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BSG, 29.06.1995 - 11 RAr 9/95 - Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Verlegung des Wohnsitzes in das Ausland nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses; Grenzen einer progressiven Auslegung des Gemeinschaftsrechts; Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot und die Eigentumsgarantie
Bundessozialgericht
Urt. v. 29.06.1995, Az.: 11 RAr 9/95
Anspruch auf Arbeitslosengeld bei Verlegung des Wohnsitzes in das Ausland nach dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses; Grenzen einer progressiven Auslegung des Gemeinschaftsrechts; Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, das Diskriminierungsverbot und die Eigentumsgarantie
Verfahrensgang:
vorgehend:
LSG Bayern - 21.09.1994
Fundstellen:
NZS 1996, 84-87 (Volltext mit amtl. LS)
SGb 1996, 397-400 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
SozSich 1997, 80
ZAR 1996, 94 (red. Leitsatz)
BSG, 29.06.1995 - 11 RAr 9/95
Der 11. Senat des Bundessozialgerichts hat
ohne mündliche Verhandlung
am 29. Juni 1995
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 1994 wird zurückgewiesen.
Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
1
I
Der Rechtsstreit betrifft einen Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) für einen Zeitraum, in dem die Klägerin ihren Wohnsitz in Luxemburg hatte.
2
Die 1948 geborene Klägerin war bis zum 30. November 1989 als Pflegedienstleiterin in Baden-Baden beitragspflichtig beschäftigt. Nach ihrer Eheschließung am 3. November 1989 mit einem Beamten der europäischen Behörden in Luxemburg beendete sie ihr Beschäftigungsverhältnis und begründete nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) am 20. Dezember 1989 zusammen mit ihrem Ehemann einen Wohnsitz in Luxemburg.
3
Das Arbeitsamt (ArbA) Rastatt zahlte der Klägerin vom 1. bis 19. Dezember 1989 Alg. Mit einer vorgedruckten Veränderungsmitteilung teilte die Klägerin dem ArbA mit, sie werde am 20. Dezember 1989 nach Trier umziehen. Bei dem daraufhin für zuständig erklärten ArbA Trier stellte die Klägerin am 19. Dezember 1989 Antrag auf Weiterbewilligung von Alg. Als neuen Wohnsitz gab sie Luxemburg an. Das ArbA Trier lehnte den Antrag ab, weil die Klägerin ihren Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland habe und ihr auch nach überstaatlichem Recht Alg nicht zustehe (Bescheid vom 12. Februar 1990; Widerspruchsbescheid vom 19. April 1990).
4
Mit der Klage hat die Klägerin vorgetragen, sie habe einen weiteren Hauptwohnsitz in Baden-Baden beibehalten und deshalb ein Wahlrecht, welcher Arbeitsverwaltung sie sich zur Verfügung stelle. Sie habe sich beim ArbA Trier arbeitslos gemeldet, weil sie nicht über Fremdsprachenkenntnisse verfüge und ihre Zeugnisse in Luxemburg nicht anerkannt worden seien. Dort könne sie eine ihrer letzten Beschäftigung vergleichbare Berufstätigkeit nicht aufnehmen.
5
Das Sozialgericht (SG) hat die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) verurteilt, der Klägerin Alg zu zahlen. Es hat sich auf das Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vom 12. Juni 1986 - Rs 1/85 Miethe - (EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr. 8) bezogen, wonach ein arbeitsloser Arbeitnehmer, der im Mitgliedstaat der letzten Beschäftigung persönliche und berufliche Beziehungen aufrechterhalte, so daß er dort die besten Wiedereingliederungsaussichten habe, zu dem Personenkreis gehöre, dem Art 71 Abs. 1 Buchst b der Verordnung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWGV) 1408/71 ein Wahlrecht einräume (Urteil des SG vom 13. März 1991).
