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Das doppelte Leiden schwerkranker Kinder

19.04.2024 Thorsten Severin 4 Min. Lesedauer

Ängste, verminderte Belastbarkeit, Muskelschwäche: Viele Kinder sind nach dem Aufenthalt auf der Intensivstation von hartnäckigen körperlichen, kognitiven und psychischen Beschwerden betroffen. Experten sprechen vom „Post Intensive Care Syndrom" (PICS). Die Forschung richtet ihr Augenmerk dabei jedoch meist auf erwachsene Patienten. Wissenschaftler in Baden-Württemberg wollen das ändern.

Nach einer kritischen Erkrankung und intensivmedizinischen Behandlung treten bei bis zu 73 Prozent der Kinder kognitive Einschränkungen auf.

Rund 38.000 Kinder werden in Deutschland pro Jahr intensivmedizinisch behandelt. Die meisten müssen wegen angeborener oder erworbener Krankheiten operiert werden – von Tumoren bis hin zu Herzfehlern oder Fehlbildungen. Bis zu 98 Prozent von ihnen überleben ihre schwere Erkrankung und die belastende medizinische Behandlung. Doch gerade dann, wenn die Betroffenen und ihre Familien auf ein besseres Leben hoffen, schlägt in vielen Fällen PICS zu. Der Anteil der Kinder, die nach der Intensivstation unter dem Syndrom litten, sei viel größer als bisher angenommen, so Dr. Felix Neunhoeffer, Oberarzt am Universitätsklinikum Tübingen. „Bis zu 60 Prozent der pädiatrischen Intensivpatientinnen und -patienten entwickeln eine neu erworbene Funktionsverschlechterung als direkte Folge der Intensivbehandlung." Nach sechs Monaten litten immer noch 64 Prozent von diesen unter PICS-Symptomen. Und bis zu 20 Prozent seien auch ein bis zwei Jahre nach der Entlassung noch von Einschränkungen betroffen, so der Experte für Kinder-Intensivmedizin.

Körperliche, soziale und kognitive Beeinträchtigungen am häufigsten

Am häufigsten kommen bei Mädchen und Jungen körperliche Einschränkungen sowie soziale und kognitive Beeinträchtigungen vor. Nicht zuletzt ist die Lebensqualität stark vermindert. „Die körperliche Funktionsfähigkeit bleibt oft hinter der Erholung in anderen Bereichen zurück", sagt Neunhoeffer. „Und in Untersuchungen zur Lebensqualität blieb das soziale Wohlbefinden hinter der Erholung des psychischen Wohlbefindens zurück." Die betroffenen Kinder berichteten über Ängste, Konzentrations- und Schlafstörungen, Veränderungen in Freundschaften und über ein gestörtes Selbstvertrauen.

Kognitive Einschränkungen nach einer kritischen Erkrankung treten laut Experte Neunhoeffer bei bis zu 73 Prozent der Kinder auf und sind besonders relevant für das sich in der Entwicklung befindende Gehirn. „Die kognitiven Defizite können unterschiedlich stark ausgeprägt sein und reichen von einem niedrigeren IQ bis hin zu schweren Defiziten bei Aufmerksamkeit und Gedächtnis. Diese Defizite können über Jahre hinweg fortdauern und sich im Laufe der Zeit sogar verschlimmern." 35 bis 62 Prozent der kritisch kranken Kinder leiden unter posttraumatischem Stress, sieben bis zwölf Prozent unter depressiven Symptomen. 33 Prozent erinnern sich an wahnhaftes Erleben, und bei 20 Prozent besteht laut dem Kinder- und Jugendmediziner das Risiko, eine psychiatrische Störung wie Hyperaktivität oder Verhaltensstörungen zu entwickeln. „All diese Probleme erschweren die Reintegration in das häusliche Umfeld, die Schule und in das soziale Umfeld."

Bedeutende Wachstums- und Reifungsprozesse werden gestört

Ein bedeutender Unterschied zu den erwachsenen Betroffenen sei, dass bei Kindern kritische Erkrankungen nahezu immer mit bedeutenden Wachstums-, Reifungs- und Entwicklungsphasen zusammenfielen, mit relevanten Auswirkungen auf die körperliche, kognitive und emotionale Entwicklung", beschreibt Neunhoeffer. Ein krankes Kind benötige daher ein intaktes, funktionierendes und seinen Bedürfnissen angepasstes familiäres Umfeld. Eine neue Erkenntnis sei zudem: Kinderintensivmedizin kann nur im multiprofessionellen Team praktiziert werden."

Diese Erkenntnis beherzigt das Projekt „NoPICS-Kids", das in den nächsten Jahren weitere wichtige Erkenntnisse bringen soll. „Das Ziel unseres interprofessionellen Teams ist es, ein familienzentriertes humanes Intensiv-Behandlungskonzept zu erarbeiten und umzusetzen, um die Behandlung und Prognose kritisch kranker Kinder nachhaltig zu verbessern", bringt es Neunhoeffer auf den Punkt.

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Projekt erprobt neuartiges Behandlungskonzept

Gefördert wird das Projekt seit Oktober 2023 vom Innovationsfonds des Gemeinsamen Bundesausschusses. In den ersten Monaten wurde nach der Auswertung wissenschaftlicher Literatur zunächst ein neuartiges Behandlungskonzept entwickelt. In der Kooperation von vier Universitätskinderkliniken in Baden-Württemberg steht als nächstes eine große Studie an, bei der das Konzept umgesetzt und seine Wirksamkeit erforscht werden soll.  Ziel ist es nicht nur, die mittel- bis langfristigen Folgen der Intensivstation zu reduzieren, sondern auch die kurzfristigen „Outcomes" zu verbessern. Eine kürzere Aufenthaltsdauer, eine geringere Beatmungszeit und die Verhinderung von Deliren etwa wirken sich in der Regel positiv aus, wenn es darum geht, Langzeitfolgen zu verhindern oder zu minimieren. Die Förderung von NoPICS-Kids" läuft bis Ende 2027. Beteiligt sein werden bis dahin rund 1.650 Kinder und ihre Familien auf sechs Kinderintensivstationen.

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