Interview mit dem Vorstand: Von Risiken und Wirkungen

Lieferengpässe bei Arzneimitteln bewegen die Gemüter. Warum Rabattverträge die Versorgungssicherheit erhöhen und Krankenkassen mehr Spielraum bei der Vergabe brauchen, berichten Johannes Bauernfeind und Alexander Stütz im Interview.

Johannes Bauernfeind und Alexander Stütz in der Weißenhofsiedlung

Es ist ein heißer Tag in der Weißenhofsiedlung in Stuttgart. Das Bauhaus-Ensemble aus den 1920er-Jahren liegt nur 15 Minuten zu Fuß von der AOK-Hauptverwaltung. Die federführenden Architekten – darunter Mies van der Rohe und Le Corbusier – hatten flexibles und gesundes Wohnen im Sinn, als sie die weißen, eher flachen Bauten planten. Wie viele andere Industriestädte war Stuttgart damals eine Tuberkulose-Hochburg. Dazu trugen die schlechten Wohnbedingungen bei, die nicht annähernd heutigen hygienischen Mindestanforderungen entsprachen. Mit den neuen Behausungen sollte sich das ändern. Doch den wirklichen Durchbruch bei der Tuberkulose-Behandlung brachte ab Mitte der 1940er-Jahre die Antibiotikatherapie. Heute erkranken in Europa nur noch wenige Menschen an dem Tuberkulose-Erreger. Weltweit aber gehört die Krankheit nach HIV und Malaria zu den am häufigsten zum Tod führenden Infektionskrankheiten. Besonders in Indien und China – den Orten, an denen die Wirkstoffe für Antibiotika zum großen Teil gefertigt werden.

Herr Bauernfeind, Sie haben Kinder, wie fühlen Sie sich, wenn Sie in der Apotheke keinen Kinderfieber-Saft oder Antibiotika mehr bekommen?

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender
der AOK Baden-Württemberg

Bauernfeind: Als Vater musste ich diese Erfahrung machen und es hat sich nicht gut angefühlt. Ich habe in der ersten Apotheke den Tipp bekommen, welche Apotheke immer noch etwas vorrätig hat. Wenn Dinge knapp werden – wie beispielsweise in der Pandemie oder jetzt bei der jüngsten Infektwelle, und die Menschen mehr kaufen, als sie benötigen, dann ist es ratsam, dass auch die Apotheken ihr Einkaufs- und Abgabeverhalten anpassen. Damit niemand, der wirklich ein Medikament braucht, mit leeren Händen dasteht.

„Wir sehen es sehr kritisch, dass die Regierung nun ganze Arzneimittelgruppen von Rabattverträgen freistellt.“

Johannes Bauernfeind

Jetzt ist ein Lieferengpass noch kein Versorgungsengpass. Oder?

Stütz: Es gibt fast immer Alternativen, sei es in der Medikation oder auch in der Anwendung einer Behandlung. Ich bin auch Vater. Und natürlich ist es belastend für Eltern, wenn Fiebersäfte nicht erhältlich sind. Aber oft sind andere Darreichungsformen oder gleichwertige andere Wirkstoffe möglich. Statt Fiebersaft helfen auch Zäpfchen. Mit dem Apotheker vor Ort können in den meisten Fällen – wenn sinnvoll in Absprache mit dem Arzt – Alternativen gefunden werden.

Lieferengpässe sind die Folge vieler ineinandergreifender Faktoren. Welche wiegen am schwersten?

Bauernfeind: Pharmazeutische Unternehmen handeln wirtschaftlich, also kostenminimierend und erlösmaximierend. Zu einem normalen, ökonomischen Verhalten gehört es, dass keine Überproduktion gemacht wird. Kommen extreme Nachfrageschübe wie im letzten Winter, kann die Produktion nicht so schnell ausgeweitet werden. Ein früheres Handeln gibt die Vorlaufzeit der relevanten Informationen nicht her, auch weil wir keine Transparenz über die gesamte Lieferkette haben. Zusätzlich sehen wir immer häufiger Probleme in der Produktion, Verunreinigungen in den Wirk- und Hilfsstoffen oder Ausfälle von Betriebsstätten aufgrund technischer Probleme.

