»Täglich eine Stunde freiräumen«

Außer fröhlichem Vogelgezwitscher ist es vollkommen ruhig. Das saftige Grün der Sträucher, Bäume und des hohen Grases, die glatte Oberfläche des kleinen Weihers – Rolf Wachendorf führt zu seinem persönlichen Rückzugsort vor dem Stress und der Hektik des Alltags. Das Innehalten, sagt er, komme bei vielen Menschen mittlerweile viel zu kurz. Die Auswirkungen der Digitalisierung und der schneller werdenden Arbeitsprozesse erlebt er täglich in der Arbeit mit seinen Patientinnen und Patienten. Zeit für ein Gespräch – in vollkommener Ruhe.
Fast die Hälfte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer klagen über eine höhere Belastung durch die Digitalisierung, das zeigen aktuelle Studien. Zudem ist die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Belastungen fast doppelt so hoch wie vor zehn Jahren. Spüren Sie diese Entwicklung auch in Ihrer Praxis?
Zunächst ist Digitalisierung weder gut noch schlecht. Sie können mit den neuen Medien Ihre Neugier befriedigen, lernen oder Ihre sozialen Kontakte pflegen. Wenn Sie aber mehr als drei Stunden am Tag vor dem Smartphone verbringen und – vor allem – Apps nutzen, die nicht informieren, sondern nur programmiert wurden, um möglichst lange Aufmerksamkeit zu binden, kann sich das negativ auswirken. In meiner Praxis bin ich naturgemäß mit den negativen Auswirkungen der Digitalisierung konfrontiert.
Was für Auswirkungen sind das?
Gerade Menschen über 50 Jahren leiden beispielsweise an Erschöpfungszuständen, auch bekannt als „Burnout“. Manche Patienten klagen über Schlafmangel oder Depression. Bei Jugendlichen beobachte ich Konzentrationsschwächen oder den Verlust sozialer Fähigkeiten – etwa, direkt mit anderen Menschen zu kommunizieren. Ein Smiley ersetzt kein echtes Lächeln.
Und das resultiert aus der Digitalisierung?
Selbstverständlich kann das auch andere Gründe haben. Aber eine Ursache ist die fehlende Steuerung der Informationsflut. Dies bindet zu viel Aufmerksamkeit und reduziert so eine gesunde Lebensführung. Ein typisches Beispiel: Ein Patient hat beruflich mit Computerprogrammen zu tun, die derart mit Zusatzfunktionen überfrachtet sind, dass er damit die eigentlichen Aufgaben kaum noch wahrnehmen kann. Hinzu kommen regelmäßige Updates, nach denen der Mann erneut umlernen muss. Diese Komplexität und ständige Umorientierung überfordert ihn dann irgendwann. Er entwickelt Versagensängste und Depression.
Wie erklären Sie sich den Zusammenhang zwischen Digitalisierung und Depressionen?
Ein direkter Zusammenhang existiert nicht. Doch wenn auf uns ständig Informationen einstürmen, führt das zu einer dauerhaften Erregung des Körpers, wir sind ständig im Alarmmodus, kommen nicht mehr zur Ruhe. Schlafstörungen können die Folge sein, die manchmal in einer Depression münden. In einer Krise tun digitale Scheinwelten selten gut.
Wissen diese Patienten sofort über ihre gesundheitlichen Probleme Bescheid?
Eine psychische Erkrankung entwickelt sich meistens langsam und gerade im Fall einer Überlastung im Arbeitsleben auch oft ohne konkreten Ausgangspunkt. Deshalb erkennen viele Menschen ihre Lage erst, wenn die Symptome bereits ausgeprägt und die gesundheitlichen Beschwerden akut sind. Wichtig ist, dass Patientinnen und Patienten gerade in akuten Fällen einen direkten Zugang zu therapeutischer Behandlung haben. Über den Facharztvertrag Psychotherapie, Neurologie, Psychiatrie oder kurz: PNP-Vertrag, an dem auch die AOK Baden-Württemberg teilnimmt, wird Notfallpatienten am gleichen Tag ein Erstgespräch ermöglicht. Die Notfälle sind aber glücklicherweise nicht an der Tagesordnung. Die meisten meiner Patientinnen und Patienten kommen mit ersten Symptomen, die aber noch gut behandelbar sind.

