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Unterwegs im Auftrag des Hausarztes

Hochqualifizierte medizinische Fachangestellte helfen Hausärztinnen und Hausärzten bei der Behandlung. Vor allem auf dem Land profitieren Patientinnen und Patienten davon. Unterwegs mit einer Versorgungsassistentin

Eva Riedle* ist fast zu Hause, als das Unglück geschieht. Nur noch wenige Sekunden, dann wird sie mit ihrem E-Bike die Einfahrt zu ihrem Grundstück erreichen. Seit einer Ewigkeit wohnt sie in Nassach, einem Dorf, benannt nach dem kleinen Bach, der sich durch ein malerisches Tal nordwestlich von Göppingen schlängelt. In dieser Idylle ist ein Leben ohne fahrbaren Untersatz kompliziert. Ein Problem besonders für Ältere. Eva Riedle ist 84, aber mobil wie wahrscheinlich nur wenige ihrer Generation. Täglich zieht sie im Schwimmbad ihre Bahnen oder setzt sich hinter das Steuer ihres Wagens. Vor drei Jahren kaufte sie ein Elektrorad. Seitdem rollt die Rentnerin mit Muskel- und mit Motorkraft durch die Nachbarschaft; mal allein, mal mit Freundinnen, manchmal bis ins 30 Kilometer entfernte Schwäbisch Gmünd. Doch an diesem Tag endet ihre Tour nicht wie geplant.

In einer Kurve gerät sie zu nah an die Bordsteinkante. Eva Riedle verliert die Kontrolle über das E-Bike, dann das Gleichgewicht und stürzt auf den Asphalt. Zu allem Überfluss fällt auch noch das schwere Rad auf sie. Zunächst glaubt sie, den Unfall halbwegs gut überstanden zu haben, doch dann verschlimmern sich mit jedem Tag die Schmerzen in der Hüfte, strahlen aus bis in die Beine. Eva Riedle geht zu ihrem Hausarzt. Er vermutet: Beckenbruch – was die Klinik durch ein Bildgebungsverfahren bestätigt. Sie wird operiert.

Zurück in den eigenen vier Wänden, verbessert sich ihr Zustand nicht. Alles tut weh, trotz starker Schmerzmittel. Eigentlich müsste sie jede Woche zur Kontrolle in ihre Hausarztpraxis, in der sie seit vielen Jahren Patientin ist. Unmöglich in ihrem Zustand. Auch weil sie ihren Ehemann nicht allein lassen will, mit dem sie seit 66 Jahren verheiratet ist und der unter Parkinson und Demenz leidet. Doch Eva Riedle hat Glück im Unglück. In ihrer Hausarztpraxis gibt es das Konzept der VERAH.

Einige Wochen nach dem Sturz: Morgens halb zehn verlässt Sandra Meier die Praxis im Uhinger Weilerhof, überquert den Parkplatz und verstaut ihren roten Sanikoffer mit Blutdruckmessgerät, Spritzen, Ampullen und Verbandsmaterial im Kofferraum ihres Stadtflitzers. „Heute möchte ich sehen, wie Frau Riedle zu Hause zurechtkommt“, sagt sie und startet den Wagen. Sandra Meier ist Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis, kurz VERAH. Ihr Job: Als hochqualifizierte Mitarbeiterin ihren Chef, den Hausarzt Manuel Magistro, entlasten.

* Name geändert

„Meine Mitarbeiterinnen entlasten mich, sodass ich mehr Zeit für meine Sprechstunde habe.“

Dr. Manuel Magistro, Hausarzt in Uhingen

Im HausarztProgramm

Versorgungsassistentinnen dürfen unter anderem die individuelle Patientensituation beurteilen, Versorgungspläne erstellen, den Hausarzt bei Diagnose- und Therapiemaßnahmen unterstützen und Hausbesuche durchführen. Manuel Magistro leitet die Praxis im Weilerhof und Sandra Meier arbeitet schon seit vielen Jahren für den Allgemeinmediziner. Nach einer Ausbildung zur Arzthelferin setzte sie sich noch einmal zweieinhalb Jahre auf die Schulbank, bildete sich weiter zur Fachwirtin für ambulante medizinische Versorgung und sattelte darauf einen weiteren Abschluss als VERAH.

