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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Kündigung - verhaltensbedingt: Interessenabwägung
Kündigung - verhaltensbedingt: Interessenabwägung
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.Rechtsprechungs-ABC
- 4.1
- 4.2
- 4.3
- 4.4
- 4.5
- 4.6
- 4.7
- 4.8
- 4.9
- 4.10
- 4.11
- 4.12
- 4.13
- 4.14
- 4.15
- 4.16
- 4.17
- 4.18
- 4.19
Information
1. Allgemeines
Der Arbeitgeber muss bei der ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung eine Interessenabwägung vornehmen. Die Bewertung aller für und gegen eine Kündigung sprechenden Punkte ist Bestandteil der sozialen Rechtfertigung dieser Kündigung. Das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers hat dabei keinen grundsätzlichen Vorrang gegenüber dem Bestandsinteresse seines Arbeitnehmers. Dieser Vorrang muss sich erst als Ergebnis eines sorgfältigen Abwägungsprozesses herausstellen.
Praxistipp:
Im Gegensatz zur ordentlichen personenbedingten Kündigung sind bei einer verhaltensbedingten keine so hohen Anforderungen an die Interessenabwägung zu stellen. Hier hat der Arbeitnehmer mit seinem Verhalten selbst den Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses gesetzt. Trotzdem muss die Interessenabwägung möglichst umfassend sein und nach objektiven Maßstäben erfolgen. Unterm Strich wird man aber davon ausgehen können, dass eine an sich zur Kündigung berechtigende Pflichtverletzung nur bei besonderen, bei der Interessenabwägung zu Gunsten des Arbeitnehmers zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalls erfolglos bleibt.
Die Beendigung des Arbeitsverhältnisses muss als Ergebnis der Interessenabwägung billigenswert und angemessen erscheinen. Der Arbeitgeber hat bei der Beurteilung einen gewissen Spielraum. Das macht es für ihn manchmal schwer, die richtige Entscheidung zu treffen. Hinzu kommt, dass das Kündigungsschutzgesetz dem Arbeitgeber selbst überhaupt keinen Kriterienkatalog für die Abwägung vorgibt, sondern erst ein Arbeitsgericht ihm später sagen wird, was er möglicherweise falsch gemacht und nicht berücksichtigt hat. Die Interessenabwägung ist der der fünfte Schritt des Prüfungsschemas für eine verhaltensbedingte Kündigung.
2. Sinn und Zweck der Interessenabwägung
Die ordentliche verhaltensbedingte Kündigung muss nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG sozial gerechtfertigt sein. Die soziale Rechtfertigung dieser Kündigung verlangt zwingende eine Interessenabwägung. Mit ihr soll das
Beendigungsinteresse des Arbeitgebers mit dem
Bestandsinteresse des Arbeitnehmers
verglichen und beide miteinander abgewogen werden. Das heißt vom Ergebnis her, dass keines der betroffenen Interessen einen grundsätzlichen Vorrang hat. Die Auflösung des Arbeitsverhältnisses muss in angemessener Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheinen (BAG, 13.03.2008 - 2 AZR 88/07). Dabei hat die Interessenabwägung alle wesentlichen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen (LAG Baden-Württemberg, 12.04.2002 - 18 Sa 5/02).
Beispiel:
Mitarbeiter M ist als Außendienstler arbeitsvertraglich verpflichtet, Besuchsberichte zu schreiben. In diesen Berichten soll M die Namen seiner Ansprechpartner, gegenwärtige und zukünftige Bedarfe, mögliche Konditionen, betriebliche Besonderheiten und anderes mehr festhalten. Arbeitgeber A will damit zum einen Daten für die laufenden Geschäftsverbindungen sammeln, zum anderen aber auch eine gewisse Kontrolle der Außendiensttätigkeit sicherstellen. M wurde schon wiederholt von A abgemahnt, weil er seine Berichtspflicht in einigen Fällen gar nicht, in anderen nur unvollständig erfüllt hat. Will A den M nun kündigen, darf er dabei nicht einseitig sein Interesse an einem geordneten Betriebsablauf im Auge haben. Er muss auch an M's soziale Situation und etwaige Gründe denken, die dessen Fehlverhalten vielleicht etwas weniger kündigungsrelevant erscheinen lassen.
