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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Tarifvertrag - Allgemeinverbindl. Tarifverträge
Tarifvertrag - Allgemeinverbindl. Tarifverträge
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.
- 6.
- 7.
- 8.Rechtsprechungs-ABC
- 8.1
- 8.2
- 8.3
- 8.4
- 8.5
- 8.6
- 8.7
- 8.8
- 8.9
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Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber ist rechtlich nicht gezwungen, Mitglied eines Arbeitgeberverbands zu sein. Die in Art. 9 Abs. 3 GG garantierte Koalitionsfreiheit umfasst nicht nur die positive, sondern auch die negative Koalitionsfreiheit. Das heißt, wer sich als Arbeitgeber tariflich nicht organisieren oder organisieren lassen will, hat das Recht, dem Branchenverband fern zu bleiben. Ob das immer sinnvoll ist, ist eine Frage, die nur im Einzelfall beantwortet werden kann. Tarifbindung hat auch Vorteile. Aber selbst wenn man sich für die negative Koalitionsfreiheit entschieden hat: Es kann passieren, dass ein Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wird und man dadurch doch in die Tarifbindung kommt - ob man das will oder nicht.
Praxistipp:
Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die von der Allgemeinverbindlichkeit betroffen werden würden, ist im Erklärungsverfahren Gelegenheit zur schriftlichen Stellungnahme sowie zur Äußerung in einer mündlichen und öffentlichen Verhandlung zu geben, § 5 Abs. 2 TVG. Wer als Arbeitgeber gegen eine Allgemeinverbindlicherklärung Bedenken hat, sollte diese Bedenken unbedingt anmelden - und das rechtzeitig. Anträge auf Allgemeinverbindlicherklärung werden regelmäßig zusammen mit der gesetzten Stellungnahmefrist im Bundesanzeiger veröffentlicht.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG für allgemeinverbindlich erklären, wenn "die Allgemeinverbindlicherklärung im öffentlichen Interesse geboten erscheint." Passiert das, erfassen die Rechtsnormen des Tarifvertrags "in seinem Geltungsbereich auch die bisher nicht tarifgebundenen Arbeitgeber und Arbeitnehmer" (§ 5 Abs. 4 Satz 1 TVG). Das ist eigentlich ein Ergebnis, das wider die negative Koalitionsfreiheit steht - aber von der Rechtsordnung getragen wird (vgl. dazu nur BVerfG, 03.07.2000 - 1 BvR 945/00). So ist bei allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen davon auszugehen, dass die negative Koalitionsfreiheit eines Arbeitgebers nicht dadurch verletzt wird, "dass für sein Arbeitsverhältnis solche Inhaltsregelungen gelten, die von ihm fremden Verbänden ausgehandelt worden sind" (so: BVerfG, 03.07.2000 - 1 BvR 945/00).
2. Tarifbindung durch Organisationszugehörigkeit
Das Wirtschaftsleben wird immer noch durch Tarifverträge bestimmt. Sie haben trotz aller Kritik nicht an Bedeutung verloren. Und das gilt selbst für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die bewusst auf eine Mitgliedschaft in ihrem Arbeitgeberverband oder in ihrer Gewerkschaft verzichtet haben - oder in Zukunft verzichten möchten.
Tarifgebunden sind im Regelfall nur die Mitglieder der Tarifvertragsparteien und die Arbeitgeber, die selbst Partei eines Tarifvertrags sind (§ 3 Abs. 1 TVG, s. dazu auch das Stichwort Tarifvertrag - Tarifgebundenheit).
Beispiel:
Andy Arbeydt ist Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten - NGG. Andys Arbeitgeber ist im regionalen Hotel- und Gaststättenverband organisiert. Beide sind Mitglied ihrer Tarifvertragspartei und wegen dieser Organisationszugehörigkeit tarifgebunden. Auf das Beschäftigungsverhältnis finden die Tarifverträge des Hotel- und Gaststättengewerbes - DEHOGA - Anwendung.
Lisa Laßmann ist Mitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft - GEW. Sie arbeitet in der Kita "Pusteblümchen", einer von Eltern frei organisierten Kindertagesstätte. Die Pusteblümchen-Kita ist vereinsrechtlich strukturiert, Träger ist der Glückseltern e.V. - der keinem einschlägigen Arbeitgeberverband angehört. Auf Lisas Arbeitsverhältnis sind keine Tarifverträge anzuwenden. Ihr Arbeitgeber ist kein Mitglied einer Tarifvertragspartei. Die Gewerkschaftszugehörigkeit nützt Frau Laßmann hier nichts.
Die Horst Borg GmbH ist Mitglied des Steinfurter Arbeitgeberverbands e.V. (StAVerb), der sich im münsterländischen Kreis Steinfurt um Dienstleistungsbetriebe kümmert, die keinem Branchenverband angehören. Der StAVerb hat mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di einen Tarifvertrag über Mindestarbeitsbedingungen im Kreis Steinfurt geschlossen. Wilma Rauss, die ihre Mitgliedschaft bei ver.di schon vor Jahren gekündigt hatte, nimmt am 01.08. eine Tätigkeit bei der Horst Borg GmbH im Burgsteinfurter Ortsteil Borghorst auf. Der StAVerb-Tarifvertrag ist auf ihr Arbeitsverhältnis nicht anzuwenden - Frau Rauss ist nicht Mitglied der Tarifvertragspartei ver.di.
Die IG Bauen-Agrar-Umwelt - IG BAU - hat mit der Ewing KG, einem Dortmunder Solaranlagen-Hersteller, einen Haustarifvertrag geschlossen. Dieser Haustarifvertrag ist auf die Arbeitsverhältnisse der Ewing KG anzuwenden. Sie ist zum einen Partei der Arbeitsverträge ihrer Mitarbeiter, zum anderen Partei des IG BAU-Tarifvertrags. In diesem Fall braucht es für den Abschluss einer Tarifvertrags keine Legitimation durch die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband. Hier gilt der Tarifvertrag für den Arbeitgeber kraft Selbstbindung. Tarifgebundene Arbeitnehmer müssen allerdings auch bei einem Firmentarifvertrag Mitglied der Tarifvertrag schließenden Gewerkschaft sein.
Praxistipp:
Der Abschluss eines Firmentarifvertrags mit einer so genannten Kleingewerkschaft, die im Betrieb nur wenige Mitglieder hat, um damit aus dem Geltungsbereich des Branchentarifvertrags herauszukommen, verstößt gegen die Koalitionsfreiheit der Mehrheit der Arbeitnehmer. Der Branchentarifvertrag soll dadurch in unzulässiger Weise verdrängt werden - und das geht nicht.