6
Das LSG hat dieses Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 21. September 1994). Es hat ausgeführt, die Klägerin habe den Mittelpunkt ihrer Lebensbeziehungen und damit ihren Wohnsitz in Luxemburg. Ein Anspruch auf Alg stehe ihr nach überstaatlichem Recht nicht zu. Bis zum Ende ihrer Beschäftigung am 30. November 1989 seien ihr Wohnstaat und ihr Beschäftigungsstaat identisch gewesen. Sie sei damit weder "Grenzgänger" noch "Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist" i.S. des Art 71 Abs. 1 Buchst b EWGV 1408/71. Diese Rechtsfolge sei mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz, dem Diskriminierungsverbot und der Eigentumsgarantie zu vereinbaren.
7
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin sinngemäß eine Verletzung des Art 71 Abs. 1 Buchst b EWGV 1408/71. Diese Vorschrift solle sicherstellen, daß ein Arbeitnehmer im Bereich der Europäischen Union (EU) Ansprüche auf Leistungen desjenigen Staates habe, der ihm für die Arbeitssuche die günstigsten Voraussetzungen biete. Von ihrem Wohnort Luxemburg aus könne sie nur im ArbA-Bezirk Trier eine zumutbare Arbeit finden. Es sei nicht nachvollziehbar, weshalb im vorliegenden Falle die Grundsätze, die der EuGH in der Entscheidung vom 12. Juni 1986 entwickelt habe, hier nicht zu berücksichtigen seien. Das LSG übersehe den Zweck der Vorschrift. Danach könne es nicht darauf ankommen, ob der Anspruchsteller erst nach der Beendigung seines Beschäftigungsverhältnisses den Wohnort wechsle oder bereits zuvor. Vielmehr solle die soziale Sicherheit der sog. "untypischen Grenzgänger" gewährleistet werden. Andernfalls fielen diese Arbeitnehmer durch das soziale Netz der Arbeitslosenversicherung, weil sie während der Arbeitslosigkeit weder vom Beschäftigungsstaat, noch vom Wohnstaat Leistungen erhielten.
8
Mit Schriftsatz vom 25. April 1995 hat die Klägerin mitgeteilt, entgegen dem Tatbestand des angefochtenen Urteils habe sie bereits mit ihrer Eheschließung am 3. November 1989 ihren Wohnsitz in Luxemburg begründet.
9
Die Klägerin beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 21. September 1994 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 13. März 1991 zurückzuweisen.
10
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
11
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und bezieht sich auf die in dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 8. Juli 1993 - 7 RAr 44/92 - vertretene Rechtsansicht.
12
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz [SGG]).
Gründe
13
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet, denn die Entscheidung des LSG beruht nicht auf einer Gesetzesverletzung (§ 170 Abs. 1 SGG). Sie steht insbesondere im Einklang mit Art 71 Abs. 1 Buchst b EWGV 1408/71 und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH.
14
1.
Ein Anspruch der Klägerin auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit läßt sich nicht unmittelbar auf Vorschriften des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) stützen, denn § 30 Abs. 1 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB I) beschränkt den Geltungsbereich des SGB, zu dem nach Art II § 1 Nr. 2 SGB I auch das AFG gehört, auf Personen, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im räumlichen Geltungsbereich des SGB - Deutschland - haben. Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Sie hat ihren Wohnsitz nach den nicht mit Revisionsrügen angegriffenen und daher für den Senat bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) seit 20. Dezember 1989 in Luxemburg verlegt.
