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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Ausländische Arbeitnehmer - EU-Bürger
Ausländische Arbeitnehmer - EU-Bürger
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.
- 6.Rechtsprechungs-ABC
- 6.1
- 6.2
- 6.3
- 6.4
- 6.5
- 6.6
- 6.7
- 6.8
- 6.9
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Information
1. Allgemeines
Der EU-Verbund besteht mittlerweile (Stand: 2020) aus 27 Mitgliedsstaaten. Die Europäische Union nimmt weiter Form an. Das gemeinsame Handeln wird u.a. durch den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV - Vertrag von Lissabon) geregelt. Ein Werk, mit dem EU-Bürgern z.B. die Freizügigkeit in allen Ländern der EU garantiert wird. Teil dieser Freizügigkeit ist das Recht aller EU-Bürger, in den Mitgliedsstaaten eine Beschäftigung oder eine selbstständige Tätigkeit aufzunehmen - ein europäisches Grundrecht, das schon in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) verankert ist. So ist es selbstverständlich, dass Unionsbürger sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei bewegen und aufhalten dürfen (s. dazu Gliederungspunkt 2.). Großbritannien hat die EU - Stichwort "Brexit" - 2020 verlassen. Für britische Staatsangehörige gelten jetzt die Sonderregelungen in § 16 FreizügG/EU und § 421e SGB III.
Praxistipp:
Weiterführende Hinweise zum Thema Beschäftigung von Bürgern aus der Union, der Schweiz und den EWR-Staaten in der Bundesrepublik gibt es auf der Zoll-Webseite des Bundesministeriums für Finanzen. Interessante Information stehen auch auf der Internetseite des Auswärtigen Amts zur Verfügung.
Die Bestimmungen des AufenthG sind auf EU-Bürger nur in den besonders geregelten Fällen anzuwenden (dazu mehr in Gliederungspunkt 3.). Für Unionsbürger gilt vorrangig das FreizügG/EU (zuletzt geändert durch das Anpassungsgesetz vom 12.11.2020, BGBl. I 2020, 2417 ff.). Sie benötigen für ihre Einreise in die Bundesrepublik weder ein Visum noch einen Aufenthaltstitel. Sie brauchen auch nicht die Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit für die Aufnahme einer Beschäftigung (s. Gliederungspunkt 4.). Bürger aus den EWR-Staaten - Island, Liechtenstein, Norwegen - und der Schweiz sind EU-Bürgern weitgehend gleichgestellt (dazu: Gliederungspunkt 5.). Das Aufenthaltsrecht kann einem Unionsbürger - wenn kein Fall des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU oder des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU vorliegt - nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit entzogen werden. Aus den gleichen Gründen kann einem EU-Bürger auch die Einreise in die Bundesrepublik verweigert werden. Einzelfragen werden im Rechtsprechungs-ABC - Gliederungspunkt 6. - beantwortet.
2. Grundlegendes EU-Recht
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRC) gibt die Basis vor:
"Jede Person hat das Recht, zu arbeiten und einen frei gewählten oder angenommenen Beruf auszuüben" - Art. 15 Abs. 1 GRC.
"Alle Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die Freiheit, in jedem Mitgliedsstaat Arbeit zu suchen, zu arbeiten, sich niederzulassen oder Dienstleistungen zu erbringen" - Art. 15 Abs. 2 GRC.
"Die Staatsangehörigen dritter Länder, die im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten arbeiten dürfen, haben Anspruch auf Arbeitsbedingungen, die denen der Unionsbürgerinnen und Unionsbürgern entsprechen" - Art. 15 Abs. 3 GRC.
Zudem wird über Art. 16 GRC die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt.
Das schriftlich hinterlegte Recht der Europäischen Union (EU - früher: Europäische Gemeinschaft oder kurz EG) unterliegt ständigem Wandel. Die tragenden Grundprinzipien bleiben jedoch dieselben - auch wenn sie inzwischen nicht mehr um EG- oder EU-Vertrag (EGV/EUV), sondern im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV - Vertrag von Lissabon) hinterlegt sind. Hervorzuheben sind:
Art. 5 Abs. 2 AEUV: "Die Union trifft Maßnahmen zur Koordinierung der Beschäftigungspolitik der Mitgliedsstaaten, insbesondere durch Festlegung von Leitlinien für diese Politik."
Art. 9 AEUV: "Bei der Festlegung und Durchführung ihrer Politik und Maßnahmen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, mit der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes (...) Rechnung.
Art. 18 Satz 1 AEUV: "Unbeschadet besonderer Bestimmungen der Verträge ist in ihrem Anwendungsbereich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit verboten."