Arbeitgeberverbände gehen mehr und mehr dazu über, eine so genannte OT-Mitgliedschaft - eine Mitgliedschaft ohne Tarifbindung - zuzulassen. Ob und wie so eine OT-Mitgliedschaft begründet und beendet werden kann, muss in der Satzung des Verbands festgelegt sein. Wegen der an die Tarifgebundenheit anknüpfenden und unter Umständen gar weit reichenden Rechtsfolgen auch auf Dritte ist aber unerlässlich, dass die Verbandsmitgliedschaft mit Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG von einer Verbandsmitgliedschaft ohne Tarifbindung deutlich abgrenzbar ist (BAG, 15.12.2010 - 4 AZR 256/09).
3. Tarifbindung durch Allgemeinverbindlichkeit
Neben der Tarifbindung nach § 3 Abs. 1 TVG besteht die Möglichkeit, dass Tarifgebundenheit auf Grund von Allgemeinverbindlichkeit eintritt. In diesem Fall kommt es nicht darauf an, ob die Beteiligten Mitglieder der tarifvertragsschließenden Parteien sind. Die Rechtsnormen eines für allgemeinverbindlich erklärten Tarifvertrages erfassen auch nicht organisierte Arbeitnehmer und Arbeitgeber (§ 5 Abs. 4 Satz 1 TVG).
Beispiel:
Einzelhandelskauffrau Emine Hoth-Kütür beabsichtigt, sich in einer deutschen Großstadt selbstständig zu machen. Sie möchte eine Boutique mit exklusiver türkischer Damenmode eröffnen. Dem zuständigen Einzelhandelsverband will sie nicht beitreten. Ihre neuen Mitarbeiter/innen findet sie über die Arbeitsagentur. Keine/r von ihnen ist Gewerkschaftsmitglied. Emine verständigt sich darauf, dass Mehrarbeitsstunden nur mit dem normalen Stundenlohn vergütet und keine Mehrarbeitszuschläge bezahlt werden. Gibt es keinen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, ist die vertragliche Abmachung in Ordnung. Gibt es einen allgemeinverbindlichen Tarifvertrag, der Mehrarbeitszuschläge vorsieht, wäre die Vereinbarung tarifwidrig und damit unwirksam. Dann müsste Frau Hoth-Kütür die tariflichen Mehrarbeitszuschläge zahlen.
Ein nach § 5 Abs. 1a TVG für allgemeinverbindlich erklärter Tarifvertrag - Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung - ist vom Arbeitgeber auch dann einzuhalten, wenn er nach § 3 TVGan einen anderen Tarifvertrag gebunden ist, § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG.
Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages ist allerdings nicht ohne Weiteres möglich. Da sie ja auch für Nichtmitglieder der Tarifvertragsparteien, die sich vielleicht ganz bewusst gegen eine Organisationszugehörigkeit entschieden haben, Gültigkeit hat, sind bestimmte Voraussetzungen zu erfüllen (§ 5 Abs. 1 TVG).
Die Allgemeinverbindlicherklärung muss im öffentlichen Interesse geboten erscheinen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 TVG). Das ist in der Regel der Fall, wenn
der Tarifvertrag in seinem Geltungsbereich für die Gestaltung der Arbeitsbedingungen überwiegende Bedeutung erlangt hat (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 TVG) oder
die Absicherung der Wirksamkeit der tarifvertraglichen Normsetzung gegen die Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklung eine Allgemeinverbindlicherklärung verlangt (§ 5 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 TVG).
Das öffentliche Interesse
geht über die Interessen der Tarifvertragsparteien und ihrer Mitglieder hinaus,
muss auch die Belange der bisherigen Außenseiter wahren
und verlangt eine sorgfältige Abwägung der einzelnen widerstreitenden Gesichtspunkte,
bei der das Ministerium einen Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum hat.
Das frühere Erfordernis, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der Arbeitnehmer beschäftigen mussten, die unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallen, hat der Gesetzgeber mit dem Gesetz zur Stärkung der Tarifautonomie (Tarifautonomiestärkungsgesetz) vom 11.08.2014 (BGBl. 2014, S. 1348 ff.) gestrichen.
Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales kann einen Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung zur Sicherung ihrer Funktionsfähigkeit im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss auf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien für allgemeinverbindlich erklären, wenn der Tarifvertrag die Einziehung von Beiträgen und die Gewährung von Leistungen durch eine gemeinsame Einrichtung mit folgenden Gegenständen regelt (§ 5 Abs. 1a Satz 1 TVG):
den Erholungsurlaub, ein Urlaubsgeld oder ein zusätzliches Urlaubsgeld (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 1 TVG),
eine betriebliche Altersversorgung i.S.d. BetrAVG (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 2 TVG),
die Vergütung der Auszubildenden oder die Ausbildung in überbetrieblichen Bildungsstätten (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 3 TVG),
eine zusätzliche betriebliche oder überbetriebliche Vermögensbildung der Arbeitnehmer (§5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 4 TVG),
Lohnausgleich bei Arbeitszeitausfall, Arbeitszeitverkürzung oder Arbeitszeitverlängerung (§ 5 Abs. 1a Satz 1 Nr. 5 TVG).
Der Tarifvertrag i.S.d. § 5 Abs. 1a Satz 1 TVG kann alle mit
dem Beitragseinzug und
der Leistungsgewährung
in Zusammenhang stehenden Rechte und Pflichten einschließlich der dem Verfahren zugrunde liegenden Ansprüche der Arbeitnehmer und Pflichten der Arbeitgeber regeln (§ 5 Abs. 1a Satz 2 TVG). § 7 Abs. 2 AEntG findet entsprechende Anwendung, § 5 Abs. 1a Satz 3 TVG.
Die Allgemeinverbindlicherklärung erfolgt nach § 5 Abs. 1 Satz 1 TVGauf gemeinsamen Antrag der Tarifvertragsparteien im Einvernehmen mit einem aus je drei Vertretern der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer bestehenden Ausschuss (Tarifausschuss) durch das Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Vor Inkrafttreten des Tarifautonomiestärkungsgesetzes genügte der Antrag einer Tarifvertragspartei. Die Gesetzesänderung soll nach der amtlichen Begründung gewährleisten, "dass die Abstützung der tariflichen Ordnung aus Sicht sämtlicher Parteien des Tarifvertrags erforderlich erscheint."
In der Praxis hat der Bundesminister seine Entscheidungsbefugnis zumeist auf die oberste Arbeitsbehörde der Bundesländer übertragen (§ 5 Abs. 6 TVG). Das Verfahren wird im Einzelnen durch die Verordnung zur Durchführung des Tarifvertragsgesetzes geregelt (TVGDV vom 20.02.1970, BGBl. I S. 193, i.d.F. der Bekanntmachung vom 16.01.1989, BGBl. I S. 76; zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung vom 11.03.2014, BGBl. I 2014, S. 263).