Ist nicht auch der Preis entscheidend? Die Festbeträge für einige Medikamente, darunter Fiebersäfte, wurden aufgehoben. In der Hoffnung, dass mit höheren Preisen die Verfügbarkeit auf dem deutschen Markt steigt. Kann und wird das glücken?

Stütz: Mehr Geld in dieses System zu kippen, ist nicht der Lösungsansatz. Die Gründe für Lieferengpässe sind komplex. Sie bestehen nicht nur in Deutschland, sondern weltweit, auch in Ländern, die höhere Preise bezahlen als wir. Vergessen wir auch nicht: Wir haben zurzeit Lieferengpässe bei vier Prozent der patentfreien Arzneimittel. Das heißt, für 96 Prozent besteht Liefersicherheit. Und bei den Rabattarzneimitteln bestehen Lieferausfälle sogar nur bei 1,4 Prozent. Auch das zeigt, dass die Gleichung „Höherer Preis = Liefersicherheit“ nicht aufgeht.

Oft werden die Rabattverträge für Lieferengpässe verantwortlich gemacht. Der Vorwurf lautet, der Markt würde kaputtgespart. Was halten Sie den Kritikern entgegen?

Bauernfeind: Es heißt, Rabattverträge würden dazu führen, dass sich die Arzneimittel- und Wirkstoffproduktion nach China und Indien verlagere. Die Ausschreibung von Rabattverträgen gibt es seit 2007. Die Marktmechanismen unserer globalisierten Welt wirken bereits deutlich länger. Unternehmen kaufen und produzieren da, wo es für sie am kostengünstigsten ist. Rabattverträge hin oder her. Und diese arbeitsteilige Produktion hat in fast allen Märkten weltweit für Wohlstand gesorgt – in den Ländern, in denen produziert wird, und auch bei uns.

Rabattverträge tragen also zur Versorgungssicherheit bei? Inwiefern?

Stütz: Zunächst einmal verpflichten wir die Hersteller, einen Dreimonatsbedarf vorzuhalten, um kurzfristige Engpässe überbrücken zu können. Zudem laufen die Verträge zwei Jahre. Das schafft Planungssicherheit – für beide Seiten. Außerdem tragen Rabattverträge nachweislich zur Anbietervielfalt bei und auch kleinere und mittlere Pharmaunternehmen erhalten effektiv Zugang zum Markt.

Auch die Regierung hat gehandelt, erntet aber eine Menge Kritik für das Arzneimittel-Lieferengpassbekämpfungs- und Versorgungsverbesserungsgesetz (ALBVVG). Jedes Gesetz hat Licht und Schatten, wo sehen Sie die Pluspunkte für AOK-Versicherte?

Alexander Stütz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg

Stütz: Es gibt ein paar begrüßenswerte Ansätze, wie die Regelung für eine stärkere Bevorratung. Das ist allerdings nur im Exklusiv-Modell, nicht im Mehrpartner-Modell sinnvoll. Ebenfalls wichtig: das geplante Frühwarnsystem zur Erkennung drohender Lieferengpässe. Wir fordern seit Jahren Transparenz über die Lieferkette. Wie das konkret laufen soll, lässt der Gesetzgeber leider offen. Denn eine Datenlieferungspflicht für die im Pharmamarkt aktiven Akteure fehlt weiterhin.

„Rabattverträge laufen über zwei Jahre. Das schafft Planungssicherheit. Außerdem tragen sie zur Anbietervielfalt bei.“

Alexander Stütz

Und wo sehen Sie die Nachteile?

Bauernfeind: Wir sehen es sehr kritisch, dass ganze Arzneimittelgruppen von Rabattverträgen und Festbeträgen freigestellt werden, zum Beispiel die Kinderarzneimittel. Die Versorgungssicherheit wird durch eine Aufweichung der Rabattverträge nicht verbessert. Für die vielfach diskutierten Kinderarzneimittel wie auch für das Krebsmedikament Tamoxifen hatten wir keine Rabattverträge. Die Klagen der pharmazeutischen Hersteller über die angeblich zu niedrigen Preise in Deutschland verstellen den Blick auf die wahren Ursachen von Lieferengpässen und sind für eine Verbesserung der Versorgungssituation nicht zielführend.

Auch für die Antibiotika gibt es Neuerungen ...