Art. 20 Abs. 1 AEUV: "Es wird eine Unionsbürgerschaft eingeführt. Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedsstaats besitzt. Die Unionsbürgerschaft tritt zur nationalen Staatsbürgerschaft hinzu, ersetzt sie aber nicht."
Art. 20 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 lit. a) AEUV: "Die Unionsbürgerinnen und Unionsbürger haben die in den Verträgen vorgesehenen Rechte und Pflichten. Sie haben unter anderem a) das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedsstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten", s. dazu auch Art. 21 AEUV.
Art 45 Abs. 1 AEUV: "Innerhalb der Union ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet."
Art. 45 Abs. 2 AEUV: "Sie [die Freizügigkeit] umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer in den Mitgliedsstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen." Wobei die Ausgestaltung der Freizügigkeit durch Art. 45 Abs. 3 AEUV vorgegeben wird.
Art. 46 AEUV ermächtigt das Europäische Parlament und den Rat, die erforderlichen Richtlinien und Verordnungen zur Umsetzung der Freizügigkeit zu erlassen.
Art. 49 bis 55 AEUV regeln das Niederlassungsrecht.
Die Vorgaben des AEUV sind nicht nur leere Worthülsen. Sie werden von den EU-Staaten mit Leben gefüllt.
3. EU-Bürger
Die heutige Europäische Union (EU) wurde 1957 als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet. Gründungsmitglieder waren sechs Staaten:
Belgien
Deutschland
Frankreich
Italien
Luxemburg
Niederlande
Der Gemeinschaft der sechs traten in den Folgejahren weitere europäische Staaten hinzu. Zurzeit gehören einschließlich der Bundesrepublik 27 europäische Länder zum Staatenverbund. Und es gibt noch zahlreiche Beitritts-Interessenten.
Die Einreise und der Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten (Unionsbürger) und ihrer Familienangehörigen wird durch das Gesetz über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU) geregelt. EU-Bürger i.S.d. FreizügG/EU sind ausländische Arbeitnehmer aus
Belgien, Bulgarien,
Dänemark,
Estland,
Finnland, Frankreich,
Griechenland,
Irland, Italien,
Kroatien
Lettland, Litauen, Luxemburg,
Malta,
Niederlande,
Österreich,
Polen, Portugal,
Rumänien,
Schweden, Slowakische Republik, Slowenien, Spanien,
Tschechische Republik,
Ungarn und
Zypern.
Die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten in die EU erfolgt durch Beitrittsverträge. In diesen Beitrittsverträgen wird - wie zuletzt bis zum 30.06.2015 für das EU-Neumitglied Kroatien - u.a. geregelt, ab wann die Bürger dieses Neumitglieds Arbeitnehmerfreizügigkeit haben.
Ein neuer § 3a FreizügG/EU regelt seit Ende November 2020 den Aufenthalt nahestehender Personen, die selbst keine EU-Bürger und auch nicht nach den §§ 3 oder 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt sind. Wer das ist, regelt § 1 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU. Zu diesem Personenkreis gehören beispielsweise Verwandte i.S.d. § 1589 BGB (§ 1 Abs. 2 Nr. 4 lit. a) FreizügG/EU) sowie "eine Lebensgefährtin oder ein Lebensgefährte, mit der oder dem die Person eine glaubhaft dargelegte, auf Dauer angelegte Gemeinschaft eingegangen ist ..." (§ 1 Abs. 2 Nr. 4 lit. c) FreizügG/EU).
4. Recht auf Einreise und Aufenthalt
Für ausländische Arbeitnehmer aus Drittstaaten gibt es das AufenthG (s. dazu auch das Stichwort Ausländische Arbeitnehmer - Blaue Karte EU). Für EU-Bürger gilt vorrangig das FreizügG/EU, nicht das AufenthG. Das FreizügG/EU regelt
die Einreise und
den Aufenthalt
von Staatsangehörigen anderer EU-Mitgliedsstaaten (= EU-Bürger), ihren Familienangehörigen und ihnen nahestehenden Personen, die keine EU-Bürger sind (§ 1 FreizügG/EU). Wer "Familienangehöriger" i.S.d. FreizügG/EU ist, wird in § 1 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU definiert, wer zu den "nahestehenden Personen" gehört, sagt § 1 Abs. 2 Nr. 4 FreizügG/EU.