Das Bundesministerium kann die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags im Einvernehmen mit dem Tarifausschuss aufheben, wenn die Aufhebung im öffentlichen Interesse geboten erscheint (§ 5 Abs. 5 Satz 1 TVG). Im Übrigen endet die Allgemeinverbindlichkeit eines Tarifvertrags mit dessen Ablauf (§ 5 Abs. 5 Satz 3 TVG - s. dazu auch die Stichwörter Tarifvertrag - Nachbindung und Tarifvertrag - Nachwirkung).
Erklärung und Aufhebung der Allgemeinverbindlicherklärung sind öffentlich bekannt zu machen. Die Meldungen werden regelmäßig im Bundesanzeiger veröffentlicht. Beim Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung bzw. bei den zuständigen Landesministerien wird zudem ein Tarifregister geführt (s. dazu unten Gliederungspunkt 7.). Darin werden auch Beginn und Ende einer Allgemeinverbindlichkeit eingetragen.
4. Kritik
Allgemeinverbindliche Tarifverträge stehen immer wieder in der Kritik. Gerade denjenigen, die sich bewusst gegen den Beitritt zu einer Tarifvertragspartei entschieden haben, ist häufig nur schwer zu vermitteln, dass die Wirkungen eines allgemeinverbindlichen Tarifvertrags auch für sie gelten sollen.
Beispiel:
Der Vorstand der Weigerer AG ist seit Gründung der Gesellschaft davon überzeugt, ohne Tarifbindung wirtschaftlich besser aufgestellt zu sein. Er verweigert nachhaltig, Mitglied des Branchenverbands zu werden - obwohl mit schöner Regelmäßigkeit Werbeversuche des Arbeitgeberverbands laufen. Der Gewerkschaft ist es bislang noch nicht gelungen, mit der Weigerer AG einen Firmentarifvertrag zu vereinbaren. Der Organisationsgrad der AG-Mitarbeiter ist sehr gering, es können keine Druck machenden Arbeitskampfmaßnahmen durchgeführt werden. Dann mehreren sich in der Branche die Erkenntnisse, dass nicht organisierte Unternehmen ihren Mitarbeitern wesentlich niedrigere Arbeitsentgelte zahlen als die organisierten und auch die sonstigen Arbeitsbedingungen dort stellenweise schlechter als die tariflichen sind. Das veranlasst den Arbeitgeberverband nun dazu, beim Arbeitsministerium einen Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung der Branchentarifverträge zu stellen - dem auch stattgegeben wird.
Allgemeinverbindliche Tarifverträge erfüllen wichtige Zwecke. Sie tragen zur Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen bei und sorgen für gleiche Wettbewerbschancen. Außerdem sind sie eine wichtige Waffe gegen Lohndumping.
Beispiel:
Es mag im vorausgehenden Beispiel sicherlich einiges dafür sprechen, dass die Weigerer AG ohne Tarifbindung tatsächlich wirtschaftlich besser aufgestellt ist. Sie verschafft sich diesen Wettbewerbsvorteil allerdings dadurch, dass sie ihre Arbeitnehmer schlechter bezahlt als die tarifgebundene Konkurrenz. Wenn der Branchenverband nun losgeht und die Allgemeinverbindlichkeit der von ihm mit der Gewerkschaft geschlossenen Tarifverträge beantragt, ist das rechtlich nicht zu beanstanden. Man wird hier im Interesse gleicher Arbeitsbedingungen und aus dem Gesichtspunkt Arbeitnehmerschutz auch durchaus ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung bejahen können.
Seit Jahren wird vermehrt über Öffnungsklauseln in Tarifverträgen diskutiert.
Beispiele:
Der Tarifvertrag sieht für die unteren Lohngruppen Entgelte von 1 650 EUR bis 2 150 EUR vor. In einer Protokollnotiz zum Entgelttarifvertrag heißt es: "Die in den unteren Lohngruppen vereinbarten Tarifentgelte können durch Betriebsvereinbarung um bis zu 15 % gesenkt werden, wenn der Arbeitgeber dem Betriebsrat durch Vorlage entsprechender Unterlagen nachweist, dass sein Betriebsergebnis gegenüber dem Vorjahreszeitraum ebenfalls um bis zu 15 % niedriger ausfallen wird. Die Betriebsvereinbarung darf nur für die Dauer der Laufzeit dieses Entgelttarifvertrags geschlossen werden." Das erlaubt es den Betriebspartnern, das tarifliche Entgeltgefüge zu verlassen und in dem von den Tarifpartnern vorgezeichneten Rahmen eigene Lösungen zu suchen.
Der Tarifvertrag sieht vor: "Die regelmäßige tarifliche Arbeitszeit beträgt 37,5 Wochenstunden. Sie kann in Betrieben mit Betriebsrat in einzelnen Wochen auf bis zu 44 Wochenstunden ausgedehnt werden, wenn im Durchschnitt des Kalenderjahres die 37,5-Stunde-Woche gewahrt bleibt". Hier haben die Betriebspartner die Möglichkeit, von der ansonsten starren tariflichen Arbeitszeit abzuweichen und die betriebliche Arbeitszeit in einigen Wochen zu erhöhen. Arbeitsverträge und Betriebsvereinbarungen müssen die tariflichen Vorgaben beachten. Abweichende Vereinbarungen sind nach § 4 Abs. 3 TVG"nur zulässig, soweit sie durch den Tarifvertrag gestattet sind oder eine Änderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers enthalten". Und § 77 Abs. 3 BetrVG setzt dem Ganzen noch eins drauf: "Arbeitsentgelte und sonstiger Arbeitsbedingungen, die durch Tarifvertrag geregelt sind oder üblicherweise durch Tarifvertrag geregelt werden, können nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein. Dies gilt nicht, wenn ein Tarifvertrag den Abschluss ergänzender Betriebsvereinbarungen ausdrücklich zulässt".
Öffnungsklauseln, die betriebliche, sachnähere Lösungen zulassen, sind sicherlich ein vernünftiges Mittel, Tarifflucht zu verhindern und den Trend zu OT-Mitgliedschaften zu bremsen. Starre Formen brechen bei Überdruck, flexible passen sich an. Die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
5. Publizität allgemeinverbindlicher Tarifverträge
Sobald ein Antrag auf Allgemeinverbindlicherklärung bekannt gemacht worden ist, können Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die von dieser Allgemeinverbindlicherklärung betroffen werden würden, von einer der Tarifvertragsparteien eine Abschrift des Tarifvertrages gegen Erstattung der Selbstkosten verlangen (§ 5 Satz 1 TVGDV).
