Dreifachgewinn für die Pflege

Notfälle passieren immer nachts und am Wochenende. „Oder mittwochs nachmittags“, sagt Andrea Langenecker mit einem Augenzwinkern. „Dann haben die Hausarztpraxen hier in Bad Friedrichshall nämlich zu.“ Seit zwanzig Jahren ist Andrea Langenecker Altenpflegerin, und das Lachen ist ihr noch längst nicht vergangen. Obwohl es ihr nicht zu verdenken wäre. Schon der Beruf an sich ist anstrengend – körperlich und mental. Hinzu kommt der Fachkräftemangel, der die Belastung jedes und jeder Einzelnen an die Leistungsgrenze bringt. Das liegt auch daran, dass es immer wieder zu unnötigen Notfällen kommt. Dabei kann es auch anders gehen – das zeigt ein Modellprojekt der DRK-Residenz Bad Friedrichshall, in der Andrea Langenecker arbeitet.
Im hohen Alter können aus kleineren Beschwerden schnell ernste Erkrankungen und somit Notfälle werden: aus einem Schnupfen eine Lungenentzündung oder aus einer Magen-Darm-Grippe eine lebensbedrohliche Dehydrierung. Neben Andrea Langenecker kümmern sich etwa 40 Pflegekräfte um das Wohl der Bewohnerinnen und Bewohner der DRK-Residenz Bad Friedrichshall bei Heilbronn. Waschen, anziehen, auf die Einnahme der Medikamente achten – all das gehört zu ihren Aufgaben. Diese haben eine klare Grenze. So zumindest schreibt es der Gesetzgeber bislang vor.
»Früher war Altenpflege als ›Ausscheidungs-Management‹ verschrien.«
Andrea Langenecker, Altenpflegerin in der DRK-Residenz Bad Friedrichshall
In Bad Friedrichshall gelten diese Grenzen natürlich auch – jedoch versuchen Ärzte und Pflegekräfte jetzt, in einem Modellprojekt enger zusammenzuarbeiten. Hoch qualifizierte Medizinische Fachpflegekräfte (MFP) können – um Abläufe schneller, effizienter und damit auch angenehmer zu machen – nun Aufgaben übernehmen, die normalerweise Ärztinnen und Ärzten vorbehalten sind. Bei Fieber oder Schmerzen musste bislang die Hausärztin oder der Hausarzt kommen. Und selbst die Praxis aufzusuchen ist vielen Bewohnerinnen und Bewohnern nicht mehr möglich. Die Ressourcen sind bekanntermaßen begrenzt – Hausarztpraxen sind in den Sprechzeiten im Allgemeinen völlig ausgelastet. Dazwischen und danach immer wieder Hausbesuche. Und nachts müssen die Ärztinnen und Ärzte bei Notfällen noch zusätzlich aus dem Bett raus. Das Problem: Viele dieser Notfälle sind eigentlich gar keine.