Der Arbeitgeber hat bei der Interessenabwägung einen gewissen Spielraum. Das macht seine Entscheidung vor Gericht oft angreifbar - liegt zwischen richtig und falsch doch eine ganze Bandbreite weiterer Entscheidungsmöglichkeiten, in den man durchaus unterschiedlicher Auffassung sein kann. Aber selbst wenn in Zukunft nicht mehr mit so häufigen und erheblichen Pflichtverletzungen zu rechnen ist wie bisher, muss das nicht unbedingt zu Gunsten des Arbeitnehmers sprechen, wenn die Pflichtverletzungen entsprechende betriebliche Auswirkungen haben (LAG Baden-Württemberg, 08.09.2004 - 2 Sa 66/04).
3. Einzelne Abwägungsgesichtspunkte
§ 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG gibt für die Interessenabwägung bei einer ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung keine Kriterien vor. Damit ist einem Arbeitgeber natürlich nicht geholfen. Er möchte möglichst rechtssichere Merkmale an die Hand bekommen, mit denen er in seinem ganz speziellen Fall die Interessenabwägung vornehmen kann.
Praxistipp:
Die Interessenabwägung im Rahmen einer ordentlichen Kündigung ist keine Sozialauswahl, wie § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG sie für eine betriebsbedingte Kündigung vorschreibt. Trotzdem sind die Auswahlkriterien Alter, Betriebszugehörigkeit, Schwerbehinderung und Unterhaltspflichten auch hier zu beachten. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl weiterer Gesichtspunkte, die sich oft erst in den Besonderheiten des Einzelfalls zeigen. Daher ist es von Anfang an angebracht, die Interessenabwägung möglichst breit und umfassend anzulegen.
Das Beendigungsinteresse des Arbeitgebers wird im Wesentlichen vom Gewicht der Vertragsverletzung geprägt. Dieses Gewicht wiederum lässt sich nach der Bedeutung der verletzten Pflichten für das Arbeitsverhältnis und der Intensität der Pflichtverletzung nach Beharrlichkeit und Häufigkeit sowie nach dem Grad des Verschuldens bestimmen (LAG Sachsen-Anhalt, 14.01.2003 - 8 Sa 341/02). In den beiden folgenden Gliederungspunkten werden kurz einige der gängigen Abwägungskriterien vorgestellt:
3.1 Kriterien auf Seiten des Arbeitgebers
Auf Seiten des Arbeitgebers sind insbesondere zu berücksichtigen:
Belastung des Arbeitsverhältnisses
Erheblichkeit der Pflichtverletzung
Gefährdung des Arbeitgebereigentums
Qualität der Pflichtverletzung
Schädigungsabsicht
Sicherung reibungsloser Betriebsabläufe
strafrechtliche Relevanz des Arbeitnehmerverhaltens
vorsätzliche Umgehung von Arbeitgebervorgaben
Weitere Abwägungskriterien zu Gunsten des Arbeitgebers stehen im Stichwort Kündigung - außerordentliche: Interessenabwägung. Dort ist ein umfangreicher Katalog an Gesichtspunkten hinterlegt, die im Sinn einer Positiv-/Negativliste miteinander in Beziehung gesetzt werden können. Ergänzend wird auf das Stichwort Kündigung - personenbedingt: Interessenabwägung verwiesen.
3.2 Kriterien auf Seiten des Arbeitnehmers
Auf Seiten des Arbeitnehmers sind insbesondere zu berücksichtigen:
reduzierte Arbeitsmarktchancen
längere Dauer der Betriebszugehörigkeit
Familienstand
höheres Lebensalter
Schwerbehinderteneigenschaft
soziale Situation
Unterhaltspflichten
geringes oder fehlendes Verschulden
Weitere Abwägungskriterien zu Gunsten des Arbeitnehmers sind im Stichwort Kündigung - außerordentliche: Interessenabwägung hinterlegt.
4. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Interessenabwägung bei einer verhaltensbedingten Kündigung in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
4.1 Alkoholmissbrauch/-sucht
Die Entscheidung erging zwar zur Frage, ob der Arbeitgeber einem alkoholkranken Mitarbeiter Arbeitsentgelt fortzahlen muss, wenn er nach mehreren Entziehungskuren wieder rückfällig wird. Sie macht aber zunächst deutlich, dass Alkoholsucht eine Krankheit ist - was wiederum bei einer verhaltensbedingten Kündigung im Rahmen einer Interessenabwägung zu berücksichtigen ist. Es macht nämlich schon einen Unterschied, ob ein Verhalten steuerbar oder - wie bei einer Suchterkrankung - nicht steuerbar ist. Trotzdem entschuldet Alkoholabhängigkeit allein nicht alles: Wird ein Mitarbeiter infolge seiner Alkoholsucht arbeitsunfähig krank, kann nach derzeitigem Stand der Medizin nicht allgemein davon ausgegangen werden, dass der Arbeitnehmer seine alkoholbedingte Arbeitsunfähigkeit i.S.d. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG verschuldet hat. Es gibt für das Entstehen von Alkoholsucht nicht nur den einen Grund. Sie entsteht multikausal. Hinzu kommt, dass sich die verschiedenen Ursachen auch noch wechselseitig bedingen. Nach einem durchgeführten Alkoholentzug gibt es eine Abstinenzrate von 40 bis 50 % - was die Annahme nährt, dass ein Verschulden des Arbeitnehmers an seinem Rückfall trotz Alkoholabhängigkeit nicht generell auszuschließen ist (BAG, 18.03.2015 - 10 AZR 99/14).
4.2 Außerdienstliche Straftat
Was war Anlass der Kündigung? Arbeitgeber A hatte aus der Presse erfahren, dass sein Mitarbeiter M, ein Chemielaborant, ein Betäubungsmittel- und Sprengstoffdelikt begangen hatte und wegen eines versuchten Sprengstoffvergehens verurteilt worden war. Er sprach gleich die fristlose Kündigung aus - wurde vom LAG Düsseldorf jedoch wieder eingebremst. Obwohl bei einer außerdienstlichen Straftat eine außerordentliche verhaltensbedingte Kündigung möglich ist: Der Arbeitgeber muss dabei Art und Schwere des Delikts, die von seinem Mitarbeiter ausgeübte konkrete Tätigkeit und dessen Stellung im Betrieb berücksichtigen. Danach war die außerordentliche Kündigung hier - auch mit Blick auf die lange Betriebszugehörigkeit - unwirksam (LAG Düsseldorf, 12.04.2018 - 11 Sa 319/17).
4.3 Berücksichtigung von Ablaufstörungen
Die Annahme des (Landes)Arbeitsgerichts, das Fehlen betrieblicher Ablaufstörungen wirke sich nicht auf die Interessenabwägung aus, ist im Ergebnis nicht zu beanstanden, "wenn die Interessenabwägung - ohne Rechtsfehler - auch unabhängig davon zugunsten des Arbeitnehmers ausfällt." Aber: Grundsätzlich gehört das Fehlen betrieblicher Ablaufstörungen genauso wie ihr Vorhandensein schon zu einer vollständigen Interessenabwägung, wenn es – wie in diesem Fall – um die Verletzung der Anzeigepflicht nach § 5 Abs. 1 Satz 1 EFZG und eine darauf gestützte Kündigung geht. "Die Zumutbarkeit oder Unzumutbarkeit einer Weiterbeschäftigung ist stets aufgrund einer umfassenden Würdigung aller im Einzelfall für die zukünftige Vertragsdurchführung relevanten Umstände zu prüfen. Dazu gehören auch die bisherigen und zukünftig zu erwartenden Auswirkungen einer Pflichtverletzung" (BAG, 07.05.2020 – 2 AZR 619/19).
