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BFH, 12.02.1959 - IV 73/58 U - Anwendbarkeit von Befugnissen zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach Gerichtsverfassungsgesetz durch Finanzrichter bei Amtshandlungen außerhalb der mündlichen Verhandlung
Bundesfinanzhof
Beschl. v. 12.02.1959, Az.: IV 73/58 U
Anwendbarkeit von Befugnissen zur Aufrechterhaltung der Ordnung nach Gerichtsverfassungsgesetz durch Finanzrichter bei Amtshandlungen außerhalb der mündlichen Verhandlung
Fundstellen:
BFHE 68, 422 - 426
BStBl III 1959, 161
DB 1959, 421-422 (Volltext mit amtl. LS)
NJW 1959, 960 (amtl. Leitsatz)
BFH, 12.02.1959 - IV 73/58 U
Amtlicher Leitsatz:
Die in den §§ 176 bis 179 GVG bezeichneten Befugnisse zur Aufrechterhaltung der Ordnung stehen in entsprechender Anwendung des § 180 GVG auch einem einzelnen Finanzrichter bei der Vornahme von Amtshandlungen außerhalb der mündlichen Verhandlung (§ 274 Abs. 3 AO) zu.
Zusammenfassung:
Die in den §§176 bis 179 GVG bezeichneten Befugnisse zur Aufrechterhaltung der Ordnung stehen in entsprechender Anwendung des §180 GVG auch einem einzelnen Finanzrichter bei der Vornahme von Amtshandlungen außerhalb der mündlichen Verhandlung (§274 Abs. 3 AO) zu.
Tatbestand
1
Der Beschwerdeführer (Bf.) wendet sich gegen die Festsetzung einer Ordnungsstrafe von 1000 DM sowie gegen die ersatzweise Verhängung von je einem Tag Haft für je 100 DM. Die Ordnungsstrafe von 1000 DM hat der Vorsitzende der III. Kammer des Finanzgerichts X gegen den Bf. wegen ungebührlichen Verhaltens anläßlich einer Verhandlung festgesetzt, die er gemäß § 271 Abs. 1 der Reichsabgabenordnung (AO) zur Vorbereitung der Entscheidung in dessen Einkommensteuersache II/1948 bis 1952 am 14. August 1957 unter Hinzuziehung zweier ehrenamtlicher Beisitzer durchgeführt hat. In der Verhandlungsniederschrift vom gleichen Tage, die vom Vorsitzenden und von der als Schriftführerin hinzugezogenen Vertragsangestellten unterzeichnet ist, heißt es hierzu:
"Der Vorsitzende entzog dem Bf das Wort. Dieser sprach trotzdem in sehr lautem Ton weiter und wiederholte den Vorwurf der Rechtsunkenntnis des Vorsitzenden in Patentsacken, sowie des Vortragenden und der ehrenamtlichen Beisitzer. Der Vorsitzende unterbrach daraufhin die Verhandlung, weil eine ordnungsgemäße Fortführung in getrennter Rede und Antwort nicht mehr möglich war, da der Bf in ungebührlicher Weise seine Anwürfe vorbrachte. Der Vorsitzende verhängte wegen dauernden ungebührlichen Benehmens des Bf eine Ordnungsstrafe von 1000 DM auf Grund der gerichtspolizeilichen Bestimmungen."
2
In dem ebenfalls am 14. August 1957 ergangenen schriftlichen Beschluß des Vorsitzenden, der dem Vertreter des Bf. am 22. August 1957 zugestellt wurde, ist im einzelnen weiter ausgeführt, worin das ungebührliche Verhalten des Bf. bestand. Auf diesen Beschluß wird Bezug genommen.
3
Gemäß der in dem genannten Beschluß unter Hinweis auf § 271 Abs. 2 Satz 3 AO erteilten Belehrung beantragte der Bf. durch Schriftsatz vom 30. August 1957 die Entscheidung der Kammer, die durch Urteil vom 1. Oktober 1957 den Beschluß des Vorsitzenden vom 14. August 1957 bestätigte. Gegen dieses Urteil hat der Bf. - ebenfalls der erteilten Belehrung entsprechend - rechtzeitig Rechtsbeschwerde (Rb.) eingelegt.
