Station machen in Geislingen

Zum Jahresende schließt die Helfenstein Klinik in Geislingen. Um das medizinische Angebot in der Region sicherzustellen, startet die AOK Baden-Württemberg mit den Alb-Fils-Kliniken und der Kreisärzteschaft Göppingen ein ungewöhnliches Modellprojekt.

Landrat Edgar Wolff ist in doppelter Verantwortung.

Plötzlich kochen die Emotionen hoch an diesem Freitagnachmittag im Hohenstaufen-Saal des Göppinger Landratsamtes. „Tagesordnungspunkt zwei“, sagt Landrat Edgar Wolff, „Neues aus den Kliniken“. Neben ihm sitzt Ingo Hüttner, promovierter Arzt und medizinischer Geschäftsführer der Alb-Fils-Kliniken. Hüttner wirft Folien an die Wand; Zahlen, Statistiken Stichpunkte. Dann schaltet er den Projektor aus und die Abgeordneten schalten sich ein. „Wir unterhalten uns hier über Probleme, die wir vor zwei Jahren selbst geschaffen haben“, sagt ein parteiloser Kreisrat. Ein Vertreter der Linken beklagt die „Ökonomisierung des Gesundheitswesens“, worauf ein CDU-Mann stöhnt: „Nicht schon wieder.“ Landrat Wolff sagt: „Es ist wichtig, auch mal für positive Stimmung zu sorgen.“ Doch davon sind die Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker in diesem Augenblick weiter entfernt als vom dritten Tagesordnungspunkt. Ingo Hüttner hatte Schwierigkeiten vorausgesehen. „Es gibt weiterhin Bevölkerungsteile, die den Beschluss infrage stellen“, sagte er wenige Stunden zuvor beim Gespräch in seinem Büro.

Der Beschluss fiel an einem Freitag im Mai 2021. Seinerzeit votierte eine Mehrheit der Göppinger Kreisräte dafür, die Helfenstein Klinik im knapp 20 Kilometer entfernten Geislingen zu schließen. Vor allem im Oberen Filstal fürchten Menschen seitdem um ihre medizinische Versorgung. Mehr als hundert Jahre lang wurde in Geislingen reanimiert, diagnostiziert, operiert. Bis heute attestieren Experten dem Haus einen ausgezeichneten Ruf. Andererseits sinken Patientenzahlen, fehlen Fachkräfte, sind Bilanzen defizitär. Kein Einzelfall. Einer Umfrage der Baden-Württembergischen Krankenhausgesellschaft (BWKG) zufolge erwarten die Kliniken im Bundesland 2023 ein Defizit von rund 800 Millionen Euro.

„Es geht darum, eine zukunftsweisende ambulante Versorgung in Geislingen zu etablieren.“

Edgar Wolff

Landrat Landkreis Göppingen und Aufsichtsratsvorsitzender der Alb-Fils-Kliniken

Für den Weg nach vorn

Ende des Jahres soll hier Leben einkehren.

An diesem Freitag stimmen die Kreisräte über eine Umbenennung ab – die Helfenstein Klinik soll sich in ein „Gesundheitszentrum Helfenstein“ verwandeln. „Wir brauchen einen neuen Namen für den Weg nach vorn“, sagt Landrat Wolff und die Kreisrätinnen und Kreisräte folgen seinem Vorschlag. Ende des Jahres wird das Spital zur Ambulanz. Welche medizinischen Leistungen diese bietet, wissen in diesem Moment nur wenige Leute im Saal. Zweieinhalb Stunden dauert die Diskussion nun schon. Jetzt will Ingo Hüttner noch eine Neuigkeit verkünden. Er beugt sich zum Mikrofon und sagt: „Wir entwickeln derzeit ein Modellprojekt mit einer kurzstationären Einheit in Geislingen.“ Einige Abgeordnete fragen nach. Was genau sei denn geplant? Hüttner sagt: „Mehr dürfen wir derzeit aufgrund von Vereinbarungen mit den Kooperationspartnern nicht sagen.“

Ambulanz als Modellprojekt

Partner für die neue Versorgungsform: Dr. Ingo Hüttner (Alb-Fils-Klinken) und Janice Weber mit Andreas Fischer (AOK).

Zwei Tage zuvor in Geislingen: Hartmut Hippich eilt durch das Foyer der Helfenstein Klinik, vorbei an Cafeteria und Empfangstresen, stoppt er schließlich vor einer verschlossenen Glastür. Dahinter verbirgt sich die Zukunft. Hippich bittet herein. Die Zukunft besteht aus einem langen Flur, drei Zimmern und vier Betten. Darüber hängen Monitore zur Analyse von Vitaldaten. Hier soll das Modellprojekt starten. „Kurzstationäre Allgemeinmedizinische Versorgung“ (KAV) lautet der sperrige Name. Hartmut Hippich, examinierter Intensivpfleger und Standortkoordinator in Geislingen, erklärt das Konzept an einem Beispiel.