EU-Bürger sind aufenthaltsrechtlich privilegiert. Wären sie das nicht, würde die Europäische Union keinen Sinn machen. Gemeinsamkeit entsteht und besteht nur, wenn Schranken und Hindernisse fallen. Die EU-rechtliche Freizügigkeit liefe leer, würde sie durch nationale Bestimmungen wieder eingeschränkt.
4.1 Grundsätze
Freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger und ihre Familienangehörigen haben das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe des FreizügG/EU (§ 2 Abs. 1 FreizügG/EU). Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis Nr. 7 FreizügG/EU insbesondere Unionsbürger,
die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen (§ 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU),
die sich zur Arbeitsuche aufhalten, für bis zu sechs Monate und darüber hinaus nur, solange sie nachweisen können, dass sie weiterhin Arbeit suchen und begründete Aussicht haben, eingestellt zu werden (§ 2 Abs. 2 Nr. 1a FreizügG/EU),
die zur Ausübung einer selbstständigen Erwerbstätigkeit berechtigt sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 FreizügG/EU),
die - ohne sich niederzulassen - als selbstständige Erwerbstätige Dienstleistungen i.S.d. Art. 57 AEUV erbringen wollen, wenn sie zur Erbringung der Dienstleistung berechtigt sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 3 FreizügG/EU).
Mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit von Hafenarbeitern befasst sich der EuGH ausführlich in seiner Entscheidung vom 11.02.2021 (EuGH, 11.02.2021 – C-407/19 u. C-471/19). Hafenarbeiter sind zwar eine besondere Klientel, trotzdem ist es mit nationalen Vorschriften möglich, ihre Beschäftigung von bestimmten Voraussetzungen – u.a. Anerkennung, Qualifikation, Sicherung des Status – abhängig zu machen, ohne damit gleich gegen die Art. 45, 49 und 56 AEUV zu verstoßen.
Eine vorübergehende Erwerbsminderung wegen Krankheit oder eines Unfalls lassen das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU unberührt (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FreizügG/EU). Das Gleiche gilt für die von der zuständigen Agentur für Arbeit bestätigten Zeiten unfreiwilliger Arbeitslosigkeit oder die Einstellung einer selbstständigen Tätigkeit wegen Umständen, auf die der Selbstständige keinen Einfluss hatte, nach mehr als einem Jahr Tätigkeit (§ 2 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FreizügG/EU). EU-Bürger brauchen für ihre Einreise kein Visum und für ihren Aufenthalt keinen Aufenthaltstitel (§ 2 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU). Sie können allerdings ihr Recht auf Einreise und Aufenthalt unter den Bedingungen des § 6 FreizügG/EUverlieren.
Praxistipp:
Familienangehörige und nahestehende Personen, die nicht Unionsbürger sind, brauchen für die Einreise ein Visums nach den Bestimmungen für Ausländer, für die das AufenthG gilt (§ 2 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU).
Nach Maßgabe des § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU haben EU-Bürger, die sich seit fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, unabhängig von § 2 Abs. 2 FreizügG/EU das Recht auf Einreise und Aufenthalt (Daueraufenthaltsrecht).
Praxistipp:
Familienangehörige und nahestehende Personen, die Inhaber eines Rechts nach § 3a Abs. 1 FreizügG/EU sind, die nicht Unionsbürger sind, haben ein Daueraufenthaltsrecht nach § 4a Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU, "wenn sie sich seit fünf Jahren mit dem Unionsbürger ständig rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten haben" (§ 4a Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU).
Vor Ablauf der fünf Jahre haben EU-Bürger ein Daueraufenthaltsrecht, wenn die Anforderungen aus § 4a Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis Nr. 3 FreizügG/EU erfüllt sind. Dabei wird der ständige Aufenthalt durch Abwesenheitszeiten bis zu insgesamt sechs Monaten (§ 4a Abs. 6 Nr. 1 FreizügG/EU) oder eine einmalige Abwesenheit von bis zu zwölf aufeinander folgenden Monaten aus wichtigem Grund, z. B. wegen Schwangerschaft und Entbindung oder einer schweren Krankheit, nicht berührt (§ 4a Abs. 6 Nr. 3 FreizügG/EU).
Für EU-Bürger besteht lediglich die allgemeine Meldepflicht bei den zuständigen Einwohnermeldeämtern.
4.2 Verfahrensvorschriften
Für freizügigkeitsberechtigte Familienangehörige, die keine Unionsbürger sind, regelt § 5 FreizügG/EU die Ausstellung von Aufenhaltskarten und Bescheinigungen über den Daueraufenthalt. Die Voraussetzungen des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU sind auf Verlangen der zuständigen Ausländerbehörde drei Monate nach der Einreise glaubhaft zu machen (§ 5 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Die zuständige Behörde darf in den Fällen des § 5 Abs. 2 FreizügG/EU nach Maßgabe des § 5a FreizügG/EU die Vorlage bestimmter Dokumente - u.a. Einstellungsbestätigung - und Nachweise - u. a. über den bestehenden Krankenversicherungsschutz - verlangen.