Sechs Hausbesuche hatte Sandra Meier am Tag zuvor. Sie schaute nach einem Mann mit operierter Hüfte, traf eine junge Krebspatientin in der Chemotherapie und einen älteren Herrn mit amputiertem Bein und ohne Angehörige, der den gesamten Tag in seinem Rollstuhl vor dem Fernseher sitzt. Sie sagt: „Viele Patienten werden sehr früh aus dem Krankenhaus entlassen, sind überfordert und fragen, ob der Arzt zu ihnen kommen kann. Aber das schafft er nicht im Alltag.“

Seit fast zehn Jahren übernehmen das deshalb die Versorgungsassistentinnen, meist auf dem Land, oft mit Elektroautos oder E-Bikes. Mittlerweile sind sie nicht mehr wegzudenken aus der Hausarztzentrierten Versorgung (HZV).

In der HZV entscheiden sich Versicherte dafür, bei Gesundheitsproblemen als ersten Ansprechpartner eine Hausärztin oder einen Hausarzt zu wählen. Diese kennen idealerweise ihre Vor- und Krankengeschichte, koordinieren alle Behandlungsschritte und überweisen sie bei Bedarf an Spezialisten. So kommen alle Befunde aus einer Hand, was wissenschaftlich evaluiert zu weniger Doppel-Untersuchungen, weniger Wechselwirkungen von Medikamenten und einer engmaschigen Betreuung führt – ein Vorteil vor allem bei chronischen Erkrankungen, wie Bluthochdruck, Diabetes oder Herzrhythmusstörungen.

 

Im drittgrößten Bundesland beteiligten sich im vergangenen Jahr mehr als 8.500 Ärztinnen und Ärzte am Haus- und FacharztProgramm der AOK Baden-Württemberg und behandelten dabei fast 1,8 Millionen Versicherte, Tendenz steigend. Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender der AOK Baden-Württemberg, betont, dass mit der HZV „eine qualitativ bessere und wirtschaftlichere ambulante Versorgung ermöglicht wird“.

Sandra Meier hat das Ortsausgangsschild passiert, im Rückspiegel verschwinden die Häuser von Uhingen, die Straßen werden schmaler, die entgegenkommenden Autos weniger, Wiesen und Wälder wechseln sich ab, zehn Minuten später erreicht sie das Nassachtal, parkt den Wagen vor einem Einfamilienhaus. Eva Riedle erwartet sie im Wohnzimmer auf ihrem Rollator, daneben im Sessel sitzend ihr Ehemann. „Wie war die Nacht?“, fragt Sandra Meier. „Schlecht, ich habe große Schmerzen“, antwortet Eva Riedle. „Wo genau?“ „Von den Füßen bis zur Hüfte.“

Sandra Meier erkundigt sich, wann die Schmerzen am stärksten sind, lässt sich die Schmerzmittel zeigen, fragt nach Dosierung und Verträglichkeit, notiert das Wichtigste und übergibt zwei neue Rezepte. „Stärkere Schmerzmittel könnten sie stark sedieren, ihren Kreislauf oder ihre Nieren belasten“, gibt Sandra Meier zu bedenken. „Ich frage den Doktor“, sagt sie, tippt eine Nachricht ins Smartphone und wartet. Und wartet umsonst. Kein Netz in Nassach.

„Ich rede heute noch mit ihm und melde mich dann“, verspricht Sandra Meier. Eva Riedle sagt: „Ich habe fünf Kinder geboren, aber nie solche Schmerzen verspürt. Sandra Meier nimmt sich Zeit, hört zu, lässt die ältere Dame reden. Sie hoffe sehr auf eine Reha, sagt Eva Riedle. Sandra Meier sagt: „Ich würde Ihnen heute noch Blut abnehmen, einverstanden? Dann könne wir die Entzündungswerte und das Blutbild anschauen.“ Nachdem die Ampullen gefüllt sind, wendet sich Sandra Meier an Riedles Ehemann.

