Selbsthilfe-Fachtagung 2023/2024: Hilfe für helfende Hände
Beim Förderverfahren für die Selbsthilfe pflegender Angehöriger hakt es: Auch über zehn Jahre nach seiner Einführung im Elften Sozialgesetzbuch (SGB XI) kommen große Teile der gesetzlich festgelegten Fördersumme nicht bei der Selbsthilfe an. Auf der Selbsthilfe-Fachtagung des AOK-Bundesverbandes diskutierte die Gesundheitskasse mit rund 100 Tagungsteilnehmenden sowie Expertinnen und Experten aus der Selbsthilfe über Ursachen und mögliche Konsequenzen.
Anja Schödwell von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen Viele Kranke und ihre Angehörigen engagieren sich in Selbsthilfegruppen, um Unterstützung bei der… (DAG SHG) verdeutlichte zu Beginn der Tagung die Dimensionen des Problems: „Von insgesamt bis zu 12,41 Millionen Euro, die allein die Pflegekassen 2022 für die Förderung zur Verfügung hätten stellen können, konnten letztlich nur 4,49 Millionen Euro für die Selbsthilfeförderung ausgegeben werden. Das sind gerade mal 36 Prozent." Dabei sei der Abruf der Fördermittel von Bundesland zu Bundesland extrem unterschiedlich. Während in Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg und Sachsen-Anhalt die Förderquote bei mehr als 70 Prozent liege, gebe es acht Bundesländer, in denen weniger als 15 Prozent der zur Verfügung stehenden Mittel tatsächlich verteilt worden seien.
Zuvor hatte zum Auftakt der Fachtagung „Hilfe für helfende Hände“ Dr. Sabine Richard, Geschäftsführerin Versorgung des AOK Die AOK hat mit mehr als 20,9 Millionen Mitgliedern (Stand November 2021) als zweistärkste Kassenart… -Bundesverbandes, deutlich gemacht: „Das Engagement der pflegenden Angehörigen kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Ohne sie würde unsere Pflegeversorgung in Deutschland zusammenbrechen.“ 84 Prozent der fast fünf Millionen pflegebedürftigen Menschen würden zuhause gepflegt, so Richard. Bei drei Vierteln dieser ambulant Gepflegten (3,12 Millionen) seien es zudem – mehr oder weniger ausschließlich – An- und Zugehörige, die ihre Pflege Kann die häusliche Pflege nicht im erforderlichen Umfang erbracht werden, besteht Anspruch auf… übernähmen.
Schödwell untermauerte diese Einschätzung mit einer Berechnung des Sozialverbandes VDK: Ohne pflegende Angehörige würden demzufolge in Deutschland rund 3,2 Millionen mehr Pflegekräfte gebraucht. Deren Lohnkosten würden das Pflegesystem mit bis zu 145 Milliarden Euro jährlich belasten. Angesichts solcher Kosten wäre das Gesundheits- und Sorgesystem ohne pflegende Angehörige nicht überlebensfähig, so Schödwell.
Hohe Bereitschaft für die Pflege von Angehörigen
Irmelind Kirchner, Referentin Pflege im AOK-Bundesverband, stellte die verschiedenen Unterstützungsmöglichkeiten vor, die die AOK pflegenden Angehörigen – auch außerhalb der Pflege-Selbsthilfe – anbietet. „Die Unterstützung der professionellen Pflege durch Angehörige, Freunde oder Nachbarn ist ein Grundpfeiler der sozialen Pflegeversicherung“, betonte Kirchner. Aktuelle Studien zeigten, dass in der Bevölkerung weiterhin eine hohe Bereitschaft für die Pflege von Angehörigen vorhanden sei. Die Pflegeversicherung Die Pflegeversicherung wurde 1995 als fünfte Säule der Sozialversicherung eingeführt. Ihre Aufgabe… unterstütze dieses gesellschaftlich wichtige Engagement, so die AOK-Pflegereferentin weiter, mit diversen Hilfsangeboten. Mit der Antragstellung auf Leistungen aus der Pflegeversicherung hätten zudem nicht nur die pflegebedürftigen Versicherten selbst, sondern auch ihre Angehörigen Anspruch auf eine Pflegeberatung Bei der Pflegeberatung handelt es sich um eine individuelle Beratung und Hilfestellung durch eine… . Die AOK biete mit dem kostenlosen AOK-Familiencoach Pflege zudem ein wissenschaftlich entwickeltes Onlineprogramm, das pflegenden Angehörigen Hilfe zur Selbsthilfe biete.
