Ausgezettelt - Der digitale Patient

Eine Patientin klagt über Gelenkschmerzen. Rheumatoide Arthritis, vermutet der Hausarzt und überweist sie deshalb an eine Spezialistin. Die Rheumatologin hat den Verdacht bestätigt, berichtet die Patientin beim nächsten Termin. Leider hat sie den Arztbrief, der ihr als Ausdruck mitgegeben wurde, in der morgendlichen Eile auf dem Küchentisch liegen lassen. Für den Hausarzt heißt das: hinterhertelefonieren. Erhält er schließlich ein Fax mit dem Befund, müssen die Informationen mühsam abgetippt werden, um sie in die Patientenakte seiner eigenen Praxis zu übertragen.
Szenen wie diese spielen sich tagtäglich in deutschen Hausarztpraxen ab. Denn im hiesigen Gesundheitssystem herrschen nach wie vor Zettelwirtschaft und Faxstandard. Damit hinkt Deutschland deutlich hinter anderen europäischen Ländern wie Estland, Dänemark oder Spanien her, wo Krankenhäuser, Praxen und Krankenkassen völlig selbstverständlich ohne Papier kommunizieren, Laborwerte digital versenden und elektronische Rezepte ausstellen.
Elektronischer Arztbrief statt Zettelwirtschaft
Dass es auch hierzulande anders geht, zeigt die elektronische Arztvernetzung in Baden-Württemberg. Dort gibt es seit Juli die „elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung“ (eAU) und seit August den „elektronischen Arztbrief“, kurz „eArztbrief“, der es Medizinerinnen und Medizinern ermöglicht, Patienteninformationen wie Diagnosen oder Medikationsinformationen digital auszutauschen. Mit dem ,eArztbrief‘ entfällt das aufwendige Ausdrucken, Einscannen und analoge Versenden von Befundberichten. Eine deutliche Entlastung für die Arztpraxen.
Mit der eAU können in Baden-Württemberg zudem auch Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen (AU) digital versendet werden – in Echtzeit aus der Arztpraxis an die AOK Baden-Württemberg. „Für die Patientinnen und Patienten entfällt der Postversand. Und das sofortige Vorliegen der AU ermöglicht im Krankengeldfall einen noch besseren Versichertenservice, insbesondere durch die schnellere Überweisung von Krankengeld“, erklärt Carmen Gaa, Projektleiterin elektronische Arztvernetzung bei der AOK Baden-Württemberg.
Bis Ende des Jahres führt die AOK Baden-Württemberg zusammen mit den Partnern zudem eine elektronische Medikationsinformation, die HAUSärztlich KOntrollierte MEdikamentöse Therapie (HAUS-KOMET), ein. Dadurch erhalten Hausärztinnen und Hausärzte und an der Behandlung beteiligte Fachärztinnen und Fachärzte die Möglichkeit, auf ein gemeinsames Medikationsdossier zuzugreifen, und erlangen Kenntnis über die Verordnungen der anderen Ärztinnen und Ärzte. Infolge dieser Transparenz können, in vielen Fällen, unerwünschte Arzneimittelwechselwirkungen reduziert werden.
Digitale Anwendungen stehen 7.500 Ärzten offen
Die IT-Anwendungen sind vorerst ausschließlich für die 7.500 Ärztinnen und Ärzte zugänglich, die am Haus- und FacharztProgramm der AOK Baden-Württemberg teilnehmen. Das Prinzip dieser regionalen Versorgungsstruktur ist einfach: Patientinnen und Patienten suchen immer zuerst ihre Hausarztpraxis auf, die, wenn nötig, die weitere Koordination zu Fachärztinnen und Fachärzten vornimmt. Dieses System hat die AOK Baden-Württemberg gemeinsam mit dem Hausärzteverband Baden-Württemberg sowie MEDI Baden-Württemberg vor mehr als zehn Jahren erfolgreich etabliert. Die Teilnahme auf Arzt- und Patientenseite ist freiwillig.
Bereits vor dem Startschuss der digitalen Arzt-Anwendungen in Baden-Württemberg hatten rund 1.000 Ärztinnen und Ärzte ihr Interesse an der Teilnahme bekundet. Um eine bestmögliche Nutzerfreundlichkeit zu gewähren, wurden die digitalen Fachanwendungen gemeinsam mit den ärztlichen Nutzervertreterinnen und -vertretern des Projekts entwickelt. Sie orientieren sich an etablierten Standards und Praxisroutinen und sind in das Praxisverwaltungssystem integrierbar.
Vertrauensverhältnis erleichtert Digitalisierung
Wie kommt es, dass die AOK Baden-Württemberg den digitalen Arztbrief & Co einführen kann, während es beim bundesweiten Vorhaben „Elektronische Patientenakte“ und der Telematikinfrastruktur seit Jahren hakelt?„Die Akteure der Alternativen Regelversorgung in Baden-Württemberg sind eingespielt – es besteht ein Vertrauensverhältnis“, lautet die Antwort von Michael Noll, dem Leiter des bundesweiten Projekts Digitales Gesundheitsnetzwerk der AOK. „In diesem Rahmen war es viel schneller möglich, sich auf gemeinsame Regeln für die Digitalisierung zu einigen, als auf der Ebene der Selbstverwaltung, wo die Interessen von Ärztinnen und Ärzten, Kliniken und Krankenkassen aufeinanderprallen und man sich nur mühsam auf einen gemeinsamen Nenner verständigt.“ Darüber hinaus nutzen alle an der Alternativen Regelversorgung teilnehmenden Ärztinnen und Ärzte bereits ein Software-Modul für die Abrechnung, welches auch als Konnektor zur sicheren Übermittlung von elektronischen Daten genutzt werden kann.
Laut Gesetz müssen die Krankenkassen hierzulande ihren Patienten bis 2021 eine elektronische Patientenakte als mobile Anwendung zur Verfügung stellen. Damit haben sie potenziellen Zugriff auf ihre medizinischen Daten, die, zunächst in Dokumentenform, Arztbriefe, Medikationspläne sowie für den Notfall relevante Daten umfassen. Und auch wenn in der bundesweiten Regelversorgung andere Parameter zugrunde liegen als bei der Hausarztzentrierten Versorgung in Baden-Württemberg, können die Erfahrungen aus dem „Ländle“ einen wichtigen Beitrag zur Gestaltung einer funktionierenden Telematikinfrastruktur für das deutsche Gesundheitswesen leisten. „Im AOK-Projekt Digitales Gesundheitsnetzwerk bringt sich die AOK Baden-Württemberg jedenfalls als eine der federführenden AOKs mit ein, da sie gemeinsam mit starken Partnern die Vernetzung schon heute in der Realität umsetzt“, betont Noll.
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Von Kati Borngräber
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