15
Nach der auch für die Arbeitslosenversicherung verbindlichen Legaldefinition des § 30 Abs. 3 Satz 1 SGB I - abweichende Regelungen gelten für Ansprüche auf Alg nicht (§ 37 SGB I) - hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Maßgebend sind danach die tatsächlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten. Um Manipulationen des anzuwendenden Rechts entgegenzuwirken, kommt es nicht auf den Willen, an einem Ort einen Wohnsitz zu begründen, und auch nicht auf die polizeiliche Meldung an (BSGE 53, 49, 52 = SozR 5870 § 2 Nr. 25). Das bedeutet, daß eine Person nur einen Wohnsitz im Sinne des Sozialrechts innehaben kann, weil § 30 Abs. 3 SGB I darauf abstellt, daß eine Wohnung innegehabt und benutzt, also nicht nur unterhalten wird. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG hat die Klägerin ihre Eheschließung zum Anlaß genommen, zu ihrem Ehemann nach Luxemburg zu ziehen und sich der Arbeitsvermittlung durch das ArbA Trier zur Verfügung zu stellen. Sie hat damit ihre persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in einer Weise gestaltet, die es ausschließt, einen Wohnsitz in Baden-Baden anzunehmen, auch wenn die Klägerin hier weiterhin eine Wohnung unterhalten sollte.
16
Aus den gleichen Gründen hat die Klägerin ihren gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Deutschland, denn die festgestellten Umstände lassen erkennen, daß sie wegen ihres Lebensmittelpunktes in Luxemburg allenfalls vorübergehend in Deutschland verweilt (§ 30 Abs. 3 Satz 2 SGB I).
17
2.
Ein Anspruch der Klägerin gegen die BA läßt sich auch nicht durch die in § 30 Abs. 2 SGB I vorbehaltenen Regeln des Rechts der EU begründen. Diese setzen die territorialen Grenzen der Geltung mitgliedstaatlichen Rechts voraus und erweitern diese Geltung für bestimmte Gruppen von Arbeitnehmern (EuGHE 1980, 1979 = SozR 6050 Art 69 Nr. 6). Diese Vorschriften greifen aber für den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht ein.
18
2.1
Nach Art 69 Abs. 1 EWGV 1408/71 behält ein arbeitsloser Arbeitnehmer unter weiteren hier nicht zu erörternden Voraussetzungen seinen Anspruch auf Alg für grundsätzlich drei Monate, wenn er sich aus dem zuständigen Staat - das ist der Staat des Beschäftigungsorts (Art 1 Buchst q, Art 13 Abs. 2 Buchst a EWGV 1408/71) - in einen anderen Mitgliedstaat der EU begibt, um dort eine Beschäftigung zu suchen. Diese Regel ist hier nicht anwendbar, denn die Klägerin hat sich aus Deutschland nicht nach Luxemburg begeben, um dort eine Beschäftigung zu suchen, wie insbesondere ihre Arbeitslosmeldung beim ArbA Trier zeigt. Sie hat sich bei der Arbeitsverwaltung Luxemburgs nicht als Arbeitssuchende gemeldet und der dortigen Kontrolle unterworfen (Art 69 Abs. 1 Buchst b EWGV 1408/71). Deshalb hätte sie auch ihre Anwartschaft auf Alg nicht nach Art 69 Abs. 2 EWGV 1408/71 verloren, weil sie nicht vor Ablauf von drei Monaten nach Deutschland zurückgekehrt ist. Bei Begründung eines Wohnsitzes in Deutschland innerhalb der Verfallfrist von vier Jahren nach Entstehung des Anspruchs (§ 125 Abs. 2 AFG) am 1. Dezember 1989 hätte sie - bei Vorliegen der Voraussetzungen im übrigen (§§ 100ff. AFG) - ihren Anspruch auf Alg realisieren können. Die - hier nicht einschlägigen - Grenzen der Koordinierung mitgliedstaatlicher Systeme der sozialen Sicherung nach Art 69 Abs. 1 EWGV 1408/71 hat der EuGH damit gerechtfertigt, daß es sich um eine eigenständige Ausnahmeregelung zu den Vorschriften des innerstaatlichen Rechts handele (EuGHE 1980, 1979 = SozR 6050 Art 69 Nr. 6).
