Artikel Prävention

Recht: Kliniken müssen Patienten vor Stürzen schützen

20.03.2024 Anja Mertens 5 Min. Lesedauer

Krankenhäuser haben Vorkehrungen zu treffen, damit Patienten nicht stürzen. Tun sie das nicht, kann ein Anspruch auf Entschädigung bestehen.

Symbolbild eines Paragraphenzeichen, das auf einem geöffneten Buch steht

Beschluss vom 14. November 2023

– VI ZR 244/21 –
Bundesgerichtshof

Wenn Patienten im Krankenhaus fallen und dadurch einen gesundheitlichen Schaden erleiden, ist oft umstritten, ob der Sturz auf Pflichtverletzungen der Klinik beruht und diese dafür haftet. So auch im Fall einer damals 66-jährigen Frau, die am 10. Dezember 2008 eine Knieendoprothese links erhielt. Nach der Operation litt sie an Verwirrtheit und Unruhe, sodass sie zur Sicherheit nachts auf die Intensivstation kam.
 
Am 13. Dezember morgens verlegte man sie mit „extrem hohen Sturzrisiko“ in ihr Stationszimmer zurück. Vormittags stürzte sie beim Transfer auf den Toilettenstuhl, verletzte sich dabei aber nicht. In der Pflegedokumentation war vermerkt, dass die Frau gegen 10.30 Uhr geistig aufklarte und Abläufe sowie Personen wieder richtig einordnete. Nachdem man ihr das Mittagessen neben das Bett auf den Nachttisch stellte, stürzte sie bei dem Versuch, an das Essen heranzukommen, von der Bett­kante auf den Boden. Dabei erlitt sie am linken Unterschenkel mehrere Brüche, die operiert werden mussten. Wegen Komplikationen wurde im Jahr 2010 der linke Unterschenkel und nach einem weiteren Sturz der linke Oberschenkel amputiert. Schließlich verstarb sie.

Schadenersatz gefordert

Foto einer Frau im Nachthemd mti Gehstütze, die eine Tür öffnet
Sturzrisiken zu beseitigen gehört zu den Aufgaben von Krankenhäusern.

Die Erben der Frau forderten von dem Krankenhausträger aus übergegangenem Recht Schadenersatz. Beim Mittagessen seien grob behandlungsfehlerhaft notwendige Schutz- und Obhutsmaßnahmen unterlassen worden. Auch sei die Patientin nicht darüber aufgeklärt worden, dass sie sich nicht allein mobilisieren dürfe.

Die Kläger unterlagen jedoch in erster und zweiter Instanz. Das Oberlandesgericht verneinte Ansprüche auf Schadenersatz. Ein haftungsbegründender Behandlungsfehler könne nicht fest­gestellt werden. Die Kläger hätten einen Pflegefehler nicht schlüssig dargelegt. Zwar sei grundsätzlich von einer Schutz- und Obhutspflicht des Krankenhausträgers zum Vermeiden von Stürzen auszugehen, wenn aufgrund der konkreten Situation eine Sturz­gefahr bestehe. Allerdings seien die Schutz- und Obhutspflicht auf die in einer entsprechenden Situation üb­lichen Maßnahmen begrenzt und müssten mit einem vernünftigen finanziellen und perso­nellen Aufwand realisierbar sein. Es ­könne nicht festgestellt werden, dass der Klinikträger die erforder­lichen Maßnahmen pflichtwidrig unterlassen habe. Auch be­stehe kein Anlass, ein internistisch/­geriatrisches beziehungsweise pflegewissenschaftliches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Zustand der Patientin besondere Schutz- oder Pflegemaßnahmen erfordert hätte.

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Pflegefehler dargelegt

Daraufhin legten die Kläger Nichtzulassungsbeschwerde beim Bundesgerichtshof ein und hatten Erfolg damit. Die obersten Zivilrichter hoben die Entscheidung des Berufungsgerichts auf und wiesen den Rechtsstreit an die Vorinstanz zurück. Zwar sei sie zutreffend davon ausgegangen, dass der Krankenhausträger zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Patienten verpflichtet sei und die dafür notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen treffen müsse, um einen Sturz zu verhindern. Der Bundesgerichtshof teilte jedoch nicht die Auf­fassung des Berufungsgerichts, die Kläger hätten einen Pflege­fehler nicht schlüssig dargelegt und dass trotz des noch am Vormittag gegebenen Verwirrtheits- und Unruhezustands der Patientin keine besonderen Schutzmaßnahmen beim Mittagessen erforderlich gewesen wären. Die Kläger hätten dargelegt, dass das bloße Abstellen des Essens auf dem Nachttisch ohne jede Hilfestellung angesichts des Zustands der Frau ein grober Pflegefehler sei und dass die Patientin weder die Situation noch die Gefahren habe richtig erkennen können. Mittags sei mit kognitiven und körper­lichen Defi­ziten zu rechnen gewesen. Dennoch habe die Pflegekraft das Mittagessen kommentarlos auf den Nachttisch gestellt, sich aus dem Zimmer entfernt und es der Patientin überlassen, die Mahlzeit irgendwie einzunehmen. Ge­rade dadurch habe ein besonderes Sturzrisiko bestanden. Dies habe das Oberlandesgericht nicht zur Kenntnis genommen.

„Das Oberlandesgericht durfte mangels eigener Sachkunde nicht selbst bewerten, ob und welche Vorkehrungen vor dem Sturz erforderlich waren. Es muss nun ein Expertengutachten einholen.“

Anja Mertens

Rechtsanwältin im Justiziariat des AOK-Bundesverbandes

Kein Gutachten eingeholt

Zudem sei es ohne eigene medizinische und pflegewissenschaftliche Sachkunde davon ausgegangen, dass das erhöhte Sturzrisiko zum Zeitpunkt des Sturzes nicht mehr bestanden habe. Ob im Hinblick auf das bestehende Gefährdungspotenzial zum Zeitpunkt des Sturzes zusätzliche Maß­nahmen im Zusammenhang mit dem Mittagessen erforderlich gewesen seien – und wenn ja, welche – ließe sich ohne medizinische und pflege­wissenschaftliche Sach­kunde nicht beantworten. Es sei nicht auszuschließen, dass das Oberlandesgericht zu einer anderen Beurteilung gelangt wäre, wenn es das von den Klägern beantragte Sachverständigengut­achten eingeholt hätte.

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