4.4 Gerichtliche Überprüfung
Die Antwort auf die Frage, ob der Arbeitgeber die Grenzen der Verhältnismäßigkeit bei der Interessenabwägung eingehalten hat, ist gerichtlich überprüfbar. Das Berufungsgericht hat allerdings bei Prüfung der Interessenabwägung einen Beurteilungsspielraum. Das Bundesarbeitsgericht kann die Beurteilung des LAG in der Revision deswegen nur daraufhin kontrollieren, "ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob es alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat" (BAG, 29.06.2017 - 2 AZR 302/16 - mit Hinweis auf BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 569/14 und BAG, 20.11.2014 - 2 AZR 651/13).
4.5 Grundsatz
"Eine Kündigung aus Gründen des Verhaltens des Arbeitnehmers i.S.v. § 1 Abs. 2 KSchG ist sozial gerechtfertigt, wenn der Arbeitnehmer mit dem ihm vorgeworfenen Verhalten eine Vertragspflicht - i.d.R. schuldhaft - erheblich verletzt, das Arbeitsverhältnis konkret beeinträchtigt wird, eine zumutbare Möglichkeit anderer Beschäftigung nicht besteht und die Lösung des Arbeitsverhältnisses in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile billigenswert und angemessen erscheint" (BAG, 23.06.2009 - 2 AZR 283/08).
4.6 Kopftuchverbot - 1
"Die Regelung in § 2 Berliner NeutrG, wonach es Lehrkräften und anderen Beschäftigten mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen ohne weiteres ua. verboten ist, innerhalb des Dienstes auffallende religiös oder weltanschaulich geprägte Kleidungsstücke, mithin auch ein islamisches Kopftuch zu tragen, ist, sofern das Tragen dieses Kleidungsstücks nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist, verfassungskonform dahin auszulegen, dass sie das Tragen des Kopftuchs innerhalb des Dienstes nur bei Vorliegen einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität verbiete" (BAG, 27.08.2020 – 8 AZR 62/19 – zur Benachteiligung wegen der Religion bei einer Einstellung).
4.7 Kopftuchverbot - 2
"1. Art. 1 der Richtlinie 2000/78/EG … Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die darin enthaltenen Begriffe 'Religion oder … Weltanschauung' einen einzigen Diskriminierungsgrund darstellen, der sowohl religiöse als auch weltanschauliche oder spirituelle Überzeugungen umfasst. 2. Art. 2 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/78 ist dahin auszulegen, dass eine Bestimmung in einer Arbeitsordnung eines Unternehmens, die es den Arbeitnehmern verbietet, ihre religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, welche diese auch immer sein mögen, durch Worte, durch die Kleidung oder auf andere Weise zum Ausdruck zu bringen, gegenüber Arbeitnehmern, die ihre Religions- und Gewissensfreiheit durch das sichtbare Tragen eines Zeichens oder Bekleidungsstücks mit religiösem Bezug ausüben möchten, keine unmittelbare Diskriminierung 'wegen der Religion oder der Weltanschauung' im Sinne dieser Richtlinie darstellt, wenn diese Bestimmung allgemein und unterschiedslos angewandt wird" (EuGH, 13.10.2022 – C-344/20 – 1. und 2. Leitsatz – Belgien).
4.8 Kopftuchverbot - 3
"Art. 1 der Richtlinie 2000/78" des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf "ist dahin auszulegen, dass er dem entgegensteht, dass nationale Vorschriften zur Umsetzung dieser Richtlinie in das nationale Recht, die dahin ausgelegt werden, dass religiöse und weltanschauliche Überzeugungen zwei verschiedene Diskriminierungsgründe darstellen, als 'Vorschriften …, die im Hinblick auf die Wahrung des Gleichbehandlungsgrundsatzes günstiger als die in dieser Richtlinie vorgesehenen Vorschriften sind', im Sinne von Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78 berücksichtigt werden können" (EuGH, 13.10.2022 – C-344/20 – 3. Leitsatz – Belgien).