„Viele Patienten sind überfordert und fragen, ob der Arzt zu ihnen kommen kann. Aber das schafft er im Alltag nicht.“

Sandra Meier, VERAH in der Praxis von Dr. Manuel Magistro

Vorteil Hausbesuch

Willy Riedle hat die vergangenen 20 Minuten kein Wort gesagt, aber mit wachen Augen verfolgt, was seine Frau und Sandra Meier besprochen haben. Auch er ist schon lange Patient bei Manuel Magistro, und Sandra Meier weiß, was ihn plagt. Momentan Magenprobleme. Vorsichtig tastet sie seinen Bauch ab, schüttelt unzufrieden den Kopf und legt ein neues Rezept und eine Überweisung auf den Couchtisch. In diesem Moment kommt einer der Söhne herein. „Ich habe gerade Urlaub“, erzählt er. Sandra Meier ist beruhigt, dass die beiden nicht allein im Haus sind, und nach einer guten Stunde verabschiedet sie sich. Ohne die Versorgungsassistentin hätte Eva Riedle einen Krankentransport bestellen und später im Warteraum ausharren müssen. „Ich weiß nicht, ob ich das geschafft hätte, und bin froh, dass Frau Meier hier war“, sagt sie.

Gibt es Dinge, die Sandra Meier an der VERAH-Betreuung verbessern würde? „Ich hätte gern noch mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten, denn ein intensiver Kontakt verbessert das Vertrauensverhältnis.“ Nicht immer kann sie so lange bleiben wie bei den Riedles. Kurz nach elf Uhr betritt sie die Praxis. Manuel Magistro sitzt in seinem Behandlungszimmer,gönnt sich eine kurze Pause. In einer halben Stunde beginnt eine Onlinekonferenz des baden- württembergischen Hausärzteverbandes, dessen Mitglieder ihn in den Vorstand gewählt haben. Doch bis dahin beantwortet er gerne Fragen.

Standpunkt

Wandel leben

Die Entwicklung der Hausarztzentrierten Versorgung im Südwesten kommentiert Monika Lersmacher, alternierende Verwaltungsratsvorsitzende der AOK Baden-Württemberg, Versichertenseite.

Audio-Kommentar von Monika Lersmacher

Praxis mit Plus

Dass er Hausarzt werden will, wusste Manuel Magistro schon seit seinem Studium. Ihm war es wichtiger, Patienten über viele Jahre intensiv zu begleiten. Mittlerweile behandelt er ganze Familien, von der Großmutter bis zum Enkel. „Ein Hausarzt muss Ansprechpartner in allen Lebenslagen sein, seinen Patienten wertschätzend und auf Augenhöhe begegnen“, sagt er. Etwa 1.500 Menschen suchen jedes Quartal seinen Rat. Ausführlich auf alle Bedürfnisse einzugehen, erfordert vor allem eins: Zeit. Aber auch sein Tag hat nur 24 Stunden. Ein Dilemma – für das er eine Lösung hat.

Seit Manuel Magistro die Praxis im Jahr 2015 von einem Kollegen übernommen hat, beteiligt er sich an der Hausarztzentrierten Versorgung. „Ich kenne das gar nicht anders“, sagt er. Unverzichtbarer Bestandteil sind die Versorgungsassistentinnen. Alle Arzthelferinnen im Weilerhof sind als VERAH ausgebildet. Manuel Magistro sagt: „Meine Mitarbeiterinnen entlasten mich, sodass ich mehr Zeit für meine Sprechstunden habe.“

Gute Nachrichten gibt es auch im Nassachtal. Die AOK hat Eva Riedles Antrag auf eine Reha-Kur bewilligt. Genau an ihrem 85. Geburtstag reist sie nach Bad Boll, wo sie nicht nur Orthopäden erwarten, sondern auch eine spezielle Schmerztherapie. Sandra Meier freut sich, als sie davon erfährt: „Dort gibt es auch eine Schwimmhalle.“ Zum ersten Mal an diesem Tag lächelt Eva Riedle. „Schwimmen“, sagt sie, „möchte ich schon wieder.“

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