19
2.2
Für Grenzgänger und näher bestimmte "Arbeitnehmer, die nicht Grenzgänger sind" ("untypische" oder "unechte" Grenzgänger) begründet Art 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 Vergünstigungen zur Verwirklichung ihrer Freizügigkeit. Diese Regelung gilt nach dem eindeutigen Wortlaut des Einleitungssatzes der Vorschrift nur für arbeitslose Arbeitnehmer, die während ihrer letzten Beschäftigung im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates als des zuständigen Staates wohnten. Zu diesem Personenkreis gehört die Klägerin nicht. Sie hat während ihrer bis zum 30. November 1989 dauernden Beschäftigung in Baden-Baden an ihrem Beschäftigungsort gewohnt. Ihren Wohnsitz in Luxemburg hat sie nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG erst am 20. Dezember 1989 begründet. Mit der in ihrem Schriftsatz vom 25. April 1995 enthaltenen Behauptung, sie habe bereits mit der Eheschließung am 3. November 1989 ihren Wohnsitz in Luxemburg begründet, kann die Klägerin nicht gehört werden. Es handelt sich dabei um neuen Tatsachenvortrag in der Revisionsinstanz, der nach § 163 SGG unzulässig ist, weil der Revisionsrechtszug nur der rechtlichen Überprüfung des angefochtenen Urteils dient. Neue Tatsachen sind in der Revisionsinstanz nur zu beachten, soweit sie zur Begründung von Verfahrensrügen innerhalb der Revisionsbegründungsfrist vorgetragen werden. Diese Frist von zwei Monaten nach Zustellung des am 16. Januar 1995 wirksam zugestellten Urteils (§ 164 SGG) hat die Klägerin mit dem Schriftsatz vom 25. April 1995 nicht gewahrt.
20
Der EuGH hat bereits entschieden, daß Art 71 EWGV 1408/71 nicht für solche Arbeitslosen gilt, die ihren Wohnsitz erst nach Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses in einem anderen Mitgliedstaat als dem Beschäftigungsstaat begründet haben (EuGHE 1984, 3507 = SozR 6050 Art 71 Nr. 7). Entgegen der Ansicht der Revision ist es deshalb entscheidungserheblich, daß die Klägerin nicht während der Beschäftigung in Baden-Baden, sondern erst nach deren Beendigung nach Luxemburg verzogen ist. Die Grenzen der Anwendbarkeit dieser Koordinierungsvorschrift beruhen auf der Systematik der das Recht der Mitgliedstaaten ergänzenden europarechtlichen Regelungen. Diese stützen die Freizügigkeit von Arbeitnehmern, die während bzw. nach Beendigung der Beschäftigung in einem Mitgliedstaat ihren Wohnsitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegen, nur begrenzt und in unterschiedlicher Weise. Art 69 Abs. 1 EWGV 1408/71 legt die Voraussetzungen fest, unter denen bei einem Wohnsitzwechsel in einen anderen Mitgliedstaat als den Beschäftigungsstaat Ansprüche auf Leistungen wegen Arbeitslosigkeit "mitgenommen" werden können. Art 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 betrifft dagegen die Gewährung von Leistungen an eine bestimmte Gruppe arbeitsloser Arbeitnehmer, nämlich diejenigen, die während ihrer letzten Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat als dem zuständigen (Beschäftigungs-) Staat wohnten (EuGHE 1977, 315 = SozR 6050 Art 71 Nr. 2; EuGHE 1977, 2311; EuGHE 1984, 3507 = SozR 6050 Art 71 Nr. 7; EuGHE 1988, 5125 = SozR 6050 Art 71 Nr. 10; EuGHE 1992, 4341 = SozR 3-6050 Art 71 Nr. 3; EuGH SozR 3-6050 Art 71 Nr. 4; BSG SozR 3-6050 Art 71 Nrn 2 und 5; BSG Urteil vom 8. Juli 1993 - 7 RAr 44/92 -). Deshalb können für die Auslegung der Einzeltatbestände des Art 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 maßgebende Überlegungen, auf die sich die Revision beruft, nur