4.9 Langjährige Betriebszugehörigkeit - 1
In die Interessenabwägung muss auch der Umstand einfließen, dass der betroffene Arbeitnehmer über eine langjährige beanstandungsfreie Betriebszugehörigkeit verfügt (hier: 31 Jahre). Ihr kann insoweit Gewicht bei der Beantwortung der Frage zukommen, ob der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis außerordentlich oder bloß ordentlich kündigen darf. Auch hier kommt es auf die Gesamtumstände des Falls an (BAG, 12.03.2009 - 2 AZR 251/07 - zur pflichtwidrigen Ankündung des Krankfeierns bei Ablehnung eines Urlaubsantrags).
4.10 Langjährige Betriebszugehörigkeit - 2
Die ordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Mitarbeiters aus dem hier vorgestellten Fall, zuletzt war er Leiter der Abteilung "Wohnbaufinanzierung" eines Kreditinstituts, war tarifvertraglich ausgeschlossen. Von seinem Arbeitgeber bekam er daher mit dem Vorwurf, pflichtwidrig bei der Vergabe fauler Kredite an Kunden mit unterdurchschnittlicher Bonität mitgewirkt zu haben, eine außerordentliche Kündigung. Die scheiterte dann trotz der vom Landesarbeitsgericht festgestellten erheblichen Pflichtverletzung infolge der Interessenabwägung. Unter anderem auch daran, dass der Gekündigte auf eine mehr als 25-jährige unbeanstandete Betriebszugehörigkeit zurückblicken konnte und die Fehler selbst auf der Vorstandsebene nicht aufgefallen waren. Als milderes Mittel wäre hier allenfalls eine ordentliche Kündigung in Betracht gekommen – die jedoch tariflich ausgeschlossen war (LAG Düsseldorf, 11.12.2020 – 6 Sa 420/20).
4.11 Meinungsfreiheit
Der vereinfachte Fall: Arbeitnehmer N warf Bürgermeister B der Stadt D in einer Personalversammlung Rechtsbeugung vor, weil der rechtswidrig den Abriss einer Wohnanlage genehmigt habe. Eine Woche später wiederholte N den Vorwurf auch noch in einer schriftlichen Erklärung. D kündigte N, hauptsächlich wegen dessen Äußerung in der Personalversammlung. N klagte sich durch die Instanzen. Zuletzt wies das BAG seine Nichzulassungsbeschwerde zurück und das BVerfG nahm seine Verfassungsbeschwerde erst gar nicht zur Entscheidung an. Schließlich scheiterte N auch vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Art. 10 EMRK schützt die Meinungsfreiheit zwar auch am Arbeitsplatz und sogar - wie hier - im öffentlichen Dienst. Beschäftigte müssen gegenüber ihrem Arbeitgeber jedoch gerade dort besonders loyal, diskret und zurückhaltend sein. In diesem Fall ging es nicht um whistle-blowing, sondern um persönliche Vorbehalte des Arbeitnehmers wegen der anstehenden Auflösung seiner Abteilung. Es ging auch nicht um eine Kritik im Interesse der Allgemeinheit, sondern um eine diffamierende - und zudem noch falsche - Anschuldigung des Bürgermeisters, ein schweres Verbrechen begangen zu haben. So ein Verhalten wird von Art. 10 EMRK nicht gedeckt. Die nationalen Gerichte haben das betroffene Grundrecht sorgfältig geprüft und mit den Arbeitgeberinteressen abgewogen. Ein Verstoß gegen Art. 10 EMRK ist nicht zu erkennen (EGMR, 17.09.2015 - 14464/11 - Deutschland).
