Jetzt aber wirklich

Nutriscore, Zuckersteuer, Werbeverbot, oder doch lieber freiwillige Selbstverpflichtungen? Über politische Maßnahmen zur Förderung (und Erleichterung) gesunder Ernährung wurde in den vergangenen Jahren viel geredet. Die Ergebnisse sind übersichtlich. Mit dem Wechsel von der GroKo zur Ampelkoalition gewinnt die Diskussion um eine zuckerärmere Ernährungsumgebung wieder an Fahrt.
Nach dem Regierungswechsel
Das Kabinett von Olaf Scholz hat bereits bei einigen im Koalitionsvertrag festgehaltenen Vorhaben aufs Tempo gedrückt. Das stimmt vorsichtig optimistisch, dass sich auch in Sachen Ernährungskompetenz, Zuckerreduktion und Lebensmittelvermarktung in der angelaufenen Legislaturperiode endlich etwas bewegen wird.
Endlich, weil sich nicht nur der AOK-Bundesverband, sondern auch Ärztinnen und Ärzte, Forschende, Fachgesellschaften, Bündnisse und NGOs längst vorkommen müssen wie eine Schallplatte mit Sprung. In der vergangenen Legislaturperiode hat man sich geradezu an der Bundesregierung abgearbeitet, um ernsthafte Verbesserungen im Sinne der Verbraucherinnen und Verbraucher zu erreichen. Drei Zuckerreduktionsgipfel veranstaltete der AOK-Bundesverband zwischen 2017 und 2020, lud Politik, Lebensmittelindustrie, Forschung und Verbände zur Diskussion. Diskutiert wurde mal mehr – z.B. mit dem Hauptgeschäftsführer der Zuckerverbände, Günter Tissen -, mal weniger – beispielsweise mit Julia Klöckner (CDU), da noch Ministerin für Ernährung.
Aktuelle Studienlage
Die Fakten liegen auf dem Tisch:
- Dass Deutschland mit der Corona-Pandemie zu kämpfen hat, nahm die Deutsche Diabetesgesellschaft (DDG) im vergangenen Jahr zum Anlass, auf die vergessene Diabetes-Pandemie hinzuweisen. Beinahe jeder zehnte erwachsene Bundesbürger ist erkrankt, Milliarden an Behandlungskosten sind die Folge.
- Mehr als die Hälfte der Bevölkerung hat zudem eine problematische Ernährungskompetenz, das ergab eine Studie des AOK-Bundesverbands im Jahr 2020. Die Ernährungskompetenz beschreibt, ob man bspw. Nährwertkennzeichnung richtig nutzt, Lebensmittel selbst zubereitet, Mahlzeiten bewusst einplant, sich trotz knapper Mittel gesund ernährt, oder Süßem widerstehen kann.
- Kinder sind in Fernsehen und Internet einer stetig steigenden Zahl von Werbung für ungesunde Lebensmittel ausgesetzt. Zu diesem Ergebnis kamen in vergangenen Jahr kurz hintereinander zwei Studien des AOK-Bundesverbands und von Foodwatch. Eine wichtige Rolle spielen dabei Influencer.
Verhältnisprävention statt Verhaltensprävention
Trotz all dieser Daten: Politisch bewegt hat sich kaum etwas. Julia Klöckner vertrat als Ministerin hartnäckig die Auffassung, dass eine freiwillige Selbstverpflichtung der Lebensmittelhersteller zur Zuckerreduktion ausreiche und gleichzeitig auch die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht bevormundet werden dürften. Der Vorwurf, der Lebensmittelindustrie näher zu stehen als den Verbrauchern, zog sich durch ihre Amtszeit und gipfelte in einem Shitstorm wegen eines gemeinsamen Videostatements mit den Deutschlandchef des Weltkonzerns Nestlé.
Wird im jetzt von den Grünen geführten Bundesministerium ein anderer Wind wehen? Immerhin enthält der Koalitionsvertrag einige positive Botschaften zum Thema Zucker. Geplant sind:
- die Aktualisierung der Standards für die Gemeinschaftsverpflegung in Schulen, Kitas u.ä.,
- das Verbot von Werbung für Lebensmittel mit hohem Zucker-, Fett- und Salzgehalt, die sich an Kinder richtet, bei Sendungen und Formaten für unter 14-Jährige,
- die EU-weite Weiterentwicklung des Nutriscores (Lebensmittelampel), und zwar wissenschaftlich und allgemeinverständlich, sowie
- wissenschaftlich fundierte und auf Zielgruppen abgestimmte Reduktionsziele für Zucker, Fett und Salz.
Möglichst zügig und konkret
Damit Bewegung in die Sache kommt, legte vor wenige Wochen ein breites Bündnis aus Verbraucherschutz- und Gesundheitsorganisationen sowie wissenschaftlichen Fachgesellschaften einen gemeinsamen Vorschlag vor. Das angedachte Verbot von an Kinder gerichteter Werbung für Lebensmittel greifen zu kurz, so das Bündnis. Stattdessen solle die Bundesregierung
- Influencer‐Werbung für Ungesundes komplett untersagen,
- in TV, Streaming und Radio entsprechende Werbung zwischen 6 und 23 Uhr verbieten, und
- für Plakatwerbung eine 100‐Meter‐Bannmeile im Umkreis von Kitas, Schulen und Spielplätzen einführen.
Selbstverpflichtung ist passé
Viele Verbote? Mag seid. Doch: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass es anders nicht zu schaffen ist. „Kinder sind tagtäglich den Lockrufen für ungesunde Lebensmittel ausgesetzt. Das begünstigt ungesunde Ernährungsmuster im Kindesalter und kann sich ein Leben lang negativ auf die Gesundheit auswirken“, erklärt Dr. Carola Reimann, Vorstandsvorsitzende des AOK-Bundesverbandes. Im Sinne der Prävention sei das Werbeverbot sinnvoll. „Die Zeit der wirkungslosen Selbstverpflichtungen der Lebensmittelindustrie ist passé“, ergänzt Barbara Bitzer, Sprecherin des Wissenschaftsbündnisses Deutsche Allianz Nichtübertragbare Krankheiten (DANK). Eingeflossen in das Positionspapier sind Erfahrungen aus der Ernährungspolitik in Chile, Großbritannien, Portugal, Spanien, Österreich.
Öffentlich reagiert hat Renate Künast, Parteikollegin des Ernährungsministers Cem Özdemir. Die ehemalige Bundesministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz und jetzige Sprecherin für Ernährung und Agrar ihrer Fraktion im Bundestag, erklärte bereits: „Das gemeinsame Positionspapier zeigt, wie groß der Handlungsbedarf bei Werbeeinschränkungen für Kindermarketing bei Lebensmitteln ist“, und signalisiert Gesprächsbereitschaft. Also: Ist es Zeit für Optimismus? Sagen wir es so: Der letzte Blogbeitrag zur Zuckerreduktion war das hier auf jeden Fall nicht.
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