durchgreifen, soweit der im Einleitungssatz der Vorschrift festgelegte Personenkreis betroffen ist. Die vom EuGH in seinem Urteil vom 12. Juni 1986 (EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr. 8) angestellten Erwägungen sind deshalb für den hier zu beurteilenden Sachverhalt nicht einschlägig. In jenem Verfahren hat der EuGH den Kläger, der an sich Grenzgänger war, als "Arbeitnehmer, der nicht Grenzgänger ist", i.S. des Art 71 "angesehen", weil er über die letzte Beschäftigung hinaus im Beschäftigungsstaat ein Büro unterhalten hat, von dem aus er seine Tätigkeit als Arbeitnehmer und während der Arbeitslosigkeit die Arbeitssuche betrieb. Über solche "persönlichen und beruflichen Bindungen" verfügt die Klägerin nicht. Selbst wenn sie weiterhin eine Wohnung in Baden-Baden aufrechterhalten sollte, dient diese nicht der Arbeitssuche, weil sie sich in Trier arbeitssuchend gemeldet hat. Der vom EuGH herausgestellte Zweck des Art 71 Abs. 1 EWGV 1408/71, "dem Wanderarbeitnehmer Leistungen bei Arbeitslosigkeit zu den Bedingungen zu garantieren, die für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz am günstigsten sind" (EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr. 8; EuGHE 1992, 4341 = SozR 3-6050 Art 71 Nr. 3), enthält nach der angeführten Rechtsprechung des EuGH keinen allgemeingültigen Grundsatz. Andernfalls wären die begrenzenden Einzelregelungen der Vorschrift nicht verständlich. Der EuGH hat für deren Auslegung auch auf ihre Funktion hingewiesen, die mitgliedstaatlichen Vorschriften über die soziale Sicherheit zu koordinieren und die Lasten zwischen den mitgliedstaatlichen Sicherungssystemen zu verteilen. Dem werde ein Recht der Versicherten, generell das in Anspruch zu nehmende Sicherungssystem zu wählen, nicht gerecht (EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr. 8; EuGHE 1988, 3467 = SozR 6050 Art 71 Nr. 9). Auch soweit der EuGH betont hat, Art 71 Abs. 1b EWGV 1408/71 zähle die Personen, die die dort begründete Vergünstigung in Anspruch nehmen können, nicht abschließend auf, hat er daran festgehalten, daß die Vorschrift den Wechsel des Wohnsitzes in einen anderen Mitgliedstaat während der Beschäftigung voraussetzt (EuGHE 1988, 5125 = SozR 6050 Art 71 Nr. 10). Hieran hat sich auch die Rechtsprechung des BSG gehalten (BSG Urteil vom 8. Juli 1993 - 7 RAr 44/92 -; BSG SozR 3-6050 Art 71 Nr. 5).
21
Wegen des durch die Merkmale der Art 69 Abs. 1, 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 begrenzten sozialen Schutzes bei Arbeitslosigkeit für Arbeitnehmer, die von ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch machen, wird vorgeschlagen, einer Arbeitnehmerin auch dann einen Anspruch auf Leistungen bei Arbeitslosigkeit zuzuerkennen, wenn sie ihrem Ehemann in einen anderen Mitgliedstaat während ihrer Arbeitslosigkeit folgt und sich der Arbeitsvermittlung des Beschäftigungsstaates zur Verfügung stellt (Gagel in: Festschrift zum 40jährigen Bestehen der Sozialgerichtsbarkeit in Rheinland-Pfalz [1994], 383, 397ff.). Trotz des vom EuGH herausgestellten Gedankens, die Vermittlungschance Arbeitsloser in der EU zu optimieren, begegnet diese Ansicht zum derzeit geltenden Recht durchgreifenden Bedenken. Sie vernachlässigt die in der ständigen Rechtsprechung des EuGH und BSG - wie dargelegt - berücksichtigten Auslegungsmerkmale des Wortlauts, der Systematik und Koordinierungsfunktion der Art 69 Abs. 1, 71 Abs. 1 EWGV 1408/71. Die in diesen Vorschriften enthaltene Verteilung der Lasten zwischen den