Dr. Michael Malt kennt das nur zu gut. Der Hausarzt hat seine Praxis nahe beim Pflegeheim. Es ist ein idyllischer Spaziergang, der über den Fluss Kocher hinwegführt – kurze Wege sind ein Vorteil in ländlichen Gegenden, besonders wenn die nächste Klinik, eine Fachärztin oder der Facharzt viele Kilometer weit weg sind. Es ist Freitagnachmittag, die Praxis ist bereits leer, und Malt macht in der Stille noch die Buchhaltung der vergangenen Woche. Zwischen Abrechnungen und Akten erinnert sich Malt an Momente, die auch ihn als erfahrenen Arzt aus der Ruhe gebracht haben und am System haben zweifeln lassen.
Abläufe zu ändern ist schwierig
Es war mal nachts um zwei, erzählt Malt, als er aus dem Bett geklingelt wurde. Einer seiner Patientinnen gehe es schlecht, Verdacht auf Blasenentzündung. Der Pfleger durfte keine Diagnose stellen – also musste der Hausarzt kommen. Schließlich könnte es rein theoretisch auch etwas Schwerwiegenderes sein. „Ich bin also raus aus dem Bett, ins Pflegeheim – und es war eine Blasenentzündung!“, sagt Malt. Um 2.30 Uhr war er da, um 2.40 Uhr stellte er das Rezept aus, der Altenpfleger legte es in die Hauspost. „Ich habe dann gefragt, ob denn mit dem Rezept jetzt noch etwas passiere.“ Doch nachdem er eine ernste Erkrankung ausgeschlossen hatte, blieb das Rezept bis zum nächsten Morgen in der Hauspost liegen. „Mir geht es nicht darum, dass ich nachts rausmuss – aber es gibt viele Situationen wie diese, die nicht nötig sind, Geld kosten und das Gesundheitssystem belasten.“ Dieses Problem werde sich in Zukunft noch verschärfen, so Malt: Hausarztpraxen gibt es immer weniger – während die Bevölkerung immer älter, kränker und daher pflegebedürftiger wird.
Diese Abläufe zu ändern ist schwierig. Bei der Suche nach Alternativen geht es um Verantwortung, Kostendeckung und juristische Absicherung. Wer zahlt was? Wer trägt die juristischen und moralischen Konsequenzen, wenn etwas schiefgeht? Blutabnahmen oder Infusionen erfordern für gewöhnlich die Anwesenheit einer Ärztin oder eines Arztes, auch wenn’s sich nur um die Verabreichung einer Kochsalzlösung bei einer Magen-Darm-Grippe handelt. Ausnahmen bilden besonders qualifizierte Pflegefachkräfte, die als weitergebildete „Versorgungsassistentinnen und -assistenten in der Hausarztpraxis“ (VERAHs) beispielsweise selbstständig Hausbesuche durchführen dürfen. Dem regulären Pflegepersonal ist die Erledigung solcher Aufgaben nicht gestattet. Oft sind es in Pflegeheimen aber genau solche Kleinigkeiten, die, rein theoretisch, kurzerhand vor Ort von qualifizierten Pflegefachkräften in Abstimmung mit der Ärztin oder dem Arzt durchgeführt werden könnten.

Genau dieses „rein theoretisch“ wollten der Leiter der DRK-Residenz, Andreas Haupt, und Ärztinnen und Ärzte aus Bad Friedrichshall nicht auf sich beruhen lassen. Vor sechs Jahren entwickelten sie die Idee der „Medizinischen Fachpflegekräfte (MFP)“, also die Qualifizierung von Pflegefachkräften mit spezialisierter Fachweiterbildung (z. B. algesiologische Fachassistenz, Wund-, Gerontopsychiatrische Fachpflegekraft und/oder Palliativpflegefachkraft etc.) mit einem Programm, das für die Versorgungsassistenz in der Hausarztpraxis (VERAH) entwickelt und durch pflegespezifische Themen ergänzt wurde. Auf diese Weise können Aufgaben delegiert werden, die bislang Ärztinnen und Ärzten vorbehalten waren, die aber eben auch gut geschulte Pflegefachkräfte ausführen können. Bisher gab es solche Weiterbildungsmaßnahmen für medizinische Fachangestellte, jedoch noch nie für Altenpflegekräfte vor Ort.
Die engere Zusammenarbeit bringt einen Dreifachgewinn – eine „Win-win-win-Situation“ –, sowohl für Patientinnen und Patienten als auch für die Ärztinnen und Ärzte und ebenso für die Pflegefachkräfte. Die Menschen in den Pflegeheimen können besser und schneller in ihrem vertrauten Umfeld versorgt und Krankenhausaufenthalte aufs Nötigste begrenzt werden. So bringt das Projekt für die Ärztinnen und Ärzte eine erhebliche Entlastung und wertet andererseits den Beruf der Pflegefachkräfte auf.
Für Andrea Langenecker jedenfalls war das Projekt ein voller Erfolg. Sie ist eine von sieben medizinischen Fachpflegekräften in der Residenz Bad Friedrichshall. Die Zusammenarbeit mit den Ärztinnen und Ärzten macht ihr Spaß, und ihr Selbstbewusstsein ist gewachsen. „Früher war Altenpflege als ,Ausscheidungsmanagement‘ verschrien“, sagt sie, „heute ist das anders – zumindest bei mir.“