4.12 Nachträglich eingetretene Umstände
Umstände, die nach der Kündigung eingetreten sind, können bei der Interessenabwägung eine Rolle spielen, wenn "sie das frühere Verhalten des Gekündigten in einem anderen Licht erscheinen lassen, d.h. ihm ein größeres Gewicht als der Kündigungsgrund verleihen". Das kann zum Beispiel passieren, wenn nach Beginn des Kündigungsschutzprozesses gleichartige Pflichtverstöße auftreten. Sie bestätigen dann nämlich die Wiederholungsgefahr (BAG, 28.07.2009 - 3 AZN 224/09 - mit dem Hinweis, dass auch das prozessuale Verhalten des gekündigten Arbeitnehmers Einfluss auf die Interessenabwägung haben kann).
4.13 Prüfungsmaßstab - Revision
Das Berufungsgericht hat bei der Überprüfung der vom Arbeitgeber vorgenommenen Interessenabwägung einen Beurteilungsspielraum. Das Revisionsgericht kann die Würdigung des zweitinstanzlichen Gerichts nur daraufhin überprüfen, "ob es bei der Unterordnung des Sachverhalts unter die Rechtsnormen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt und ob es alle vernünftigerweise in Betracht zu ziehenden Umstände widerspruchsfrei berücksichtigt hat" (s. dazu BAG, 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 und BAG, 27.09.2012 - 2 AZR 646/11). Die Frage, ob ein bestimmtes Arbeitnehmerverhalten kündigungsrelevant ist, ist nach objektiven Maßstäben zu beantworten. Dass der Arbeitgeber meint, ihm sei die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses unzumutbar, er habe das Vertrauen in seinen Mitarbeiter verloren, ist unerheblich (BAG, 19.11.2015 - 2 AZR 217/15).
4.14 Prüfungsumfang
Bei der Interessenabwägung sind "alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der konkreten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene 'Vertrauenskapital' ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes; eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmer ausreichen" (BAG, 10.06.2010 - 2 AZR 541/09 - zum Fall "Emmely" und dem Einlösen zweier fremder Pfandbons im Wert von 1,30 EUR durch eine Kassiererin mit über 30-jähriger, störungsfreier Beschäftigungsdauer).
4.15 Rechtsirrtum
Recht hat einen Geltungsanspruch. Der Schuldner kann das Risiko eines Rechtsirrtums daher nicht auf den Gläubiger abwälzen. Dieses Risiko trägt er selbst (s. dazu BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 569/14 und BAG, 19.08.2015 - 5 AZR 975/13). Erst dann, wenn der Schuldner seinen Rechtsirrtum auch unter Beachtung der notwendigen Sorgfalt nicht erkennen konnte, ist die Annahme eines unverschuldeten Rechtsirrtums gerechtfertigt. Bei der Bewertung der Sorgfalt sind allerdings strenge Maßstäbe anzulegen. Dass sich der Schuldner für seine Rechtsauffassung auf eine eigene Prüfung und fachkundige Beratung stützen kann, entlastet ihn nicht. Der Verlust eines möglichen Rechtsstreits muss zwar nicht undenkbar sein (s. dazu BAG, 12.11.1992 - 8 AZR 503/91). "Gleichwohl liegt ein entschuldbarer Rechtsirrtum nur dann vor, wenn der Schuldner damit nach sorgfältiger Prüfung der Sach- und Rechtslage nicht zu rechnen brauchte; ein normales Prozessrisiko entlastet ihn nicht (BAG, 17.11.2016 - 2 AZR 730/15 - mit Hinweis auf BAG, 22.10.2015 - 2 AZR 569/14; BAG, 29.08.2013 - 2 AZR 273/12; BGH, 06.12.2006 - IV ZR 34/05 und BGH, 27.09.1989 - IVa ZR 156/88).
4.16 Sozialwidrigkeit
Der Begriff der Sozialwidrigkeit im Sinn des § 1 Abs. 2 KSchG ist ein so genannter unbestimmter Rechtsbegriff. Die Anwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs kann vom Revisionsgericht nur daraufhin überprüft werden, ob das zweitinstanzliche Landesarbeitsgericht in dem angefochtenen Urteil den Rechtsbegriff selbst verkannt hat, ob es bei der Bewertung des Tatbestands gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat. Bei der gebotenen Interessenabwägung, bei der der Tatrichter einen Beurteilungsspielraum hat, muss das Gericht alle wesentlichen Umstände berücksichtigen (BAG, 31.05.2007 - 2 AZR 200/06).