Praxistipp:
Die TVG-Durchführungsverordnung sieht einen Idealfall vor, den es so in der Praxis oft nicht gibt. Da verweigern Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften standhaft die Übersendung einer Abschrift mit dem Argument, die Tarifverträge seien nur für die Mitglieder da. Zugleich wird eine Beitrittserklärung mit der Bemerkung angeboten, man könne ja Mitglied werden, dann würde man auch regelmäßig alle Tarifverträge zeitnah und kostenlos zugeschickt bekommen. Das ist nicht im Sinn der TVG-Durchführungsverordnung. Insoweit sollte man ruhig an eine Klage denken, wenn die angesprochene Tarifvertragspartei die Abgabe einer Abschrift verweigert.
Ist die Allgemeinverbindlicherklärung eines Änderungstarifvertrags beantragt worden, so ist auch eine Abschrift des geänderten Tarifvertrages zu übersenden (§ 5 Satz 2 TVGDV). Selbstkosten sind die Papier- und Vervielfältigungs- oder Druckkosten sowie das Übersendungsporto (§ 5 Satz 3 TVGDV).
Praxistipp:
Da die TVG-Durchführungsverordnung von einer Abschrift spricht, muss "Abschrift" nicht die für Mitglieder gedruckte Tarifbroschüre oder Tarifinformation sein. Die Tarifvertragspartei kann von der Allgemeinverbindlichkeit betroffenen Arbeitgebern auch eine Abschrift im DIN-A4-Format zur Verfügung stellen.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, für die der Tarifvertrag infolge der Allgemeinverbindlicherklärung bindend ist, können von einer der Tarifvertragsparteien eine Abschrift des Tarifvertrages gegen Erstattung der Selbstkosten verlangen (§ 9 Abs. 1 Satz 1 TVGDV). § 5 Satz 2 und 3 TVGDV gilt entsprechend (§ 9 Abs. 1 Satz 2 TVGDV).
Die kraft Allgemeinverbindlicherklärung tarifgebundenen Arbeitgeber haben die für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge sogar an geeigneter Stelle im Betrieb auszulegen (§ 9 Abs. 2 TVGDV).
Die Einsicht in das Tarifregister und die dort registrierten Tarifverträge ist jedem gestattet (§ 16 Satz 1 TVGDV). Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung erteilt auf Anfrage über die Eintragungen Auskunft. Damit bekommen auch nicht organisierte Arbeitgeber Kenntnis von den für sie geltenden Tarifbestimmungen - nur eben auf einem etwas mühsameren Weg.
6. Auswahl allgemeinverbindlicher Tarifverträge (Stand 01.10.2021)
Zurzeit - Stand 01.01.2023 - gibt es in der Bundesrepublik immer noch mehr als 80.000 Tarifverträge (2022: 81.582; 2019: 78.000; 2018: 77.316; 2017: 73.000; 2016: 71.900; 2015: 70.000; 2014: 70.000; 2013: 68.000; 2012: 67.000; 2011: 73.900), von denen wiederum 211 (Stand: 01.04.2022) allgemeinverbindlich sind (2021: 210; 2017: 443; 2016: 444; 2015: 491; 2014: 496; 2013: 498; 2012: 502; 2011: 489; 2010: 490; 2009: 476; 2008: 463; 2007: 454; 2006: 446; 2005: 475; 2004: 476; 2003: 480; 2002: 542; 2001: 534; 2000: 551; 1999: 591; 1994 sogar noch 632 - jeweils zum Stichtag 01.01. des Kalenderjahres). Hier eine kleine Auswahl:
Wirtschaftsgruppe Land- und Forstwirtschaft
Tarifvertrag Qualifizierung der Land- und Forstwirtschaft in Hessen v. 15.11.2019 - AVE ab 01.11.2019
Verarbeitendes Gewerbe: Steine und Erden, Keramik
Tarifvertrag über die überbetriebliche Zusatzversorgung in den Ländern Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen u. Schleswig-Holstein v. 01.04.1986 i.d.F. v. 06.11.2019 - AVE ab 01.01.2020
Verarbeitendes Gewerbe: Metallwaren
Tarifvertrag über ein 13. Monatseinkommen/Jahressonderzahlungen (Heimarbeiter) in Nordrhein-Westfalen (nur Stadt Solingen) v. 05.01.1977 i.d.F. v. 20.08.1992 - AVE ab 01.04.1992
Verarbeitendes Gewerbe: Bekleidung und Textilien
Tarifvertrag über Jahressonderzahlungen für die Textilindustrie in Hamburg v. 23.08.1990 - AVE ab 01.01.1991
Verarbeitendes Gewerbe: Nahrungsmittel
Vereinbarung über Ausbildungsvergütungen v. 22.12.2020 im Bäckerhandwerk der Bundesrepublik - AVE ab 01.03.2021
Sammlung, Behandlung und Beseitigung von Abfällen
Mindestlohnstarifvertrag für die Branche Abfallwirtschaft einschließlich Straßenreinigung und Winterdienst in der Bundesrepublik v. 07.01.2009 i.d.F. v. 29.05.2019 - AVE ab 01.01.2020 bis 30.09.2022
Baugewerbe
Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe der Bundesrepublik v. 28.09.2018 i.d.F. v. 29.01.2021 - AVE ab 01.01.2021, § 17 ab 11.03.2021
Handel
Manteltarifvertrag für den Groß- und Außenhandel im Saarland v. 06.05.1997 - AVE ab 01.04.1997 - teilweise außer Kraft ab 30.08.1997
Verkehr
Vergütungstarifvertrag für Bodenverkehrsdienstleistungen in Berlin v. 18.03.2020 - AVE ab 01.03.2020
Gastgewerbe
Entgelttarifvertrag für das Hotel- und Gaststättengewerbe in Bremen v. 24.09.2019 - AVE ab 01.04.2020
Sonstige (personennahe) Dienstleistungen
Lohn- und Gehaltstarifvertrag Nr. 17 für das Friseurhandwerk in Hessen v. 15,052018 - AVE ab 01.07.2019
Anmerkung: Das Verzeichnis der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge wurde in den letzten Jahren gründlich überarbeitet und ergänzt. Es steht nun nach langer Pause mit (fast) vierteljährlicher Aktualisierung wieder auf der Netzseite des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales zum Abruf bereit.
7. Die staatlichen Tarifregister / Adressen
Staatliche Tarifregister der für allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträge gibt es in der Regel bei den Arbeitsministerien des Bundes und der Länder (Stand: 01.01.2022).