Gerriet Schröder, Leiter Prävention Prävention bezeichnet gesundheitspolitische Strategien und Maßnahmen, die darauf abzielen,… der AOK Sachsen-Anhalt und dort verantwortlich für die Selbsthilfeförderung sowohl der gesundheitlichen Selbsthilfe als auch der Pflege-Selbsthilfe, verdeutlichte ein zentrales Problem: „Wenn wir als Krankenkasse Ende des Jahres die Förderanträge der gesundheitlichen Selbsthilfe nach dem Fünften Sozialgesetzbuch Das Sozialgesetzbuch (SGB) fasst die wichtigsten Sozialgesetze zusammen und soll „zur Verwirklichung… bekommen, ist das Geld allerspätestens im Mai ausbezahlt. Bei den Anträgen der Selbsthilfe für pflegende Angehörige ist das Verfahren aber dermaßen kompliziert, dass die Gruppen ihre Fördergelder oft erst nach zwölf Monaten ausgezahlt bekommen.“ Anders als bei der Selbsthilfeförderung aus Mitteln der GKV habe sich beim Förderverfahren in der Pflegeversicherung kein effizientes Vorgehen zur Vergabe der Fördermittel etablieren können. Dies hänge vor allem damit zusammen, dass hier die Förderentscheidung primär beim Land oder der Kommune liege und der Antragsweg in einem mehrstufigen Verfahren extrem bürokratisch aufgebaut sei. In der gesundheitlichen Selbsthilfe sei es hingegen so, dass die Förderentscheidung allein bei der Krankenkasse liege und die Kommunen – als freiwillige Leistung – Gelder des Landes an die Kontaktstellen für gesundheitliche Selbsthilfe weiterreichen könnten. „Wenn dies in der gesundheitlichen Selbsthilfe möglich ist, sollte das doch auch in der Förderung der Selbsthilfe für pflegende Angehörige machbar sein“, formulierte Schröder einen Lösungsvorschlag.
Angehörige sind für Menschen mit Demenz ein unverzichtbarer Anker
Aus der Praxis berichtete Saskia Weiß, Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer Gesellschaft, etwa von den Besonderheiten für Pflegende, wenn ihre Angehörigen von Demenz betroffen sind. Immerhin 1,8 Millionen Betroffene gibt es in Deutschland. „Für die von Demenz Betroffenen sind die Angehörigen von allergrößter Bedeutung. Sie sind der Anker, geben Sicherheit in einer Lebenssituation, in der sich nichts mehr sicher anfühlt“, so Weiß. Für die pflegenden Angehörigen komme zu den üblichen sozialen, familiären und beruflichen Belastungen eine besondere psychische Komponente hinzu: Eine früher gleichberechtigte Partnerschaft bekomme durch die Pflege des Gatten oder der Gattin eine Schieflage, pflegende Kinder müssten plötzlich eine Art Elternrolle einnehmen. Dieser Rollenwechsel führe häufig zu Konflikten, so Weiß.
Domenique Geiseler, Vorsitzende des Vereins Intensivkinder, erzählte von den Herausforderungen für Familien, die ein Kind zu Hause betreuen, das auf außerklinische Intensivpflege angewiesen ist. „Wir schätzen, dass von rund 20.000 Beatmungspatienten in Deutschland ein Viertel Kinder sind“, so Geiseler. Der Zugang zum Hilfesystem sei extrem komplex, da gesetzliche Leistungen in verschiedenen Sozialgesetzbüchern verankert sind, die sich zudem noch teilweise gegenseitig ausschlössen. Gerade bei einem so komplexen Sozialrecht sind Selbsthilfegruppen und das dort gesammelte Wissen extrem hilfreich.
Wir-Gefühl im interkulturellen Netzwerk
Derya Karataş, Gründerin des interkulturellen Netzwerks Orançengold, berichtete von ihren eigenen Erfahrungen als pflegende Angehörige. „Wir wollen pflegende Angehörige, vor allem auch solche mit Migrationshintergrund, aktiv unterstützen und ihnen dabei helfen, ihre eigene Gesundheit nicht aus dem Blick zu verlieren“, so Karataş. Ziel des Netzwerks sei es, ein Wir-Gefühl zu entwickeln und die Isolation der pflegenden Angehörigen zu beenden.
In der abschließenden Podiumsdiskussion fasste Harold Engel, Leiter der Pflegeabteilung im AOK-Bundesverband, die Ergebnisse der Tagung zusammen : So wie in der Förderung der gesundheitlichen Selbsthilfe müsste auch beim Förderverfahren nach dem elften Sozialgesetzbuch die Sozialversicherung Die Sozialversicherung in ihrer heutigen Form geht auf die "Kaiserliche Botschaft" von 1881 und die… das Zepter in die Hand bekommen – immerhin zahlten die Pflegekassen 75 Prozent der Fördersumme. „Das gesamte Förderverfahren müsste schlicht und ergreifend der Sozialversicherung übertragen werden, das Land oder die Kommune sollten ihren 25 Prozent-Anteil der Pflegeversicherung überweisen“, so Engel. Ein Lösungsvorschlag, der von der Selbsthilfe positiv aufgenommen wurde: „Ich glaube, dass wir damit tatsächlich das Problem lösen könnten“, zeigte sich Anja Schödwell von der DAG SHG begeistert.
Für Claudia Schick, Selbsthilfereferentin im AOK-Bundesverband und Organisatorin der Veranstaltung, war eine weitere wichtige Erkenntnis der Tagung, dass das Angebot der Selbsthilfe für pflegende Angehörige in der gesundheitlichen Selbsthilfe noch bekannter gemacht werden müsse. Die AOK werde sich zudem auf politischer Ebene dafür einsetzen, die Förderung von Selbsthilfeangeboten für pflegende Angehörige zu verbessern. Schick: „Es ist nicht immer leicht, solche Änderungen im Gesundheitswesen Das Gesundheitswesen umfasst alle Einrichtungen, die die Gesundheit der Bevölkerung erhalten,… durchzusetzen, aber ich bin bereit, meinen Teil dazu beizutragen."