4
Im Schriftsatz vom 30. August 1957 wird anerkannt, daß das Verhalten des Bf. "objektiv betrachtet" nicht zu billigen sei. Die Würde des Gerichts verlange eine "möglichst objektive Sachlichkeit". Trotzdem erscheine die Verhängung einer Ordnungsstrafe in Höhe von 1000 DM nicht erforderlich. Unglückliche Umstände und Mißverständnisse hätten zur Erregung des Bf. geführt. Er habe geglaubt, daß er von dem die Sache vortragenden Regierungsrat ausgelacht worden sei. Zudem habe sich der Bf. noch im Termin förmlich entschuldigt und damit zum Ausdruck gebracht, daß er das Ungebührliche seines Verhaltens eingesehen habe. Darüber hinaus wird sowohl im gleichen Schriftsatz als auch im Schriftsatz zur Begründung der Rb. das Verfahren in mehrfacher Hinsicht gerügt: Der Bf. sei ohne vorherige Bekanntgabe des Beweisthemas lediglich über seinen Vertreter zum Termin geladen worden. Es wäre aber - zumal in Anbetracht der rechtlich und tatsächlich schwierigen Streitsache - geboten gewesen, ihn persönlich unter vorheriger Bekanntgabe des Beweisthemas bzw. des Verhandlungsthemas zu laden. Ferner hätte nach der als Rechtsgrundlage für die Verhängung der Ordnungsstrafe in Betracht kommenden Vorschrift des § 178 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) die Strafe nur durch die Kammer, nicht aber durch den Vorsitzenden verhängt werden dürfen. Der Vorsitzende habe damit eine ihm nicht zustehende Befugnis in Anspruch genommen. Sein Verfahren sei mithin gesetzwidrig. Auch aus § 271 Abs. 1 AO lasse sich nichts Gegenteiliges herleiten. Wenn dort ausgesprochen sei, daß der Vorsitzende den Sachverhalt ermitteln könne und "dabei" dieselben Befugnisse habe wie das Gericht bzw. die Kammer, so seien damit nicht die Befugnisse im Sinne der §§ 177, 178 GVG, sondern nur die Ermittlungsbefugnisse im Sinne der AO - z.B. nach den §§ 243, 244 AO - gemeint. Im übrigen sei, da die Haftstrafe nach § 178 GVG im höchsten Falle drei Tage betrage, auch nur eine Ersatzstrafe von höchstens drei Tagen und nicht - wie festgesetzt - von zehn Tagen zulässig. Es sei auch zu beanstanden, daß die Verhandlungsniederschrift vom 14. August 1957 nicht den Erfordernissen des § 182 GVG entspreche. In ihr sei lediglich protokolliert, daß der Bf. - was für die Verhängung einer Ordnungsstrafe nicht ausreiche - die Sachkunde des Finanzgerichts in Patentsachen bestritten habe. Die in dem mit Gründen versehenen schriftlichen Beschluß vom 14. August 1957 angeführten Tatsachen seien jedenfalls nicht - wie nach § 182 GVG erforderlich - in der Niederschrift angegeben. Schließlich habe der Bf. auch nicht vorsätzlich gehandelt. Da seine ungewöhnliche Tonart auf seine begreifliche, sehr starke Erregung zurückzuführen sei, scheide vorsätzliches Handeln aus. Nach § 178 GVG sei aber Vorsatz erforderlich.
Entscheidungsgründe
5
Die Prüfung des Rechtsmittels führt
- a)
zur ersatzlosen Aufhebung des von der Kammer erlassenen Urteils vom 1. Oktober 1957,
- b)
zur Herabsetzung der Ordnungsstrafe auf 200 DM sowie zur Festsetzung einer Ersatzstrafe von einem Tag Haft, und zwar aus folgenden Erwägungen:
6
1.
Die AO erklärt die sitzungspolizeilichen Vorschriften des GVG (§§ 176 ff.) - anders als der Entwurf zur künftigen Finanzgerichtsordnung, der ganz allgemein ihre entsprechende Anwendbarkeit vorsieht - nur im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht bzw. der Kammer für anwendbar (§ 54 des Entwurfs eines Gesetzes zur Neuordnung der Finanzgerichtsbarkeit, Bundestagsdrucksache 127 der 3. Wahlperiode; § 274 Abs. 3 AO). Da dem Bf. darin zuzustimmen ist, daß sich § 271 Abs. 1 AO nur auf die Ermittlungsbefugnisse des Vorsitzenden, nicht aber auf dessen etwaige sitzungspolizeiliche Befugnisse bezieht, mangelt es an einer entsprechenden gesetzlichen Regelung für vorbereitende Verhandlungen im Sinne des § 271 Abs. 1 AO sowie für Beweistermine im Sinne des § 277 AO, obwohl auch insoweit zur Gewährleistung eines ungehinderten, der Würde des Gerichts entsprechenden Verfahrens die gleichen Erfordernisse wie im Falle der mündlichen Verhandlung gegeben sind. Die lückenhafte gesetzliche Regelung ist, wie Becker in seinem Kommentar zur Reichsabgabenordnung ausführt, auf das übereilte Zustandekommen der das Rechtsmittelverfahren betreffenden Vorschriften zurückzuführen (vgl. Becker, Reichsabgabenordnung, 5. Aufl., S. 524). Es ist Aufgabe der Rechtsprechung, derartige Lücken zu beseitigen, wie dies beispielsweise der Bundesfinanzhof für das Gebiet der Verjährungsvorschriften in seiner Entscheidung V z 72/55 U vom 31. Oktober 1957 (Bundessteuerblatt - BStBl - 1957 III S. 454, Slg. Bd. 65 S. 576) getan hat. Der Senat trägt keine Bedenken, die Vorschriften des GVG auch auf Fälle der vorliegenden Art anzuwenden, so daß es sich erübrigt, auf die in den allgemeinen Verwaltungsgerichtsgesetzen enthaltene Regelung zurückzugreifen. Der Senat sieht eine Bestätigung seiner Auffassung auch in der Fassung des § 4 Ziff. 2a des Gesetzes über den Bundesfinanzhof vom 29. Juni 1950 (Bundesgesetzblatt 1950 S. 257), da dort nicht nur die von den Finanzgerichten, sondern auch die von deren Vorsitzenden verhängten Ordnungsstrafen erwähnt werden.