Wie behandeln Sie einen solchen Patienten?
Zunächst frage ich, wie ein typischer Tag, eine typische Woche verläuft. Das Problem ist oft nicht, dass die Leute zu viel arbeiten, sondern wie sie arbeiten – unter hohem Zeitdruck beispielsweise. Bedenklich ist auch dieses Hin-und-Herspringen zwischen unterschiedlichen Aufgaben. Konzentrationsprobleme sind bei so einer Arbeitsweise nahezu zwangsläufig. Am Ende denkt der Beschäftigte nicht mehr strategisch, sondern reagiert nur noch reflexhaft. Andere entwickeln eine regelrechte Aversion gegen die Firma. Ein Ziel ist es in jedem Fall, dass die Patienten ihre Selbststeuerung wiederfinden.
Was heißt das konkret?
Wir überlegen, wie sich die Überlastung reduzieren lässt. „Selbststeuerung“ heißt, dass Aufgaben priorisiert werden. Was ist wichtig? Was kann warten? So vermeidet man das Gefühl, Aufgaben ausgeliefert zu sein, und gewinnt die Hoheit über sein Leben zurück. Außerdem müssen die Betroffenen lernen, in den Tagesablauf Ruhezeiten zu integrieren, in denen sie über einen längeren Zeitraum abschalten können. Wichtig ist, richtig abzuschalten. Wenn Sie tagsüber stundenlang auf einen Computerbildschirm blicken, hilft es wenig, abends vor dem Fernseher entspannen zu wollen. Dagegen können regelmäßige Spaziergänge im Grünen nach Büroschluss oder wöchentliche Café-Besuche mit Freundinnen und Freunden das Gefühl von Überforderung reduzieren.
In vielen Berufen erwarten die Chefs Erreichbarkeit auch nach Feierabend. Was dann?
Das stimmt. In diesen Fällen empfehle ich zwei Strategien. Erstens: die Arbeit nach Feierabend so weit wie möglich eingrenzen. Konditionieren Sie Ihre Umwelt. Alle können lernen, dass Sie Ihre Mails erst am folgenden Morgen beantworten. Wer ein wirklich wichtiges Anliegen hat, kann anrufen. Zweitens: Schaffen Sie sich einen Ausgleich. Räumen Sie sich täglich mindestens eine Stunde frei, in der Sie gar keine Chance haben, Anrufe entgegenzunehmen, Mails zu beantworten oder sich anderweitig mit beruflichen Problemen zu befassen – weil sie in der Zeit durch den Park joggen, im Freibad schwimmen oder im Kino sitzen.
Sie sind auch Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Wie erleben Sie Schülerinnen und Schüler, die mit Facebook, Instagram und WhatsApp aufwachsen?
Zu mir kommen oft Jugendliche, die in einer Scheinwelt verschwinden. Sie starren ständig auf ihr Smartphone, um nicht den Anschluss an ihre Freunde zu verlieren. Dabei verlieren sie gerade den direkten Draht zum richtigen Leben. Obwohl sie sich mit Gleichaltrigen austauschen, fühlen sie sich einsam, verlieren Selbstvertrauen.
Was raten Sie Eltern?
Grundsätzlich gilt: Je jünger ein Kind, desto weniger Zeit sollte es vor Laptop und Handy verbringen. Eltern sollten aufzeigen, dass die Flut aus Posts, Fotos und Videos mit der Wirklichkeit wenig zu tun hat, und sie sollten unbedingt soziale Kontakte außerhalb der Web-Blase fördern. Regeln – wie etwa beim Essen aufs Handy zu verzichten – helfen dabei, eine gesunde Distanz zu finden.
Und wie halten Sie selbst es mit der Abgrenzung von Arbeit und Freizeit?
Auch ich habe einen Beruf, der eine gewisse Erreichbarkeit erfordert. Aber ich setze Grenzen. Jeden Tag bekomme ich 40 bis 60 E-Mails. Die sortiere ich nach Dringlichkeit. An den Wochenenden schaue ich selten in mein Postfach. Und falls doch, dann überfliege ich Betreff-Zeilen oder Überschriften und reagiere nur, wenn unbedingt nötig. Alles andere kann bis Montag warten.