Ein Mensch im Pflegeheim ist dehydriert, benötigt eine Infusion. Möglichkeit eins: Die Hausärztin besucht ihren Patienten im Heim, sorgt dort für Flüssigkeitszufuhr – falls sie Zeit dafür findet. Eher unwahrscheinlich. Im Landkreis Göppingen sind 24 Hausarztstellen unbesetzt, Tendenz steigend. Bleibt Variante zwei: Einlieferung in die Notaufnahme einer Klinik. Das bedeutet oft Warten. Erst auf einen Arzt, dann auf Untersuchungsergebnisse, später auf ein Zimmer, um noch später eventuell in ein anderes Zimmer verlegt zu werden.

Künftig soll es so funktionieren: Erkennt die Hausärztin einen Flüssigkeitsmangel, überweist sie den Betroffenen auf die neue Kurzliegestation, wo dieser an einen Tropf angeschlossen und überwacht wird. Nach spätestens drei Tagen entscheidet ein Arzt, ob der Patient nach Hause kann oder doch noch in eine Klinik verlegt wird. „Manche Patienten können ambulant nicht ausreichend versorgt, müssen aber auch nicht vollstationär behandelt werden. Diese Versorgungslücke wollen wir schließen“, sagt Janice Weber, stellvertretende Geschäftsführerin der AOK-Bezirksdirektion Neckar-Fils. Jörg Stede, der das Projekt seitens der AOK-Hauptverwaltung betreut, bekräftigt: „Die geplante Station ist weder Nachfolger noch Ersatz für die Helfenstein Klinik, sondern ein neues, eigenständiges Angebot für eine bedarfsgerechte Versorgung zwischen den Sektoren.“ Die AOK ist eine von drei Projektpartnern. Alb-Fils-Kliniken und Kreisärzteschaft Göppingen vervollständigen die Kooperation.

„Versorgungsqualität ist für uns ein großes Thema. Wir wollen den Wandel mitgestalten.“

Janice Weber

Stellvertretende Geschäftsführerin der AOK-Bezirksdirektion Neckar-Fils

Janice Weber und Andreas Fischer von der AOK Baden-Württemberg besichtigen die neue Kurzliegestation.

An diesem Mittwoch besucht Janice Weber mit ihrem Kollegen Andreas Fischer, der den Bereich Versorgung der AOK-Bezirksdirektion Neckar-Fils leitet, die Räumlichkeiten. Zu Beginn sind vier Betten verfügbar, dazu ein Isolierzimmer für infektiöse Patienten. „Wir haben den Bettenbedarf auf Grundlage von Daten unserer Versicherten berechnet“, erklärt AOK-Experte Fischer. Zunächst richte sich das Angebot an Patientinnen und Patienten mit bestimmten Diagnosen: beispielsweise Bronchitis, Gastroenteritis, die Lungenkrankheiten COPD und Pneumonie, außerdem Herzinsuffizienz und Harnwegsinfekte. „Nach einigen Monaten werden wir evaluieren, ob mehr Plätze nötig sind“, sagt Andreas Fischer.

Sorgen ernst nehmen

Janice Weber ist vor allem eines wichtig: „Hier wird kein Patient versorgt, der eigentlich in eine Klinik gehört.“ Sie kennt die Bedenken der Versicherten. Manche Menschen hätten im KundenCenter nachgefragt, welche Auswirkungen die Klinikschließung habe. „Diese Sorgen nehmen wir ernst“, betont Weber. „Versorgungsqualität ist für uns ein großes Thema, deshalb wollen wir den Wandel mitgestalten.“ Davon profitieren zunächst Kundinnen und Kunden der AOK, die in der Region knapp 50 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten betreut. Das Projekt sei aber offen für andere Krankenkassen.

Dr. Frank Genske spricht für die Ärzteschaft des Kreises.

Die medizinische Versorgung gewährleisten niedergelassene Ärzte aus der Umgebung. Die sind in der Kreisärzteschaft Göppingen organisiert, ihr Vorsitzender ist Frank Genske, Internist und Nephrologe. Aus seiner Sicht bietet die Kurzliegestation Vorteile für Patienten, Kliniken und Ärzte. „Patienten brauchen nicht auf freie Betten in Krankenhäusern zu warten, in die sie aufgrund eines weniger gravierenden Krankheitsbildes sowieso nicht müssten. Kliniken können sich auf schwerwiegende Notfälle konzentrieren und Praxisärzte gewinnen eine zusätzliche Anlaufstelle, in die sie Patienten für Untersuchungen oder zur Überwachung überweisen können.“ Während sich Ärzte tagsüber um die Kurzlieger kümmern, sind Pflegekräfte rund um die Uhr vor Ort, angestellt bei den Alb-Fils-Kliniken.

