospital Flensburg.

© privat

Dr. med. Klaus Weil ist Chefarzt der Klinik für Geriatrie (Altersmedizin) und Frührehabilitation des Malteser Krankenhauses St. Franziskus Hospital Flensburg. Im Interview erklärt er, warum Schmerzen im Alter oft nicht angemessen behandelt werden und wie Angehörige von älteren Schmerzpatienten bei der Schmerzdiagnose und -behandlung unterstützen können.

Schmerzen im Alter: wenn das Leben Spuren hinterlässt

Herr Dr. Weil, warum nehmen Schmerzen im Alter zu?

Dabei handelt es sich um Folgeerscheinungen des Lebens. Vor allem Arthrose und Osteoporose führen zu Schmerzen im Skelettsystem. Ältere sind deswegen häufig von Gelenkschmerzen, Fibromyalgien und Dauerschmerzen betroffen.

Die Schmerzprävalenz schwankt bei über 65-Jährigen je nach Untersuchung zwischen 50 und 86 Prozent. Im Pflegeheim leidet ein hoher Anteil der Bewohner fast täglich an Schmerzen. Im häuslichen Kontext erhält ein Großteil der Schmerzpatienten (bis zu 75 Prozent) keine oder eine unzureichende Schmerztherapie, aber auch in Pflegeheimen gibt es große Defizite.

Wieso werden Schmerzen bei älteren Patienten nicht angemessen behandelt?

Das hat verschiedene Ursachen:

  • Das Umfeld der Betroffenen nimmt die Schmerzen als normal wahr.
  • Auch die Betroffenen selbst denken, es wäre normal, im Alter Schmerzen zu haben.
  • Schmerzpatienten haben Angst, dass bei ihnen eine Krebserkrankung diagnostiziert werden könnte, und sprechen ihre Schmerzen deswegen beim Arzt nicht an.
  • Es bestehen geistige Defizite, die das Kommunizieren über Schmerzen erschweren. Jeder zweite über 65-jährige Patient, der in unsere geriatrische Klinik eingeliefert wird, ist kognitiv eingeschränkt. Fast jeder dritte Patient ist dement.

Die Schmerzempfindlichkeit nimmt im Alter aber nicht ab. Es gilt: „Age is not analgesic“ („das Alter ist nicht schmerzlindernd“). Schmerzen müssen unbedingt diagnostiziert werden, um behandelt werden zu können.

Was macht die Behandlung der Schmerzen so entscheidend?

Nur mit einer adäquaten Schmerztherapie können Mobilität, Funktionalität, Selbstständigkeit und die Teilnahme am sozialen Leben gewährleistet werden.

Mit der Behandlung lässt sich zwar nicht der ursprüngliche Zustand wiederherstellen, aber das Ziel sollte immer sein, die Situation des Patienten zu optimieren. Wenn das nicht passiert, gerät er in einen Teufelskreis. Die Schmerzen führen zu einer Mobilitätseinschränkung, der Patient ist auf Fremdhilfe angewiesen und isoliert sich deswegen sozial. Das hat wiederum Auswirkungen auf die Stimmung. Depressive Zustände führen zu Inaktivität, die die Schmerzen weiter verstärkt.

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Schmerztherapie und Medikation bei Älteren

Wie lässt sich die Schmerztherapie für ältere Menschen verbessern?

Es ist entscheidend, die Wahrnehmung mindestens einmal täglich abzufragen, wie wir das auch hier in unserer geriatrischen Klinik tun. Die Patienten verorten die Intensität ihrer Schmerzen auf einer Skala von eins bis zehn.

Außerdem fragen wir:

  • Wo genau tut es weh?
  • Wann haben die Schmerzen begonnen?
  • Wie fühlen sich die Schmerzen an (zum Beispiel stechend, dumpf, reißend)?
  • Wie war der Verlauf über den Tag?
  • Was waren mögliche Auslöser (zum Beispiel Wetterumschwung, Hitze, Kälte)?

Ob zu Hause, im Pflegeheim oder in der Klinik, es ist sehr hilfreich, ein Schmerztagebuch zu führen, in dem diese Angaben täglich notiert werden. Dabei können Angehörige unterstützen. Fremdangaben sind für die Anamnese (Krankengeschichte) ebenfalls wichtig. Der Arzt kann anhand des Tagebuchs sinnvoller dosieren und Schmerzmedikamente an die Tageszeit und den Schmerzverlauf anpassen.

Angehörige können auch dann eine große Hilfe sein, wenn Patienten kognitiv oder kommunikativ eingeschränkt sind. Über die Mimik und Gestik des Schmerzpatienten lässt sich die Schmerzsituation beurteilen. Unruhiges Verhalten kann beispielsweise bei demenziell Betroffenen auf Schmerzen hindeuten. Wenn bei einer dementen Person eine Verhaltensauffälligkeit auftritt, ist das kein böser Wille. Die Ursache ist häufig ein Schmerz, den derjenige aber nicht kommunizieren kann.

Welche weiteren Schwierigkeiten treten bei der Schmerztherapie Älterer auf?

