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Achtung Baustelle!

Im Nordschwarzwald gibt es ein großes Vorhaben: den Gesundheitscampus Calw. Die AOK Baden-Württemberg ist Teil des Vorzeigeprojekts. Warum es beispielhaft für den nötigen Umbau des Gesundheitswesens ist, berichten die Vorstände Johannes Bauernfeind und Alexander Stütz beim Besuch der Baustelle.

Herr Bauernfeind, Herr Stütz, wir stehen in Calw auf der Baustelle des entstehenden Gesundheitscampus.
Was ist das Besondere an diesem Projekt?

Bauernfeind:
Die AOK engagiert sich in Calw, weil wir aus der Erfahrung unserer Selektivverträge sehen, dass durch das enge Zusammenspiel der heilberuflichen Kompetenzen eine bessere Versorgung erreicht wird. Hier in Calw werden Versorgungsstrukturen im Sinne der Patientinnen und Patienten an einem Ort konzentriert – ärztliche und therapeutische Angebote genauso wie Beratungs- und Vorsorgeangebote. 


Inwieweit könnten solche Modelle Reformen befördern?
 Und was braucht es dafür seitens der Politik und des Gesetzgebers?

Stütz
: Wir benötigen Vorbilder. Projekte wie in Calw schaffen Freiräume, um die Versorgung einer immer älter werdenden Gesellschaft zu erproben. Wir sehen in Calw unter anderem, welchen Stellenwert die Delegation von ärztlicher Leistung hat. Das bestätigen auch die Erfahrungen aus unserem VERAHModell. Die Versorgungsassistentin in der Hausarztpraxis sorgt für eine Entlastung der Strukturen. Versorgung wird vor Ort gestaltet und solche Modelle brauchen Beinfreiheit. Denn zu starre Regelungen aus Berlin verhindern Innovationen.

Bauernfeind: Calw bietet einen Ideenraum für Lösungen in der Fläche. Wir haben hier die besondere Situation, dass es neben dem Krankenhaus ein MVZ als Genossenschaft gibt. Denn immer mehr Ärztinnen und Ärzte wollen angestellt tätig sein. Die Politik fokussiert bei der Entwicklung neuer Versorgungsangebote vorrangig das stationäre Setting oder dessen Umfeld. Wir brauchen Regelungen mit gestuften Versorgungsangeboten jenseits der bisherigen Vergütungslogiken, die es für die getrennten Sektoren gibt.


Woran hakt es bei der sektorenübergreifenden Versorgung?

Stütz:
Es fehlt am Willen zur Kooperation und einem gemeinsamen Verständnis. Wenn unterschiedliche Finanzierungssituationen für den ambulanten und für den stationären Sektor geschaffen werden, haben wir eine gewisse interessengeleitete Verteilungssituation. Wir müssen die Kooperation und Zusammenarbeit stärker fördern und nicht die Abgrenzung der Sektoren durch eine ausufernde Regulatorik noch weiter manifestieren.

Bauernfeind: Wir können uns weiterhin strikt getrennte Sektoren nicht mehr leisten. Auf der einen Seite werden es immer weniger Menschen, die in der Gesundheitsversorgung arbeiten. Auf der anderen steigt der Versorgungsbedarf der Menschen kontinuierlich. Durch eine gut strukturierte Versorgung lässt sich eine Überinanspruchnahme von stationären Strukturen vermeiden, wie unsere Facharzt- und Hausarztverträge zeigen.

Welche Rolle spielt die Hausarztzentrierte Versorgung (HZV) bei einem Konzept wie dem Gesundheitscampus in Calw?

Stütz:
Mit den Selektivverträgen können wir erweiterte Möglichkeiten für eine bessere Versorgung eröffnen. Für die Ärztinnen und Ärzte bringen sie eine höhere Planungssicherheit und mehr Klarheit hinsichtlich des Honorars. Wichtig sind auch die Vernetzungserfahrungen zwischen Haus- und Fachärzten. So können Doppeluntersuchungen vermieden werden und zeitnah zielgerichtete Interventionen erfolgen.


Wie möchte die AOK Baden-Württemberg die HZV weiterentwickeln?