„Patienten brauchen nicht auf freie Betten in Kliniken warten, in die sie aufgrund eines weniger gravierenden Krankheitsbildes sowieso nicht müssten.“

Dr. Frank Genske

Internist und Nephrologe, Vorsitzender der Kreisärzteschaft Göppingen

In Göppingen sitzt Ingo Hüttner wenige Stunden vor der Kreistagssitzung in seinem Büro. Von draußen´dringt Baulärm durchs Fenster, nebenan wächst ein Klinikneubau in den Himmel, der 2024 eröffnen soll: Knapp 700 Betten, modernste Medizintechnik, und auf dem Dach scheint ein Ufo gelandet zu sein. Doch die über die Dachkante hinausragende Plattform von 35 Metern Durchmesser ist eine Rettungsinsel für irdisches Leben – der künftige Hubschrauberlandeplatz. Im Altbau beantwortet Klinikchef Hüttner Fragen zum Umbau in Geislingen. „Was antworten Sie Menschen, die längere Wege bis zur nächsten Notaufnahme befürchten? Etwa nach einem Herzinfarkt?“ „Fahrtzeiten sind weniger relevant“, sagt Hüttner. Entscheidend seien eine schnelle Erstversorgung, für die Rettungswagen ausgerüstet sind, und dass die Sanitäter ein Krankenhaus mit Herzkatheterstation ansteuern, wo rund um die Uhr Spezialisten bereitstehen. „Im dünn besiedelten Skandinavien liegen Kliniken viel weiter voneinander entfernt als bei uns, aber die Überlebensraten sind nicht geringer“, betont Hüttner.

Zukunftsfähig werden

Edgar Wolff sagt, man habe alles versucht, die Helfenstein Klinik zu erhalten. Wolff ist als Landrat auch Aufsichtsratsvorsitzender der Alb- Fils-Kliniken. „In den vergangenen Jahren haben sich die Rahmenbedingungen drastisch verändert“, erzählt er. So hätten die vorgeschriebenen Pflegepersonaluntergrenzen den vorhandenen Fachkräftemangel verschärft. Es mangelte an Notärzten, weshalb die Klinikleitung regelmäßig den Schockraum abmelden musste. Woran es nicht mangelte: an immer neuen Zertifizierungsanforderungen, die eine kleine Klinik kaum erfüllen kann. Drei externe Gutachten wurden erstellt. Alle kamen zum selben Ergebnis: In der bestehenden Form ist die Helfenstein Klinik nicht zukunftsfähig. Wolff sagt: „Jetzt geht es darum, eine zukunftsweisende ambulante Versorgung in Geislingen zu etablieren.“ Das Modellprojekt ist ein wichtiger Beitrag dazu.

In Geislingen haben die AOK-Mitarbeitenden Janice Weber und Andreas Fischer ihren Rundgang beendet. „Das Projekt läuft vorerst zwei Jahre“, erzählt Janice Weber, „mit den Erkenntnissen werden dann weitere Entscheidungen getroffen.“ Hartmut Hippich, der Standortkoordinator, begleitet die Besucher zum Ausgang. Kurz nach 15 Uhr verschließt er die Glastür. Voraussichtlich Ende 2023 soll sie sich wieder öffnen. Dann für Patienten in einem völlig neuen Versorgungsmodell.

Standpunkt

Peer-Michael Dick, Alternierender Vorsitzender des Verwaltungsrates der AOK Baden-Württemberg, Arbeitgeberseite

Gesundheit zu gestalten und für die Menschen eine qualitativ hochwertige Versorgung sicherzustellen – das ist unsere Aufgabe. Und zwar unter der Prämisse, dass im Falle eines akuten gesundheitlichen Problems exakt die richtige ärztliche Behandlung zur Verfügung steht. Dass diese für einen Menschen mit einem Herzinfarkt anders aussieht als für jemanden, der sich Schnittund Schürfwunden zugezogen hat, liegt auf der Hand. Im ersten Fall ist eine schnelle Erstversorgung und die Einlieferung in eine spezialisierte Klinik erforderlich, im zweiten Fall eine professionelle Behandlung der Wunden. Beides sind aus Sicht der Betroffenen Notfälle. Beide Patienten werden erwarten, dass sie medizinisch optimal versorgt werden. Kämen beide in die gleiche Klinik, die weder über eine Herzkatheterstation noch über genügend Personal verfügt, wäre keinem der beiden geholfen. Genau um dieses Problem zu lösen, ist die qualitätsorientierte Neuordnung der Krankenhausstrukturen richtig: spezialisierte und gut ausgestattete Kliniken für schwerwiegende Krankheitsfälle einerseits und wohnortnahe ärztliche Behandlung in Form von Gesundheitszentren für allgemeinmedizinische Behandlungen andererseits. In diesem Sinne nimmt das in Geislingen startende „Gesundheitszentrum Helfenstein“ die Reform vorweg. Und ich kann mir gut vorstellen: Die Patientinnen und Patienten werden die Verbesserungen angesichts differenzierterer Versorgung sofort erkennen.