  • Die Compliance (Einnahmezuverlässigkeit) ist eingeschränkt: Viele Ältere tun sich schwer, Tabletten aus der Verpackung zu drücken oder sie zu teilen, da ihre feinmotorischen Fähigkeiten nachlassen. Hinzu kommt, dass die Beschriftung oft zu klein und daher nicht altersgerecht ist. Um die Compliance zu verbessern, ist ein gutes Arzt-Patienten-Verhältnis wichtig. Der Arzt sollte erfragen, wie die Selbstmedikation funktioniert, und Angehörige miteinbinden. Viele Ältere sind im Alltag selbstständig, leben alleine, gehen einkaufen, aber sie schaffen es nicht, Medikamente richtig einzunehmen. Auch ein ambulanter Pflegedienst kann dabei unterstützen.
  • Es besteht die Möglichkeit einer Übermedikation: Ein großes Problem ist außerdem die „Over-the-counter“-Medikation. Patienten wenden sich meist im ersten Schritt an die Apotheke, um Schmerzmittel zu erhalten. Die Arztpraxis ist erst der zweite Schritt. Wenn der Arzt nicht weiß, welche Medikamente der Patient bereits einnimmt oder was von anderen Ärzten bereits verschrieben wurde, ist die Gefahr hoch, dass zu viele Medikamente gleichzeitig eingenommen werden. Vor allem dann, wenn neben den Schmerzen noch andere Erkrankungen bestehen, die medikamentös behandelt werden.
Ein älterer Mann nimmt eine Tablette gegen seine Schmerzen ein.

© iStock / Ridofranz

Für Senioren ist es besonders wichtig, die Tabletten richtig einzunehmen – um eine Über- oder Untermedikation zu vermeiden. Ein Pflegedienst oder die Angehörigen können dabei im Alltag unterstützen.

Warum können diese Schwierigkeiten so gefährlich sein?

Ältere Patienten haben eine eingeschränkte Nieren- und Leberfunktion. Ab 40 Jahren nimmt die Nierenfunktion stetig ab. Ein 80-Jähriger hat nur noch halb funktionierende Nieren. Auch bei der Leber verhält sich das ähnlich.

Jede dritte unerwünschte Nebenwirkung geht auf eine eingeschränkte Nierenfunktion und deren Nichtbeachtung zurück. Bei älteren Patienten gilt deswegen: Eher weniger Medikamente als mehr. Mit der Anzahl der verabreichten Medikamente steigt auch die Anzahl der möglichen Nebenwirkungen. Fünf Medikamente sind die kritische Grenze. Die Wahrscheinlichkeit, dass unerwünschte Nebenwirkungen auftreten, steigt von 3 auf 25 Prozent, wenn mehr als 5 Medikamente eingenommen werden. Außerdem gilt: „Start low, go slow“. Die Dosierung sollte bei Älteren zu Beginn niedrig angesetzt und vorsichtig gesteigert werden. In der Regel beginnt man mit einem Drittel der sonst üblichen Dosis.

Erhalten ältere Patienten die gleichen Schmerzmittel wie jüngere?

Es werden wie bei jüngeren Patienten nach dem Stufenschema der Weltgesundheitsorganisation (WHO) entweder Nicht-Opioide, schwächere oder stärkere Opioide verabreicht.

Die rezeptfrei erhältlichen nicht-steroidalen Antirheumatika (NSAR) der ersten Stufe (Nicht-Opioide) wie etwa Ibuprofen, Acetylsalicylsäure (ASS) oder Diclofenac führen zu einer reduzierten Schleimproduktion im Bereich des Magen-Darm-Traktes. In der Folge können Magengeschwüre entstehen. Hinzu kommt eine Verschlechterung einer häufig bereits eingeschränkten Nierenfunktion bei Älteren. Werden die Mittel über längere Zeit verabreicht, kann es passieren, dass der Patient daraufhin im Extremfall dialysepflichtig wird. Außerdem nehmen viele Ältere Gerinnungshemmer ein, sie müssen vor Thrombosen und Lungenembolien geschützt werden.

Ältere Menschen kann man als sehr instabile Systeme beschreiben, Medikamente müssen in ihrer Dosis stark reduziert werden. Es sollte nur ein Drittel der üblichen Dosis verabreicht werden. Das kann Krankenhausaufenthalte reduzieren. Dafür ist es entscheidend, dass Medikamente nur unter ärztlicher Kontrolle eingenommen werden und die Magen-, Leber- und Nierenfunktion regelmäßig überprüft wird.

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Sollte die Schmerzbehandlung nur auf der medikamentösen Therapie beruhen?

Nein, das sollte sie nicht. Es gibt ein breites Spektrum an Möglichkeiten, nicht-medikamentös zu therapieren. Krankengymnastik und physikalische Therapieverfahren wie Elektrotherapie, Wärmetherapie oder Ultraschall können Schmerzen sehr erfolgreich lindern.

Auch die psychologische Komponente spielt eine große Rolle. Besonders chronische Rückenschmerzen haben sehr häufig eine starke psychosomatische Begleitkomponente. Entspannungsverfahren unterstützen dabei, die Aufmerksamkeit weg von den Schmerzen hin zu positiven Dingen zu verlagern, und können Schmerzen so deutlich lindern. Je breiter der therapeutische Ansatz, desto größer ist auch der Therapieerfolg.

An wen sollte ich mich als Schmerzpatient oder als Angehöriger wenden?

Schmerzpatienten brauchen ein Netzwerk, dessen Koordinator der Hausarzt sein sollte. Bei ihm laufen alle Befunde zusammen, außerdem kennt er den Patienten am längsten und besten. Er kann einen Schmerzmediziner, Physiotherapeuten und Psychologen empfehlen. Auch im stationären und teilstationären Bereich ist es entscheidend, dass der Patient von einem interdisziplinären Schmerzteam versorgt wird.

Entscheidend ist die Erkenntnis: Schmerzen oder auch eine eingeschränkte Kognition gehören nicht zum Alter dazu. Beides muss behandelt werden.

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