Bundesministerium für Arbeit und Soziales
Wilhelmstraße 49
10117 Berlin
Tel.: 030 / 18 52 70
Fax: 030 / 18 52 71 83 - 0
Baden-Württemberg
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Tourismus Baden-Württemberg
Schlossplatz 4
70173 Stuttgart
Tel.: 0711 / 12 30
Fax: 0711 / 12 32 12 -1
Bayern
Bayerisches Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziale
Winzererstraße 9
80797 München
Tel.: 089 / 12 61 01
Fax: 089 / 12 61 11 22
Berlin und Brandenburg
Gemeinsames Tarifregister Berlin und Brandenburg
Oranienstraße 106
10969 Berlin
Tel.: 030 / 90 28 14 57
Fax: 030 / 90 28 31 54
Bremen
Der Senator für Wirtschaft, Arbeit und Europa
Zweite Schlachtpforte 3
28195 Bremen
Tel.: 0421 / 36 12 08 - 1
Fax: 0421 / 36 11 00 59
Hamburg
Behörde für Arbeit, Gesundheit, Soziales, Familie und Integration (Sozialbehörde)
Hamburger Straße 47
22083 Hamburg
Tel.: 040 / 42 86 30
Fax: 040 / 42 79 63 030
Hessen
Hessisches Ministerium für Soziales und Integration - Abteilung III "Arbeit"
Sonnenberger Straße 2/2a
65193 Wiesbaden
Tel.: 0611 / 32 19 34 95
Fax: 0611 / 80 93 99
Mecklenburg-Vorpommern
Ministerium für Wirtschaft, Infrastruktur, Tourismus und Arbeit
Johannes-Stelling-Straße 14
19053 Schwerin
Tel.: 0385 / 58 89 59 - 9
Fax: 0385 / 58 84 85 - 55 19
Niedersachsen
Niedersächsisches Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Verkehr und Digitalisierung
Friedrichswall 1
30159 Hannover
Tel.: 0511 / 12 00
Fax: 0511 / 12 09 95 70 - 4
Nordrhein-Westfalen
Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen
Fürstenwall 25
40219 Düsseldorf
Tel.: 0211 / 85 55
Fax: 0211 / 85 54 29 - 7
Rheinland-Pfalz
Ministerium für Arbeit, Soziales, Transformation und Digitalisierung
Moltkestraße 19
54292 Trier
Tel.: 0651 / 14 47 23 - 1
Fax: 0651 / 14 47 14 23 - 1
Saarland
Ministerium für Wirtschaft, Arbeit, Energie und Verkehr
Franz-Josef-Röder-Straße 17
66119 Saarbrücken
Tel.: 0681 / 50 11 88 - 8
Fax: 0681 / 50 11 77 - 1
Sachsen
Sächsisches Staatsministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr
Wilhelm-Buck-Straße 2
01097 Dresden
Tel.: 0351 / 56 40
Fax: 0351 / 56 48 06 80
Sachsen-Anhalt
Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung
Turmschanzenstraße 25
39114 Magdeburg
Tel.: 0391 / 56 74 68 - 0
Fax: 0391 / 56 74 60 - 9
Schleswig-Holstein
Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Arbeit, Technologie und Tourismus
Düsternbrooker Weg 94
24105 Kiel
Tel.: 0431 / 98 82 64 - 0
Fax: 0431 / 98 84 70 - 0
Thüringen
Thüringer Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit, Frauen und Familie
Werner-Seelenbinder-Straße 6
99096 Erfurt
Tel.: 0361 / 57 10 - 0
Fax: 0361 / 57 38 11 80 - 0
Eine aktuelle Gesamtübersicht allgemeinverbindlicher Tarifverträge ist beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales unter http://www.bmas.de im Internet abrufbar.
8. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema allgemeinverbindliche Tarifverträge in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet hinterlegt:
8.1 Ablösung
Wenn ein neuer Tarifvertrag einen bestimmten Komplex neu regelt, kann man davon ausgehen, dass die bisherigen Tarifbestimmungen nicht mehr gelten sollen. Insoweit ist es gerechtfertigt, Ansprüche von Arbeitnehmern aus dem alten Tarifvertrag nur noch bis zum Inkrafttreten des ablösenden Tarifvertrags entstehen zu lassen (LAG Düsseldorf, 09.08.2001 - 5 Sa 732/01 - zur Regelung von Urlaubsgeld und Jahressondervergütung in den §§ 14, 15 RTV Gebäudereiniger-Handwerk - Revisionsverfahren: BAG - 10 AZR 510/01).
8.2 Auslegung
Die Allgemeinverbindlicherklärung ist weder ein förmliches Gesetz noch eine Rechtsverordnung. Sie ist ein "Rechtssetzungsakt eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtssetzung, der seine eigenständige Grundlage in Art. 9Abs. 3 GG" hat. Durch diesen Rechtssetzungsakt wird die Verbindlichkeit von Tarifverträgen auf Betriebe und Personen ausgeweitet, die sonst nicht von den tariflichen Regelungen erfasst werden. Insoweit ist die Allgemeinverbindlicherklärung Normsetzung - mit dem Ergebnis, dass sie wie ein Gesetzauszulegen ist" (BAG, 12.05.2010 - 10 AZR 559/09).
8.3 Ausnahmeregelung
Beruft sich der Arbeitgeber darauf, dass für seinen Betrieb trotz Allgemeinverbindlicherklärung eine Ausnahme vom Anwendungsbereich des Tarifvertrags gilt, trägt er für die Tatsachen, die zur Einschränkung der Allgemeinverbindlicherklärung führen, die Darlegungs- und Beweislast. Die Allgemeinverbindlicherklärung ist ein Akt der Rechtssetzung eigener Art zwischen autonomer Regelung und staatlicher Rechtssetzung, der seine selbstständige Grundlage in Art. 9 Abs. 3 GG findet. Ebenso wie bei sonstigen Rechtsnormen trägt derjenige die Darlegungs- und Beweislast, der sich darauf beruft - und das gilt auch für die in einem Tarifvertrag selbst vorgesehenen Ausnahmen vom betrieblichen Geltungsbereich (BAG, 02.07.2008 - 10 AZR 386/07 - zum Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe, VTV).
8.4 Aussetzung des Verfahrens - 1
Lässt das LAG die Revision nicht zu, kann diese Nichtzulassung nach Maßgabe des § 72a ArbGG mit einer Nichtzulassungsbeschwerde angefochten werden. Nach § 98 Abs. 6 ArbGG hat das Gericht ein Verfahren bis zur Erledigung eines Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG auszusetzen, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 TVG oder eine Rechtsverordnung nach §§ 7, 7a AEntG oder § 3a AÜG wirksam ist. Für die Nichtzulassungsbeschwerde gilt: "Eine Aussetzung nach § 98 Abs. 6 ArbGG kommt im Verfahren über die nachträgliche Zulassung der Revision nach § 72a ArbGG nicht in Betracht, da die Entscheidung im Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren nicht von der Wirksamkeit oder Unwirksamkeit einer Allgemeinverbindlicherklärung abhängt" (BAG, 20.08.2014 - 10 AZN 573/14 - Leitsatz).