7
Nach § 180 GVG war daher der Kammervorsitzende unter den Voraussetzungen des § 178 GVG zur Verhängung der Ordnungsstrafe befugt, gegen die gemäß § 181 GVG die binnen einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung einzulegende Beschwerde gegeben ist. Da über diese Beschwerde nach dem bereits genannten § 4 des Gesetzes über den Bundesfinanzhof der Senat als weitere Tatsacheninstanz im Beschlußverfahren (§ 306 AO) zu entscheiden hat, durfte das Finanzgericht bzw. dessen Kammer nicht über die Rechtmäßigkeit und Angemessenheit der von dem Vorsitzenden verhängten Ordnungsstrafe befinden. Die Entscheidung des Finanzgerichts vom 1. Oktober 1957 ist daher ersatzlos aufzuheben. Der mit Schriftsatz vom 30. August 1957 gestellte Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist nach § 249 Abs. 1 AO als Beschwerde in dem genannten Sinne aufzufassen. Diese ist zwar nicht innerhalb der Wochenfrist des § 181 GVG eingelegt, gleichwohl aber gemäß § 246 Abs. 3 AO im Hinblick auf die Unrichtigkeit der erteilten Belehrung als rechtzeitig anzusehen.
8
2.
Mit dem angefochtenen Beschluß sind die Voraussetzungen für die Verhängung der festgesetzten Ordnungsstrafe grundsätzlich zu bejahen. Es kann im gegebenen Zusammenhange dahingestellt bleiben, ob der Bf. ordnungsgemäß zum Termin geladen war. Da er sich am Termin beteiligte, war er wie jeder andere im Termin Anwesende nach den §§ 176 bis 180 GVG der Sitzungsgewalt des Vorsitzenden unterworfen. Es ist auch den Erfordernissen des § 182 GVG genügt. Der Beschluß des Vorsitzenden ist ebenso wie dessen Veranlassung in die Niederschrift aufgenommen. Weitere und ergänzende Ausführungen konnten dem schriftlich erteilten Beschluß vorbehalten bleiben. Das in der Niederschrift und in den schriftlichen Beschlußausführungen festgestellte Verhalten, das der Bf. nicht ernsthaft bestreitet, ist als Ungebühr im Sinne des § 178 GVG zu werten. Der Bf. war sich auch seines ungebührlichen Verhaltens bewußt und wäre in der Lage gewesen, seinen Willen seiner Einsicht gemäß zu bestimmen. Für eine gegenteilige Annahme ist weder etwas dargetan noch sonst ersichtlich.
9
Nach den Feststellungen, die dem angefochtenen Beschluß zugrunde liegen, hat sich der Bf. der Ungebühr nicht in mehreren Fällen, sondern nur in einem Fall schuldig gemacht, da sein Verhalten als einheitliches Ganzes anzusehen ist. Bei der gegebenen Sachlage ist die Verhängung der Höchststrafe von 1000 DM nicht vertretbar. Der Bf. hat in der Erregung gehandelt. Er hat sich zudem entschuldigt. Der Senat erachtet eine Ordnungsstrafe von 200 DM für angemessen. Die für den Fall der Uneinbringlichkeit zulässige Ersatzstrafe, die höchstens drei Tage betragen darf, wird auf einen Tag Haft festgesetzt (vgl. Zöller, Zivilprozeßordnung, 8. Aufl., S. 800).