Bauernfeind:
Wir haben uns – auch losgelöst von der Pandemie – dem Thema Videosprechstunde angenommen. Zudem kümmern wir uns um die Einbindung von weiteren Heilberufen in die Versorgung. Damit ist vor allem in der Arztpraxis tätiges medizinisches Fachpersonal gemeint. Auch der unkomplizierte Zugang zur Versorgung von Menschen, die mit weniger Gesundheitskompetenz ausgestattet sind, ist uns wichtig.

Stütz: Wir denken die Selektivverträge weiter. Auch in Richtung der Einflüsse, die das Klima und die Umwelt auf unsere Gesundheit haben. Beispielsweise diskutieren wir, eine Art Klimasprechstunde innerhalb der Selektivverträge anzubieten.

„Es gilt, die Leistungsausgaben trotz Preissteigerung im Zaum zu halten und die Strukturreformen in der GKV anzugehen.“

Johannes Bauernfeind, Vorstandsvorsitzender

Sie haben die Telemedizin angesprochen. Welches Potenzial sehen Sie in digitalen Versorgungsangeboten?

Bauernfeind:
Wir arbeiten schon lange an der digitalen Kommunikation zwischen Arztpraxen und der AOK und zwischen Arztpraxen untereinander. Wir sind hier Vorreiter. Wenn es irgendwann eine funktionierende Telematikinfrastruktur TI2.0 und die damit verbundene Funktionalität geben wird und die elektronische Patientenakte (ePA) auch hoffentlich mit Leben gefüllt wird, werden wir unsere bereits längst funktionierende Lösung aber abknipsen müssen.

Stütz: Vernetzung ist das Zauberwort. Die ePA kommt leider zu langsam ins Laufen. Die notwendigen Fortschritte im Gesundheitswesen können nur erreicht werden, wenn es einheitliche Schnittstellen gibt. Dazu braucht es Investitionen und klare Standards. Die Leistungserbringer sind gefragt, ihre Informationen in den Systemen zu hinterlegen. Für uns ist auch die digitale Intervention mit unseren Kundinnen und Kunden von großer Bedeutung. Seit der Pandemie sehen wir, dass unser Online-KundenCenter und unsere Apps in großer Zahl genutzt werden. Wir haben die DigitalBeratung eingeführt, um Anliegen unserer Versicherten digital und rechtssicher bearbeiten zu können. Das ist die Zukunft. Zugleich bleibt selbstverständlich unser Herzstück die persönliche Beratung vor Ort in unseren KundenCentern.

Momentan wird die Finanzierungslücke der Kassen für 2023 auf rund 17 Milliarden Euro geschätzt. Wie kommt es zu dieser großen Lücke?

Stütz:
Die Gesetzgebung der letzten Legislaturperiode hat zu massiven Kostensteigerungen geführt. Das hat nur wenig mit der Pandemie zu tun. Bemerkenswert ist: Es wurden teure Gesetze verabschiedet, durch die die Qualität der Versorgung kaum verbessert wurde, wie etwa beim Terminservicestellen- und Versorgungsgesetz. Die nun von Karl Lauterbach auf dem Tisch liegenden Vorschläge zum Ausgleich des Defizits sind finanziell unausgewogen und belasten überproportional die Beitragszahler. Strukturreformen, die dringend notwendig wären, sind nicht zu erkennen.

Bauernfeind: Die Lücke von 17 Milliarden Euro ist nicht von heute auf morgen entstanden. Ein Teil der Lücke ist schon jahrelang durch die gute Einnahmensituation der GKV verdeckt gewesen. Ursächlich ist vor allem, dass die Bundesagentur für Arbeit für die Bezieher von Arbeitslosengeld II Krankenkassenbeiträge zahlt, die für die tatsächlich anfallenden Kosten dieser Gruppe nicht ausreichend sind. Dazu kommen die Leistungsausgabenentwicklung, die Preissteigerungen und die eben angesprochenen teuren Gesetze. Und das müssen die Beitragszahler jetzt schultern. Perfide ist auch: Krankenkassen dürfen keine Kredite aufnehmen, aber die Politik darf der GKV über den Gesundheitsfonds ein Darlehen von einer Milliarde Euro geben. Woher soll denn das Geld kommen, um die Rückzahlung zu bedienen? Den Menschen wird vorgegaukelt, dass die Beiträge nur um 0,3 Prozentpunkte steigen. Um jedoch wieder in finanzielle Stabilität zu kommen und zum Beispiel das Darlehen zurückzuzahlen, müssen die Krankenkassen die Beiträge weiter erhöhen.