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Von Frank Brunner
Bildcredits: © Verena Müller
Bessere Versorgung für psychisch Kranke
Psychische Störungen zählen zu den häufigsten Ursachen krankheitsbedingter Fehltage – und das mit steigender Tendenz. Es wird also immer wichtiger, psychisch erkrankten Menschen eine schnelle Versorgung zu ermöglichen. „Durchschnittlich fünf Monate mussten Patientinnen und Patienten auf einen Platz für die Psychotherapie warten. Es hat mich immer belastet, Hilfesuchenden am Telefon sagen zu müssen, dass ich keine Zeit für sie habe“, erklärte Rolf Wachendorf bereits im Jahr 2011 gegenüber der „Ärzte Zeitung“, als es um die Vorstellung des sogenannten PNP-Facharztvertrags ging, der das ändern sollte.
Und dieser hat seither viel bewirkt: kürzere Wartezeiten auf einen Ersttermin in der Psychotherapie, ein Erstgespräch innerhalb von 14 Tagen, bei akuten Notfällen sogar am selben Tag. Möglich macht das der „Facharztvertrag Psychiatrie/Neurologie/Psychotherapie (PNP)“ zwischen teilnehmenden Fachärztinnen und -ärzten und Psychotherapeutinnen und -therapeuten, deren Berufsverbänden, der AOK Baden-Württemberg und dem MEDI Verbund Baden-Württemberg.
Die Vernetzung fachärztlicher, psychotherapeutischer und psychosozialer Angebote für rasche Hilfe und zielgenaue Behandlung ist Kernziel der gemeinsamen Vereinbarungen. Bei Bedarf ist eine vertrauensvolle und vertrauliche Zusammenarbeit und Vernetzung mit dem Sozialen Dienst der AOK vorgesehen, insbesondere für Themen wie „Beratung zur Rehabilitation und Teilhabe“ oder „Beratung von Angehörigen einschließlich der Versorgung von Kindern“. Im Haus- und FacharztProgramm eingeschriebene Versicherte erhalten so eine vernetzte Versorgung nach dem aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand, die sie in ihrer individuellen Situation flexibel, bedarfsgerecht und ganzheitlich unterstützt. Auch für Kinder und Jugendliche mit psychischen Störungen ermöglicht der PNP-Vertrag eine entsprechende Verbesserung der Versorgung. Sie wird bei Bedarf zusätzlich gefördert durch eine Therapie im gewohnten Umfeld.
Über 800 Fachärztinnen und -ärzte für Psychiatrie, Neurologie und Psychotherapie nehmen am PNP-Vertrag teil. Die mehr als 700.000 Versicherten, die in das AOK-FacharztProgramm eingeschrieben sind, profitieren dabei von allen Facharztverträgen. Einschreiben können sich Versicherte der AOK Baden-Württemberg, die bereits am AOK-HausarztProgramm teilnehmen.
Weiterführende Informationen
- Interessante Zahlen und Analysen zur Internetnutzung finden Sie in der Forsa-Studie, die im Auftrag der AOK Baden-Württemberg durchgeführt wurde.
- Lesen Sie auch die Pressemitteilung der AOK Baden-Württemberg zu diesem Thema.
- Die AOK-App "Lebe Balance" hilft Ihnen beim Achtsamkeitstraining. Sie können sie hier herunterladen. Bei Depressionen bietet Ihnen die App moodgym eine interaktive Hilfe zur Selbsthilfe.
Hilfreiches zum Thema Haus- und Facharztverträge
- Pressemitteilung zum PNP-Vertrag in Baden-Württemberg finden Sie hier.
- Auch Kinder und Jugendliche leiden vielfach bereits an psychischen Störungen und Verhaltensstörungen. Hier erfahren Sie mehr über das Modul Kinder- und Jugendpsychiatrie im PNP-Vertrag.
- Wie läuft das mit dem AOK-HausarztProgramm? Vorteile und Erklärungen - auch als Video - finden Sie hier.