Bauernfeind: Unsere Antibiotika-Rabattverträge müssen wir jetzt in mindestens vier Losen ausschreiben – zwei für Europa und zwei für die Welt. Diese Verpflichtung gilt auch für patentfreie Arzneimittel, wenn das Bundesgesundheitsministerium sie auf Empfehlung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte als versorgungskritische Arzneimittel mit drohender oder bestehender Marktkonzentration einstuft. Das erhöht nicht nur weiter die Ausgaben, ich zweifle daran, dass es für diese ­Situation überhaupt ausreichend Angebote geben wird. Hier sollen Vergabeverfahren über das Sozialrecht abgebildet werden, obwohl das eigentlich ein Thema des Europäischen Vergaberechts wäre. Ich gehe nicht davon aus, dass durch diese Maßnahmen eine tatsächliche versorgungskritische Marktkonzentration behoben werden könnte.

Die Politik spricht immer wieder davon, dass wir die Herstellung nach Europa zurückholen müssen. Aber die Produktion ist sehr komplex. Ist es naiv, zu glauben, wir könnten unabhängig von China werden?

Stütz: Zunächst ist völlig offen, was überhaupt wo produziert wird. Das Geflecht der Wirkstoffhersteller, Zulieferer, Veredler ist dicht. Es gibt viele Verarbeitungsschritte, die bei verschiedenen Firmen stattfinden. Wenn das Thema wirklich angegangen werden soll, dann bräuchte es eine konzertierte Vorgehensweise in ganz Europa. Dabei sollte vor allem die Abhängigkeit der Europäischen Union von autoritären Regimen reduziert werden. Das ist nichts, was ein einzelnes Land oder das deutsche Sozialgesetzbuch regeln kann.

Die EU hat kürzlich Vorschläge zur Überarbeitung der europäischen Arzneimittelregelungen gemacht. Werden diese helfen, Lieferengpässe zu überwinden?

Bauernfeind: Es ist folgerichtig, dass sich die EU des Themas annimmt. Wir begrüßen vor allem die geplante Intensivierung der Meldepflicht für Hersteller, was ihre Liefersituation anbelangt, und insbesondere auch die angedachte striktere Durchsetzung der bestehenden Umweltanforderungen. Für uns gehört aber auch noch die Überarbeitung des EU-Vergaberechts dazu. Wir brauchen hier als öffentlicher Auftraggeber mehr Spielraum.

„Das EU-Vergaberecht muss überarbeitet werden. Als öffentlicher Auftraggeber brauchen wir mehr Spielraum.“

Johannes Bauernfeind

In welche Richtung?

Stütz: Uns ist es gerichtlich untersagt worden, für unseren Antibiotika-Rabattvertrag Bieter zu bevorzugen, die Lieferketten in der EU oder in der EU-Freihandelszone vorweisen können. Andere Hersteller fühlten sich dadurch benachteiligt und haben geklagt. Bei sensiblen Bereichen wie der Arzneimittelversorgung sollte es bei solchen Vergabeentscheidungen Ausnahmen geben dürfen. Letztlich ist aber auch klar zu trennen, wo die Aufgaben der Krankenkassen aufhören und die direkte Förderung des europäischen Wirtschaftsstandorts beginnt.

Sie haben die EU-Umweltkriterien angesprochen. Die im Juni ausgelaufenen Antibiotika-Tranchen waren die ersten Rabattverträge, die solche Kriterien schon enthielten. Welche Erfahrungen haben Sie damit gemacht?

Bauernfeind: Ein Selbstläufer war das nicht. Wenn solche Bedingungen in Verträge hineingeschrieben werden, müssen sie auch kontrolliert werden. Konkret geht es beispielsweise um einen mit dem Umweltbundesamt festgelegten Schwellenwert für die Wirkstoffkonzentration im Produktionsabwasser. Wir haben von einem renommierten, unabhängigen Institut in vielen Ländern überprüfen lassen, ob er bei der Wirkstoffproduktion eingehalten wird.

Und wie sind die Überprüfungen ausgefallen?

Bauernfeind: Es gab schon Produzenten, die von den ersten Messergebnissen überrascht waren. Wir nehmen das Thema äußerst ernst. Es geht schließlich um antibiotische Wirkstoffe im Abwasser, die für die Entwicklung multiresistenter Keime mit verantwortlich sind. Also haben wir auch Nachkontrollen gemacht, wenn die Werte nicht gestimmt haben. Unsere Erfahrungen sind direkt in Folge-Tranchen eingeflossen, sodass wir das Umweltkriterium noch einmal zielgerichteter nutzen können.