8.5 Aussetzung des Verfahrens - 2
Wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung oder eine Rechtsverordnung wirksam ist, muss das Gericht das Verfahren bis zur Erledigung des Beschlussverfahrens nach § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG aussetzen (§ 98 Abs. 6 ArbGG). Und dabei gilt es zu beachten: "Setzt das Gericht einen Rechtsstreit nach § 98 Abs. 6 ArbGG aus, hat es im Aussetzungsbeschluss zu begründen, von welchen vorgetragenen oder gerichtsbekannten ernsthaften Zweifeln an der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlichkeitserklärung oder Rechtsverordnung i.S.v. § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG es ausgeht und welche Tatsachen es dieser Annahme zugrunde legt" (BAG, 07.01.2015 - 10 AZB 109/14).
8.6 Aussetzung des Verfahrens - 3
Das Arbeitsgericht hat nach § 98 Abs. 6 ArbGG die Möglichkeit, einen Rechtsstreit auszusetzen, wenn die Entscheidung davon abhängt, ob eine Allgemeinverbindlicherklärung oder eine Rechtsverordnung wirksam ist. Kommt es auf diese Frage entscheidungserheblich an, muss das Gericht die Frage von Amts wegen prüfen. "Setzt ein Gericht den Rechtsstreit nach § 98 Abs. 6 ArbGG aus, hat es im Aussetzungsbeschluss zu begründen, von welchen vorgetragenen oder gerichtsbekannten ernsthaften Zweifeln an der Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung oder Rechtsverordnung i.S.v. § 2a Abs. 1 Nr. 5 ArbGG es ausgeht und welche Tatsachen es dieser Annahme zugrunde legt" (BAG, 07.01.2015 - 10 AZB 110/14).
8.7 Beitragsrückzahlung
Das BAG hatte vor einigen Jahren festgestellt, dass die Allgemeinverbindlicherklärungen der hier maßgeblichen Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren unwirksam sind (s. dazu BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15; BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 48/15; BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 34/15 u. BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 43/15). Trotzdem gilt für die aufgrund der Allgemeinverbindlicherklärung an die SoKa Bau gezahlten Beiträge: "Nicht verbandsgebundene Arbeitgeber haben keinen bereicherungsrechtlichen Anspruch auf Rückzahlung von Beiträgen zu den Sozialkassen der Bauwirtschaft, die sie aufgrund unwirksamer Allgemeinverbindlicherklärungen der Tarifverträge über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe geleistet haben. Der rechtliche Grund für die Beitragszahlungen iSv. § 812 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 BGB ergibt sich aus dem rückwirkend in Kraft getretenen SokaSiG" (BAG, 24.09.2019 - 10 AZR 562/18 - Leitsätze).
8.8 Beschäftigtenquote - 1
Beruht die Berechnung oder Schätzung der Beschäftigtenquote nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG auf unzureichenden Nachforschungen oder offensichtlich fehlerhaftem Zahlenmaterial, ist die mangelnde Aufklärung nachzuholen. Maßstab für die gerichtliche Kontrolle können lediglich die zum Zeitpunkt der Prüfung erziel- und verwertbaren Daten sein. Wenn sich bereits im arbeitsgerichtlichen Verfahren herausstellt, dass der Bundesminister für Arbeit oder die von ihm bestimmte oberste Arbeitsbehörde des Landes von falschen oder nicht vollständigen Tatsachen ausgegangen ist, dürfen auch andere Erkenntnismöglichkeiten herangezogen werden (ArbG Kassel, 18.01.2001 - 6 Ca 686/99 - hier: TV Zusatzversorgung für Arbeitnehmer in der Land- und Forstwirtschaft vom 25.02.1994 - Berufungsgericht LAG Hessen - 16 Sa 684/01 anhängig).
8.9 Beschäftigtenquote - 2
"1. Die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags bedarf als Akt der Normsetzung der demokratischen Legitimation in Form der zustimmenden Befassung des zuständigen Ministers oder seines Staatssekretärs mit der Angelegenheit. Dieses Erfordernis besteht unabhängig von konkreten Inhalten des für allgemeinverbindlich zu erklärenden Tarifvertrags. 2. Für die Ermittlung der sog. Großen Zahl kam es nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG aF auf die Anzahl der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer an. Unerheblich war hingegen, ob die Allgemeinverbindlicherklärung mit Einschränkungen hinsichtlich des betrieblichen Geltungsbereichs ergangen ist" (BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15 - Leitsätze).
8.10 Beschäftigtenquote - 3
Die Beschäftigungsquote von 50 % (§ 5 TVG a.F.) war bei der Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18.12.2009 i.d.F. des Änderungstarifvertrags vom 17.12.2012 und des VTV vom 03.05.2013 nicht erfüllt. Die Allgemeinverbindlicherklärungen des Jahres 2013 sind damit unwirksam. Die gerichtliche Feststellung ihrer Unwirksamkeit wirkt nach § 98 Abs. 4 ArbGG für und gegen jedermann. Das bedeutet für den VTV: Im maßgeblichen Zeitraum bestand nur für die Arbeitgeber eine Beitragspflicht zu den Sozialkassen des Baugewerbes, die tarifgebundenen waren. Andere Arbeitgeber der Baubranche waren damit im Jahr 2013 nicht verpflichtet, Beiträge zu zahlen (BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 43/15). Die gleiche Entscheidung hat das BAG auch zum VTV 2011 für das Jahr 2012 getroffen (BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 43/15).
8.11 Betriebsabteilung
Erbringen Arbeitgeber mit Sitz im Ausland überwiegend bauliche Leistungen, werden sie nach § 1 Abs. 1 AEntG von den allgemeinverbindlichen Tarifverträgen des Baugewerbes erfasst. Das gilt auch für "selbstständige" Betriebsabteilungen. Das Tatbestandsmerkmal "überwiegend bauliche Leistungen" ist erfüllt, wenn die Arbeitszeit der Arbeitnehmer mehr als 50 % der Gesamtarbeitszeit ausmacht (BAG, 25.01.2005 - 9 AZR 258/04).
8.12 Beurteilungsspielraum
Das nach dem TVG für die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) zuständige Ministerium hat bei Prüfung des öffentlichen Interesses für die AVE einen weiten Beurteilungsspielraum. Dieser Beurteilungsspielraum kann nicht mit verwaltungsrechtlichen Maßstäben gleichgesetzt werden. Er ist eine Ausprägung "des auch mit Rechtsetzungsakten der Exekutive typischerweise verbundenen normativen Ermessens." Die verfahrensmäßige Absicherung der Interessenabwägung erfolgt durch die in § 5 Abs. 2 und Abs. 3 TVG geregelten Stellungnahme- und Einspruchsrechte Dritter. Eine rechtswidrige Ausübung des weiten Beurteilungsspielraums lässt sich erst dann bejahen, "wenn die getroffene Entscheidung in Anbetracht des Zwecks der Ermächtigung in § 5 TVG und der hiernach zu berücksichtigenden öffentlichen und privaten Interessen - einschließlich der Interessen der Tarifvertragsparteien - schlechterdings unvertretbar oder unverhältnismäßig ist" (BAG, 20.09.2017 - 10 ABR 42/16 - mit Hinweis auf BAG, 21.09.2016 - 10 ABR 33/15).