Was würden Sie als Erstes tun, wenn Sie Gesundheitsminister wären?

Bauernfeind:
Der Gesundheitsminister allein hat das nicht in der Hand. Auch der Finanz- und der Arbeitsminister sind gefragt. Die ALG-II-Beiträge müssen angepasst und die Mehrwertsteuer für Arzneimittel auf sieben Prozent abgesenkt werden. Allein durch diese beiden Maßnahmen ließe sich ein großer Teil der Lücke für 2023 schließen – sogar über das Jahr hinaus. Wir müssen schauen, wie wir die Leistungsausgaben trotz Preissteigerungen im Zaum halten und dringend die Strukturreformen in der GKV angehen. Ich rede davon, die sehr unterschiedlichen Krankenhausstrukturen in den Bundesländern nach gleichgerichteten Kriterien und trotzdem nach regionaler Differenzierung zu gestalten, Doppelstrukturen abzubauen, Überversorgung konsequent anzugehen und auch die Vernetzung sowie die Digitalisierung effizienter zu nutzen.

Stütz: Es bestehen auch im Bereich der Pflege enorme Probleme bei der nachhaltigen Finanzierung. Hier sind grundlegende Finanz- und Strukturreformen dringend notwendig. Wenn wir das jetzt nicht in den Griff kriegen, geraten wir in große Schwierigkeiten.


Was würden Sie im Rahmen einer Pflegereform tun?

Bauernfeind:
Um es auf den Punkt zu bringen: Ich sehe die Pflege als gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Das auf den Kopf gestellte Teilkaskoprinzip der Pflegeversicherung führt zwangsläufig zu immer höheren Eigenanteilen der Betroffenen. Die lassen sich auch nicht einfach so deckeln. Die Gesellschaft wird älter, der Bedarf steigt. Nun ist die entscheidende Frage, ob die Lebenssituation Pflegebedürftigkeit zur finanziellen Überforderung der Betroffenen und ihrer Angehörigen führen sollte – in einer gewissen Weise zwangsläufig. Ich meine nein. Und deshalb plädiere ich für dynamisierte Zuschüsse aus dem Staatshaushalt, um die Pflege nicht zu einem Armutsrisiko zu machen. Abgesehen davon: Auch in der Pflege geht es um die Überwindung starrer Finanzierungsstrukturen für jeweils ambulante und stationäre strikt getrennte Sektoren.

„Es wurden teure Gesetze verabschiedet, durch die die Qualität der Versorgung kaum verbessert wurde.“

Alexander Stütz, stellvertretender Vorstandsvorsitzender

Konkret aus der Praxis: Was können Gesundheitszentren – wie dieser Gesundheitscampus hier in Calw – zur besseren Pflege der Menschen beitragen?

Stütz:
Eine ganz wesentliche Facette der Pflege ist die Mobilisierung durch Präventionsmaßnahmen. Hier steht im Fokus, die Bewegungsfähigkeit im Alter zu erhalten und unter Umständen das Fortschreiten von Erkrankungen zu vermeiden. Hierfür sind auch indikationspezifische Rehamaßnahmen oftmals nützlich. Beide Themen wollen wir mit dem Gesundheitszentrum in Calw angehen. Vergessen dürfen wir auch nicht die Beschäftigten in der Pflege. Dies ist – ambulant wie stationär – eine anspruchsvolle Aufgabe. Um gesundheitliche Belastungen zu minimieren, bieten wir hierfür auch gezielte Maßnahmen des Betrieblichen Gesundheitsmanagements an.

Bauernfeind: Es gibt jetzt eine Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Pflegereform unter der Federführung des Landes Baden-Württemberg. Das gibt mir eine gewisse Hoffnung, dass mit einer Mischung aus Pragmatismus, Erfahrungen aus der realen Versorgung und Qualitätsanspruch die Leistungsfähigkeit und Finanzierbarkeit der Pflege zukunftsfähig gemacht werden. Thema Krankenhausstruktur.