mitgliedstaatlichen Sicherungssystemen bei Eintritt von Arbeitslosigkeit hat die Rechtsanwendung zu beachten. Der Senat kann sich die gegenteilige Ansicht zum geltenden Recht nicht zu eigen machen. Dies gilt um so mehr, als "Initiativen zur Neuregelung" zur Diskussion stehen, die die Regelung des Art 69 EWGV 1408/71 ergänzen sollen (vgl. dazu EG-Kommission, Die soziale Dimension des Binnenmarktes, BT-Drucks 11/4645 S. 18; Gagel a.a.O. 395 ff; Lenze info also 1995, 19, 24 f; Eichenhofer ZIAS 1991, 161, 163, 174f., 184 ff; ders in: Eichenhofer (Hrsg), Reform des Europäischen koordinierenden Sozialrechts, 1993, 101 ff; Heinze in: von Maydell/Schnapp (Hrsg), Die Auswirkungen des EG-Rechts auf das Arbeits- und Sozialrecht der Bundesrepublik, 1992, 47ff.). Die richterliche Ergänzung der in Art 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 allein für echte und unechte Grenzgänger getroffenen Regelungen auf andere Personengruppen wäre damit nicht vereinbar.
22
Voraussetzungen richterlicher Rechtsfortbildung - "Delegation" der Rechtsfindung an die Rechtspraxis oder planwidrige Unvollständigkeit des geltenden Rechts (Gesetzeslücke) - sind hier nicht gegeben (vgl. dazu: BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr. 11; BSGE 58, 110, 114 = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr. 6; BSGE 60, 176, 178 = SozR 2600 § 57 Nr. 3; BSGE 63, 246f. = SozR 2400 § 25 Nr. 1; BSGE 65, 8, 18 = SozR 1300 § 48 Nr. 55; BSG-Urteil vom 10. Mai 1995 - 1 RK 20/94 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Anschaulich spricht die EG-Kommission (a.a.O. S. 18) im vorliegenden Zusammenhang von einem "Rechtsvakuum". Dieses beruht auf der unterschiedlichen Finanzkraft und u.a. damit zusammenhängend, unterschiedlichen Sicherungssystemen der Mitgliedstaaten. Diese Umstände wirken der nach Art 51 EG-Vertrag (EGVtr) im Interesse der Freizügigkeit von Arbeitnehmern anzustrebenden Koordination der Sozialleistungssysteme entgegen und verlangen nach nicht mit richterlichen Einzelfallentscheidungen zu bewirkenden generellen und differenzierenden Regelungen (vgl. dazu Eichenhofer ZIAS 1991, 161, 184 ff; Heinze a.a.O. 59ff.). Ausdrücklich weist Art 51 EGVtr dem Rat die Aufgabe zu, auf Vorschlag der Kommission, die zur Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer notwendigen Maßnahmen einstimmig zu beschließen. Dem entspricht es, wenn der EuGH die in Art 69, 71 EWGV 1408/71 bruchstückhaft enthaltenen Koordinierungsregeln nur punktuell weiterentwickelt hat. Soweit der EuGH eine progressive Auslegung im Hinblick auf die Realisierung von Vertragszielen (Integrationsmaßstab der Auslegung, Effektivitätsgrundsatz, effet utile) vorgenommen hat, ist dies für die jeweils behandelte Sachproblematik bedeutsam, aber nicht geeignet, anerkannte Auslegungskriterien wie Wortlaut, Systematik, konkreter Regelungszweck oder Interessenabwägung auszuschalten (vgl. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, S. 131 ff; Oppermann, Europarecht, 1991, 218f.). Für den hier zu beurteilenden Sachverhalt hat der EuGH - wie ausgeführt - die genannten Kontrollelemente der Auslegung als maßgeblich erachtet und die Regelungen der Art 69 und 71 EWGV 1408/71 als Ausnahmen vom Territorialitätsgrundsatz wegen der in ihnen enthaltenen Lastenverteilung zwischen den mitgliedstaatlichen Sicherungssystemen nicht als erweiterungsfähig angesehen (EuGH 1984, 3507 = SozR 6050 Art 71 Nr. 7; EuGHE 1986, 1837 = SozR 6050 Art 71 Nr. 8; EuGHE 1988, 3467 = SozR 6050 Art 71 Nr. 9).