4.17 Verdachtskündigung
Auch bei einer ordentlichen Verdachtskündigung i.S.d. § 1 Abs. 2 KSchG muss die Interessenabwägung am Ende den Schluss zulassen, "dass das Verhalten, dessen der Arbeitnehmer dringend verdächtig ist, - wäre es erwiesen - sogar eine sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses gerechtfertigt hätte" (s. dazu BAG, 18.06.2015 - 2 AZR 256/14)." Die Rechtsordnung mutet einem Arbeitgeber das Festhalten am Arbeitsverhältnis eines Mitarbeiters, der unter einem dringenden, die sofortige Beendigung seines Arbeitsverhältnisses rechtfertigenden Verdacht eines arbeitsrechtlichen Fehlverhaltens steht, nicht zu. "Besteht dagegen der Verdacht auf das Vorliegen eines solchen Grundes nicht, weil selbst erwiesenes Fehlverhalten des Arbeitnehmers die sofortige Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht rechtfertigen könnte, überwiegt bei der Güterabwägung im Rahmen von Art. 12 Abs. 1 Satz 1 GG dessen Bestandsinteresse. In einem solchen Fall nimmt die Rechtsordnung das im Fall einer Verdachtskündigung besonders hohe Risiko, einen 'Unschuldigen' zu treffen, nicht in Kauf" (BAG, 31.01.2019 - 2 AZR 426/18 - mit Hinweis auf BAG, 21.11.2013 - 2 AZR 797/11).
4.18 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Die Konkretisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfolgt in Benachteiligungsfällen u. a. durch § 12 Abs. 3 AGG. Er gibt dem Arbeitgeber in Abs. 3 auf, in AGG-Angelegenheit i.S.d. § 7 AGG "die im Einzelfall geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung wie Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung zu ergreifen." Dabei hängt es dann von den Einzelfallumständen ab, welche Maßnahme der Arbeitgeber als verhältnismäßig ansehen darf (s. dazu BAG, 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 - und BAG, 09.06.2011 - 2 AZR 323/10). Sein Auswahlermessen wird durch § 12 Abs. 3 AGG jedoch insoweit eingeschränkt, als der Arbeitgeber für eine "Unterbindung der Benachteiligung" zu sorgen hat. "Geeignet im Sinne der Verhältnismäßigkeit sind daher nur solche Maßnahmen, von denen der Arbeitgeber annehmen darf, dass sie die Benachteiligung für die Zukunft abstellen, dh. eine Wiederholung ausschließen" (BAG, 29.06.2017 - 2 AZR 302/16 - mit Hinweis auf BAG, 20.11.2014 - 2 AZR 651/13 und BAG, 09.06.2011 - 2 AZR 323/10).
4.19 Wartezeitkündigung
Arbeitnehmer sind nach § 1 Abs. 1 KSchG erst dann gegen sozial ungerechtfertigte Kündigungen geschützt, wenn sie "in demselben Betrieb oder Unternehmen ohne Unterbrechung länger als sechs Monate beschäftigt sind". So darf der Arbeitgeber während der Probezeit mit dem aus seiner Sicht negativen Ergebnis der Erprobung frei kündigen.
"Hierin liegt der entscheidende Unterschied zu der vom Kläger angeführten Rechtsprechung zu verhaltensbedingten Kündigungen im Anwendungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes bzw. zu außerordentlichen Kündigungen nach § 626 Abs. 1 BGB, bei denen stets eine Abwägung der beiderseitigen Interessen zu erfolgen hat" (BAG, 23.04.2009 - 6 AZR 516/08 - mit dem Schluss, dass der Arbeitgeber im Rahmen des § 102 BetrVG nicht verpflichtet ist, dem Betriebsrat Sozialdaten mitzuteilen, auf die es weder nach seiner Sicht noch nach der seines Betriebsrats ankommen kann).