8.13 Gemeinsame Einrichtung
"Nach § 5 Abs. 1a TVG kann nur ein Tarifvertrag über eine gemeinsame Einrichtung für allgemeinverbindlich erklärt werden und die besondere Rechtswirkung des § 5 Abs. 4 Satz 2 TVG auslösen. Auch die Allgemeinverbindlicherklärung eines solchen Tarifvertrags verlangt - neben dem Ziel der Sicherung der Funktionsfähigkeit der gemeinsamen Einrichtung - das Bestehen eines öffentlichen Interesses. Dieses kann nur verneint werden, wenn besonders gewichtige Umstände oder überragende entgegenstehende Interessen gegen den Erlass der Allgemeinverbindlicherklärung sprechen" (BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16 - 2. Leitsatz).
8.14 Grundrechtsverletzung
Ein Kläger kann im Verwaltungsrecht die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses oder der Nichtigkeit eines Verwaltungsakts beantragen, wenn er ein berechtigtes Interesse an der baldigen Feststellung hat (Feststellungsklage, § 43 Abs. 1 VwGO). Für eine Allgemeinverbindlicherklärung gilt: "Die Klage eines Arbeitgeberverbandes mit dem Antrag festzustellen, er werde durch die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages gemäß § 5 Abs. 1 TVG im Baugewerbe (Bundesrahmentarifvertrag für Arbeiter, Tarifvertrag über Sozialkassen), den konkurrierende Tarifvertragsparteien abgeschlossen haben, in seinem Grundrecht aus Art. 9 Abs. 3 GG verletzt, ist gemäß § 43 Abs. 1 VwGO zulässig" (BVerwG, 28.01.2010 - 8 C 38.09 - ohne Aussage zur Begründetheit der Feststellungsklage selbst, die die untere Instanz noch prüfen muss).
8.15 Nachwirkung
Ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag endet nach § 5 Abs. 5 Satz 3 TVG mit seinem Ablauf. Seine Rechtsnormen wirken dann über § 4 Abs. 5 TVG auch bei Außenseitern, die mangels Organisationszugehörigkeit nicht tarifgebunden i.S.d. § 3 Abs. 1 TVG sind, nach. Die Nachwirkung endet, wenn sie durch eine andere Abmachung ersetzt wird. Das kann beispielsweise ein anderer Tarifvertrag sein. Ein nicht für allgemeinverbindlich erklärter Folgetarifvertrag kann allerdings die Nachwirkung bei Außenseitern nicht ablösen (BAG, 25.10.2000 - 4 AZR 212/00).
8.16 Öffentliches Interesse - 1
Bei der Prüfung des öffentlichen Interesses für eine Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) sind die Vorteile der AVE eines Tarifvertrags mit den möglichen Nachteilen abzuwägen. Im Abwägungsprozess sind die Interessen tarifgebundener Arbeitgeber und Arbeitnehmer den Interessen nicht tarifgebundener gegenüberzustellen. Das ausschließliche Interesse der Tarifvertragsparteien, das in dem AVE-Antrag zum Ausdruck kommt, reicht für eine AVE ebenso wenig wie das Votum des Tarifausschusses. Das nach dem TVG zuständige Ministerium muss das öffentliche Interesse eigenverantwortlich prüfen (BAG, 20.09.2017 - 10 ABR 42/16).
8.17 Öffentliches Interesse - 2
Das öffentliche Interesse für eine Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) kann aus vielen Tatsachen abgeleitet werden. Ein Abwägungskriterium kann beispielsweise der Umstand sein, dass nicht tarifgebundene Unternehmen gegenüber tarifgebundenen einen Wettbewerbsvorteil haben. Ein weiteres Kriterium kann die Schädigung der Allgemeinheit sein, weil Nichttarifgebundene in der Branche einen hohen Anteil von Mitarbeitern beschäftigen, die ihr Einkommen durch Hilfe zum Lebensunterhalt aufstocken müssen und dadurch die Sozialsysteme belastet werden (= Kampf gegen "Lohndrückerei und Schmutzkonkurrenz", s. dazu BAG, 12.10.1988 - 4 AZR 244/88 u. BVerwG, 03.11.1988 - 7 C 115/86). Ohne AVE würde sich die Gefahr, dass Arbeitnehmer in der Branche weiterhin unangemessen niedrig bezahlt werden, nur vergrößern (BAG, 20.09.2017 - 10 ABR 42/16 - mit Hinweis auf BAG, 24.01.1979 - 4 AZR 377/77).
8.18 Öffentliches Interesse - 3
"Die Allgemeinverbindlicherklärungen vom 6. Juli 2015 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV), des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe (BRTV), des Tarifvertrags über die Berufsbildung im Baugewerbe (BBTV) und des Tarifvertrags über eine zusätzliche Altersversorgung im Baugewerbe (TZA Bau) sind rechtswirksam. Die nach § 5 TVG geforderten Voraussetzungen waren erfüllt; insbesondere bestand ein öffentliches Interesse an den Allgemeinverbindlicherklärungen." Es bestanden auch keine Zweifel an der Tariffähigkeit der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes oder deren Tarifzuständigkeit (BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16 - Pressemitteilung - mit dem Hinweis, dass das BAG keine verfassungsrechtlichen Bedenken wegen des neuen § 5 TVG hat).
8.19 Öffentliches Interesse - 4
"Einzige materielle Voraussetzung für den Erlass einer Allgemeinverbindlicherklärung nach § 5 Abs. 1 TVG ist, dass diese im öffentlichen Interesse geboten erscheint. Dabei wird der Grundtatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 1 TVG durch die Regelbeispiele in Satz 2 konkretisiert. Sind die Tatbestandsvoraussetzungen eines Regelbeispiels erfüllt, wird das Bestehen eines öffentlichen Interesses gesetzlich vermutet. In einem solchen Fall müssen besondere Umstände oder gewichtige entgegenstehende Interessen vorliegen, um ein öffentliches Interesse an der Allgemeinverbindlicherklärung zu verneinen" (BAG, 21.03.2018 - 10 ABR 62/16 - 1. Leitsatz).
8.20 Prüf- und Beratungsstellen
Grundsätzlich besteht auch die Möglichkeit, einen Tarifvertrag über das Prüf- und Beratungsstellenverfahren im Berliner Gebäudereiniger-Handwerk wirksam für allgemeinverbindlich erklären zu lassen. Dieser Tarifvertrag verstößt auch nicht gegen das Rechtsberatungsgesetz (BAG, 22.10.2003 - 10 AZR 13/03 - Hinweis: der Rechtsstreit wurde zur Aufklärung der Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung an das LAG zurückverwiesen).