Nichts geschieht im Alleingang
Eine Ärztin oder ein Arzt ist für Andrea Langenecker stets erreichbar. Sie delegieren Aufgaben an sie oder werden zur Video-Visite per Tablet oder Laptop zugeschaltet. So können sie sich ein Bild davon machen, wie es den Patientinnen und Patienten geht, ob sie doch besser persönlich vorbeikommen sollten oder ob Andrea Langenecker oder eine Kollegin übernehmen kann. Ein gemeinsam genutztes IT-System ist in Arbeit, in dem die Kommunikation zwischen Ärztinnen und Ärzten und Pflegefachkräften noch verbessert wird.
Soll der Residenz-Leiter Andreas Haupt ein erstes Fazit ziehen, führt er gern das Beispiel des suprapubischen Blasenkatheters an. Also eines Blasenkatheters, der durch die Bauchdecke geht. Einen solchen haben einige Bewohnerinnen und Bewohner des Pflegeheims. Er muss alle vier bis sechs Wochen gewechselt werden, und das oblag bisher ausschließlich einem Urologen. Haupt muss schmunzeln, wenn er daran zurückdenkt: „Zuerst brauchten wir die Überweisung vom Hausarzt zum Urologen, dann einen Transportschein – den musste die Krankenkasse genehmigen –, und erst dann ging es in die urologische Praxis. Oder, wenn das alles nicht ging, stationär ins Krankenhaus.“ Andrea Langenecker fügt an: „Und heute machen wir das einfach hier.“
»Nichts geschieht im Alleingang – das ist allen hier ganz wichtig.«
Andrea Langenecker, Altenpflegerin in der DRK-Residenz Bad Friedrichshall
Nichts geschieht im Alleingang, das ist allen Beteiligten ganz wichtig. Der Arzt – in diesem Fall Hausarzt Dr. Malt – weiß über jeden Schritt Bescheid und ist immer erreichbar für die sieben medizinischen Fachpflegekräfte. „Den Krankenwagen mussten wir seitdem wesentlich seltener rufen“, kommentiert Andrea Langenecker, und Andreas Haupt nickt zufrieden.

Der nächste Schritt
Das AmbuNet-Projekt in Bad Friedrichshall war „nur“ ein Pilotprojekt. Doch alle Beteiligten einschließlich der Heimleitung würden es auch anderen Einrichtungen im ländlichen Raum weiterempfehlen. Dem kann die AOK Baden-Württemberg nur zustimmen. Der Erfolg des MFP-Projekts in Bad Friedrichshall zeigt, dass der richtige Weg eingeschlagen wurde. Der nächste Schritt soll nun ein größeres Folgeprojekt der AOK Baden-Württemberg sein, um die neuen Behandlungsabläufe auch an anderen Orten und Einrichtungen zu etablieren und evaluieren. Denn Pflege noch besser zu machen – das liegt allen am Herzen.
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Von Katharina Schönwitz
Bildcredits: © Verena Müller
»Den Krankenwagen mussten wir viel seltener rufen.«
Andreas Haupt, Leiter der DRK-Residenz Bad Friedrichshall
Weiterführende Informationen
Umfangreiche Infos rund um das Thema Pflege und Pflegebedürftigkeit finden Sie hier.
Bei der Suche nach Diensten, Pflegeheimen und Unterstützung hilft der Pflegenavigator der AOK Baden-Württemberg.
Interessante Zahlen, Fakten und Analysen zu dem Thema können Sie beim Statistischen Landesamt Baden-Württemberg und beim Wissenschaftlichen Institut der AOK (WIdO) einsehen.
Um mehr über das Projekt "Medizinische Fachpflegekraft (MFP)" der AOK Baden-Württemberg zu erfahren, schauen Sie dieses kurze Video.