 

Neu entwickelte Arzneimittel sind teuer. Auf der einen Seite steht der Vergütungsmechanismus, der Herstellern erlaubt, astronomische Preise für neue Arzneimittel anzusetzen, auf der anderen Seite der GKV-Kostendruck. Wie lässt sich dieses Dilemma lösen?

Stütz: Wenn wir den neuesten Stand der medizinischen Möglichkeiten für die Menschen zugänglich machen wollen, dann muss die Entwicklung von innovativen Arzneimitteln attraktiv sein für die Hersteller. Gleichzeitig gilt es, das sozialverträglich zu gestalten. Dazu gehört es, schon vor Markteintritt über Preise zu verhandeln und festzulegen, wie und woran sich ein Zusatznutzen bemisst.

Gern wird das Beispiel der Orphan Drugs bemüht, um die Unverhältnismäßigkeit von Preis und Nutzen zu thematisieren. Haben wir als Solidargemeinschaft nicht die Verpflichtung, auch für Menschen mit seltenen Krankheiten einzustehen?

Bauernfeind: Wir sind in der Verantwortung für die Versorgung aller unserer Versicherten. Natürlich muss es für Hersteller gute Rahmenbedingungen für die Forschung geben. Auch mit der Chance, Kosten zu refinanzieren, wenn Medikamente nicht zur Marktreife kommen. Aber gerade in der Verantwortung für alle Versicherten setzen wir uns dafür ein, dass der erst später verhandelte Erstattungsbetrag rückwirkend zum Markteinstieg beglichen wird.

Könnte eine Maßnahme wie diese beim GKV-Finanzierungsproblem einen relevanten Beitrag leisten?

Stütz: Ja, aber eher einen überschaubaren. Wir haben größere Hebel. Ich denke zum Beispiel an die Mehrwertsteuer für Arzneimittel. Weshalb werden Tierarzneimittel mit sieben Prozent besteuert, während Humanarzneimittel dem Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent unterliegen? Würde die Steuer abgesenkt, könnten wir einen relevanten Beitrag haben, gerade mit Blick auf die zu erwartenden Defizite in der Zukunft der GKV, weil es die Ausgaben deutlich  senken würde. Aber ausreichen wird das auch nicht. Unser Gesundheitssystem ist gekennzeichnet durch ineffiziente Strukturen sowie Über-, Unter- und Fehlversorgung. Das gilt es, konsequent anzugehen.

„Die Entwicklung innovativer Arzneimittel muss attraktiv sein für die Hersteller. Die Preise aber auch sozialverträglich.“

Alexander Stütz

Wie realistisch ist es angesichts der besprochenen Herausforderungen, dass Versorgungssicherheit, Wirtschaftlichkeit und Nachhaltigkeit bei der Arzneimittelversorgung Hand in Hand gehen?

Bauernfeind: Für uns liegen in diesen drei Zielsetzungen keine Widersprüche. Denn eine nachhaltige Versorgung mit Arzneimitteln ist unterm Strich wirtschaftlicher als eine schlechte Versorgung. Und auch eine hohe Verfügbarkeit von notwendigen Arzneimitteln, gegebenenfalls auch zu höheren Kosten, ist trotzdem wirtschaftlicher als eine schlechte Versorgung. Wir haben als Krankenkasse eine Verantwortung, die Liefersicherheit zu verbessern. Wenn wir die Freiheit haben, das marktwirtschaftlich zu organisieren und eben auch die Lieferbedingungen mit in den Blick zu nehmen, dann können wir dieser Verantwortung gerecht werden.

Ein Blick auf die Zahlen

Arzneimittel sind der drittgrößte Posten auf der Ausgabenseite der AOK Baden- Württemberg (16,4 Prozent). Im Jahr 2022 waren das rund 2,7 Milliarden Euro – und damit fast das Doppelte im Vergleich zu 2002 (1,4 Milliarden Euro). Dabei ist die Zahl der Versicherten nicht annähernd so stark gestiegen, von damals 4,2 Millionen auf heute 4,7. Patentarzneimittel machen etwa ein Zwanzigstel im Gesamtverbrauch aus, während sie für die Hälfte der Arzneimittelkosten stehen.