23
2.3
Auch wenn die für die Arbeitslosenversicherung geltenden Koordinierungsregeln der Art 69 und 71 EWGV 1408/71 reformbedürftig sind (Eichenhofer ZIAS 1991, 161, 184ff.), sind sie mit dem primären Gemeinschaftsrecht vereinbar. Art 51 EGVtr enthält lediglich eine Zielbestimmung, die gesonderter Umsetzung durch die rechtsetzenden Organe der EU bedarf. Das Diskriminierungsverbot (Art 6 Abs. 1 EGVtr) und der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art 48 Abs. 2 EGVtr) sind nicht verletzt, denn diese Regeln treffen alle europäischen Marktbürger gleichmäßig ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit.
24
Die Eigentumsgarantie (Art 14 Grundgesetz [GG]) ist nicht verletzt. Die begrenzte Weitergewährung von Leistungen bei Arbeitslosigkeit bei Auslandsberührung eröffnet für Arbeitnehmer zur Verwirklichung ihrer Freizügigkeit innerhalb der EU begrenzt Vergünstigungen, die ihnen andernfalls nicht zuständen (EuGHE 1980, 1979 = SozR 6050 Art 69 Nr. 6). Die Vorschriften greifen damit nicht in Rechte ein, sondern enthalten begünstigende Ausnahmeregelungen zu den innerstaatlich begründeten Ansprüchen auf Arbeitslosigkeit (BSG SozR 6050 Art 69 Nr. 4).
25
Auch das Willkürverbot (Art 3 Abs. 1 GG) ist nicht berührt, denn die geltenden Regelungen sind - wie der EuGH mit dem Hinweis auf die Lastenverteilung zwischen den Mitgliedstaaten herausgestellt hat (EuGHE 1988, 3467 = SozR 6050 Art 71 Nr. 9) - sachlich begründet. Die Reformbedürftigkeit der Koordinierungsregelungen läßt sie nicht als willkürlich erscheinen, denn das Willkürverbot fordert nicht die optimale gesetzliche Regelung einer Materie (vgl. zB: BVerfGE 83, 395, 401; BGHZ 112, 163, 173 [BGH 30.07.1990 - NotZ 2/90]; BFHE 170, 410, 416) [BFH 19.02.1993 - VI R 74/91]. Dies gilt um so mehr, wenn - wie hier - komplexe Zusammenhänge wie die Koordination der unterschiedlichen Sicherungssysteme von Mitgliedstaaten der EU zu bewältigen sind (vgl. zB: BVerfGE 78, 249, 288; BVerwGE 88, 354, 367).
26
3.
Der Senat ist durch Art 177 Abs. 3 EGVtr nicht gehindert, ohne Vorabentscheidung des EuGH zu entscheiden. Zwar ist die Entscheidung von der Auslegung der Art 69 Abs. 1 und 71 Abs. 1 EWGV 1408/71 abhängig. Entsprechend der Aufgabe des EuGH, eine einheitliche Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, besteht eine Vorlagepflicht nicht, wenn die Auslegung entscheidungserheblicher Normen durch die bisherige Rechtsprechung des EuGH bereits geklärt ist (BSGE 70, 206, 215 = SozR 3-4100 § 4 Nr. 3 m.w.N.). Dies trifft hier zu, denn der EuGH hat - wie ausgeführt - den Anwendungsbereich dieser Normen gerade für die hier zu beurteilende Sachlage bereits in ständiger Rechtsprechung abgegrenzt.
27
Die Revision kann nach alledem keinen Erfolg haben.
28
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.11 RAr 9/95