Viele Jahre wird inzwischen über eine Reform diskutiert. Fehlt es noch an Erkenntnissen oder am Willen zur Umsetzung?

Bauernfeind:
Sicher nicht an Erkenntnissen. Wir sind gespannt auf die Ergebnisse der Expertenkommission, die der Gesundheitsminister eingesetzt hat. Übrigens sitzen dort weder die Krankenkassen noch andere Verbände mit am Tisch. Sicher ist, dass wir in Ballungsräumen zu viele Kliniken, die eine unnötig angebotsinduzierte Nachfrage auslösen, und in der Fläche zu viele kleine, die viele Ressourcen binden, vorhalten und nicht alle eine gleichermaßen hohe Qualität erbringen. Die Zentralisierung von Spitzenmedizin einerseits und die sinnvolle Kombination von Kliniken, medizinischen Versorgungszentren sowie die intelligente Verknüpfung von ambulanter und stationärer Versorgung andererseits ist das Gebot der Stunde. Im Übrigen würde diese Vorgehensweise auch dazu führen, dem Mangel an Pflegepersonal und Ärzten entgegenzuwirken.


Weiterführende Informationen:

Stütz: Hier gibt es jedenfalls einen echten Handlungsdruck. Der Krankenhaussektor verschlingt gemessen an seiner Effizienz und Leistung zu viel Geld. Was die Strukturen im stationären Bereich anbelangt, ist Baden-Württemberg bereits weiter als andere Bundesländer. Leider finanzieren wir ineffiziente Strukturen der anderen Bundesländer durch den Risikostrukturausgleich mit. Hier braucht es einen starken politischen Gestaltungswillen und klare Rahmenbedingungen, um Strukturen bundesweit und vor allem in den Ballungsräumen zu verändern.

Zuletzt: Was sind aktuelle Entwicklungen, die Sie als AOK-Baden-Württemberg im Sinne der Versicherten aktiv vorantreiben?

Stütz:
Die Gesellschaft verändert sich. Sie wird immer digitaler und doch ist wichtig, dass wir vor Ort erreichbar sind. Wir sind GESUNDNAH und entwickeln unser KundenCenter-Konzept konsequent weiter. Wir sind und bleiben in den Kommunen und im Quartier vor Ort. Denn hier kooperieren wir im Netzwerk für eine gute Versorgung für unsere Versicherten. Gleichzeitig gilt es, für ein modernes Kundenerlebnis die digitale Kommunikation und die automatisierte Abwicklung der Anliegen unserer Kunden auszubauen.

Bauernfeind: Im Grunde sind wir damit wieder beim Thema Gesundheitskompetenz. Vor Ort braucht es uns als persönliche Ansprechpartner – und im Virtuellen auch. Die Entwicklung von (digitaler) Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung ist enorm wichtig, damit auch die digitalen Gesundheitsangebote ideal genutzt werden können. Wir gehen mit unserer Strategie im Netz und der Entwicklung von Apps – wie zum Beispiel ‚Meine AOK App‘ und ‚AOK Mein Leben‘ – den richtigen Weg.

Statements der Bezirksräte
In der Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) klafft eine immer größer werdende Lücke. Für 2023 liegt der prognostizierte Fehlbetrag bereits bei rund 17 Milliarden Euro. Mit dem GKV-Finanzstabilisierungsgesetz soll diese Lücke geschlossen werden. Auch die Bezirksrätinnen und -räte der AOK Baden-Württemberg kritisieren den Gesetzentwurf und sprechen über mögliche Lösungsansätze:

  • Horst Arndt, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Bodensee-Oberschwaben
  • Peter Brodmann, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Bodensee-Oberschwaben
  • Roland Schirmer, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Hochrhein-Bodensee
  • Luigi Colosi, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Ludwigsburg-Rems-Murr
  • Andreas Streitberger, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Neckar-Fils
  • Herbert Hilger, alternierender Vorsitzender des Bezirksrats der AOK Stuttgart-Böblingen