8.21 Rückwirkung
Ein Tarifvertrag kann nicht nur nach vorne gerichtet für allgemeinverbindlich erklärt werden, die Allgemeinverbindlicherklärung kann auch rückwirkend erfolgen. Insoweit ist jedoch zu beachten: "Bei der Rückwirkung von Allgemeinverbindlicherklärungen sind die Grundsätze über die Rückwirkung von Gesetzen, wie sie in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entwickelt worden sind, entsprechend anzuwenden [es folgt ein Hinweis auf BAG, 25.09.1996 - 4 AZR 209/95]. Die Rückwirkung einer Allgemeinverbindlicherklärung verletzt danach nicht die vom Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) umfassten Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes, soweit die Betroffenen mit ihr rechnen mussten" (BAG, 20.03.2013 - 10 AZR 744/11 - mit Hinweis auf BAG, 21.08.2007 - 3 AZR 102/06).
8.22 Sozialkasse Bau - 1
Die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe vom 20.12.1999 (VTV) erstreckt sich nicht auf neu gegründete Betriebe, die innerhalb eines Jahres seit Produktionsaufnahme unmittelbar oder mittelbar ordentliches Mitglied des Bundesverbandes Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau e.V. geworden sind. Bei einem Streit der Parteien über Art und Umfang der durchgeführten Arbeiten - Pflasterarbeiten oder nur Pflanz- und Pflegearbeiten - ist den Umständen nach über die von beiden Parteien dazu gemachten Behauptungen Beweis zu erheben (BAG, 28.07.2004 - 10 AZR 582/03).
8.23 Sozialkasse Bau - 2
Der betriebliche Geltungsbereich des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) erfasst auch einen Betrieb, in dem mit der überwiegenden Gesamtarbeitszeit Wege- und Parkplatzbau, Platten- und Verbundsteinverlegearbeiten sowie Pflasterarbeiten ausgeführt werden. Es kommt dabei nicht darauf an, ob diese Arbeiten baulich oder landschaftsgärtnerisch geprägt sind. "Außenanlagen" i.S.d. BRTV-GaLa-Bau sind nur solche Anlagen, zur deren Herstellung und Unterhaltung auch landschaftsgärtnerische Arbeiten (= Grünarbeiten) erforderlich sind (BAG, 23.02.2005 - 10 AZR 382/04 und zugleich Weiterführung von BAG, 28.07.2004 - 10 AZR 582/03).
8.24 Sozialkasse Bau - 3
Der Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 18.12.2009 i.d.F. des Änderungstarifvertrags vom 21.12.2011 wurde am 03.05.2012 für allgemeinverbindlich erklärt. In der Folgezeit kam es zum Streit über die Wirksamkeit der Allgemeinverbindlicherklärung, u.a. initiiert von einigen selbstständigen Handwerkern, die nicht Mitglied der Tarifpartei waren. Das BAG hat dann tatsächlich die Unwirksamkeit der Allgemeinverbindlichkeit festgestellt - Grund u.a.: Die damals nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 TVG a.F. erforderliche 50-prozentige Beschäftigungsquote sei nicht nachgewiesen und feststellbar. Maßstab für die gerichtliche Kontrolle sind allein die vorhanden und verwertbaren Informationen, die der Behörde im Zeitpunkt der Prüfung tatsächlich zugänglich waren (BAG, 25.01.2017 - 10 ABR 43/15).
8.25 Transparenzpflicht
"Die sich aus Art. 56 AEUV ergebende Transparenzpflicht steht der von einem Mitgliedstaat vorgenommenen Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines von den Arbeitgeberorganisationen und den Arbeitnehmerorganisationen einer Branche geschlossenen Tarifvertrags für sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer dieser Branche entgegen, mit dem die Verwaltung eines zusätzlichen Pflichtvorsorgesystems für die Arbeitnehmer einem einzigen, von den Tarifpartnern ausgewählten Wirtschaftsteilnehmer übertragen wird, ohne dass die nationale Regelung eine angemessene Öffentlichkeit vorsieht, die es der zuständigen Behörde ermöglicht, mitgeteilte Informationen über das Vorliegen eines günstigeren Angebots in vollem Umfang zu berücksichtigen. Die Wirkungen des vorliegenden Urteils gelten nicht für die eine einzige Einrichtung mit der Verwaltung eines Zusatzvorsorgesystems beauftragenden Tarifverträge, die vor der Verkündung des vorliegenden Urteils von einer Behörde für sämtliche Arbeitgeber und Arbeitnehmer einer Branche für verbindlich erklärt wurden, wobei vor diesem Zeitpunkt erhobene Klagen unberührt bleiben" (EuGH, 17.12.2015 - C-25/14 u. C-26/14 - Leitsätze - Frankreich).
8.26 Überprüfbarkeit
Dass bei der Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags nach § 5 TVG alles mit Rechten Dingen zugegangen ist, dafür spricht eigentlich der Beweis des ersten Anscheins. Dieser Beweis kann allerdings erschüttert werden, sodass in einem Rechtsstreit zwischen Arbeitgeber und Sozialversicherer, in dem es um die Berechtigung einer Beitragsforderung nach § 28p Abs. 1 Satz 5 SGB IV geht, von Amts wegen zu prüfen ist, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Allgemeinverbindlicherklärung vorliegen. Der Beweis des ersten Anscheins ist beispielsweise erschüttert, wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrags fallenden Arbeitnehmer beschäftigen - § 5 Abs. 1 Nr. 1 TVG (LSG Berlin-Brandenburg, 25.06.2010 - L 1 KR 87/08).
8.27 Zusatzversorgungskasse Bau
Art. 11 EMRK garantiert die Vereinigungsfreiheit auf zwei Wegen: Positiv durch das Recht, eine Vereinigung zu gründen oder ihr beizutreten, negativ durch das Recht, einer Vereinigung nicht beizutreten. Trotzdem ist eine Beitrittspflicht nicht immer gleich konventionswidrig, auch wenn damit in die Vereinigungsfreiheit eingegriffen wird. Dem Sozialkassenverfahren in der Baubranche liegt das Solidaritätsprinzip zugrunde. Eine soziale Absicherung aller Arbeitnehmer einer Branche ist nicht zu erreichen, wenn nur organisierte Arbeitgeber an dem System teilnehmen würden. Vor diesem Hintergrund verletzt der durch die Allgemeinverbindlicherklärung des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren geschaffene BeitrittszwangArt. 11 EMRK nicht (EGMR, 02.06.2016 - V 23646/09 - Deutschland).