Praxistipp:
Für nahestehende Personen, die nicht EU-Bürger sind, stellt die zuständige Behörde bei Verleihung des Rechts nach § 3a FreizügG/EU eine Aufenthaltskarte aus, die fünf Jahre gültig sein soll. Die Inhaber des Rechts dürfen eine Erwerbstätigkeit ausüben (§ 5 Abs. 7 Satz 1 u. 2 FreizügG/EU).
Der Verlust des Rechts nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU kann - unbeschadet des § 2 Abs. 7 FreizügG/EU und des § 5 Abs. 4 FreizügG/EU - nur aus Gründen der öffentlichen
Ordnung,
Sicherheit oder
Gesundheit
festgestellt (s. dazu auch Art. 45 Abs. 3, Art. 52 Abs. 1 AEUV) und
die Bescheinigung über das Daueraufenthaltsrecht oder
die Aufenthaltskarte oder Daueraufenthaltskarte
eingezogen werden (§ 6 Abs. 1 FreizügG/EU). Aus den vorgenannten Gründen kann dann auch die Einreise verweigert werden (§ 6 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU).
Die Feststellung aus Gründen der öffentlichen Gesundheit kann nur erfolgen, wenn es sich um Krankheiten mit epidemischem Potenzial i.S.d. einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und/oder sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten handelt, sofern gegen diese Krankheiten Maßnahmen im Bundesgebiet getroffen werden (§ 6 Abs. 1 Satz 3 FreizügG/EU). Krankheiten, die nach Ablauf einer Frist von drei Monaten ab dem Zeitpunkt der Einreise auftreten, stellen keinen Grund für die Feststellung nach § 6 Abs. 1 Satz 1 FreizügG/EU dar (§ 6 Abs. 1 Satz 4 FreizügG/EU).
Bei Anwendung des § 6 Abs. 1 FreizügG/EU ist unter anderem zu beachten:
Die Tatsache einer strafrechtlichen Verurteilung genügt für sich allein nicht, um die in § 6 Abs. 1 FreizügG/EU genannten Entscheidungen oder Maßnahmen zu begründen (§ 6 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU). Es muss eine tatsächliche und hinreichende schwere Gefährdung vorliegen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (§ 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU).
Bei der Entscheidung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Betroffenen in Deutschland, sein Alter, sein Gesundheitszustand, seine familiäre und wirtschaftliche Lage, seine soziale und kulturelle Integration in Deutschland und das Ausmaß seiner Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen (§ 6 Abs. 3 FreizügG/EU).
Eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf nach Erwerb des Daueraufenthaltsrechts nur aus schwerwiegenden Gründen getroffen werden (§ 6 Abs. 4 FreizügG/EU).
Eine Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU darf bei Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen. die ihren Aufenthalt in den letzten zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, und bei Minderjährigen nur aus zwingenden Gründen der öffentlichen Sicherheit getroffen werden (§ 6 Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU).
Ganz wichtig:
Eine Entscheidung oder Maßnahme, die den Verlust des Aufenthaltsrechts oder des Daueraufenthaltsrechts betrifft, darf nicht zu wirtschaftlichen Zwecken getroffen werden (§ 6 Abs. 6 FreizügG/EU).
Die Beendigung des Aufenthalts kann nicht damit begründet werden, dass der Pass, der Personalausweis oder der sonstige Passersatz des EU-Bürgers oder durch das FreizügG/EU Begünstigten ungültig wird (§ 6 Abs. 7 FreizügG/EU). Vor der Feststellung nach § 6 Abs. 1 FreizügG/EU soll der Betroffene angehört werden (§ 6 Abs. 8 Satz 1 FreizügG/EU).
§ 7 FreizügG/EU regelt die Ausreisepflicht in den Fällen, in denen die Ausländerbehörde festgestellt hat, dass kein Recht auf Einreise oder Aufenthalt besteht. § 9 FreizügG/EU enthält Straf-, § 10 FreizügG/EU Bußgeldvorschriften. § 11 FreizügG/EU verweist auf einige Bestimmungen des allgemeinen Aufenthaltsrechts im AufenthG.
Die Arbeitsgenehmigung-EU für Staatsangehörige - möglicher - neuer EU-Mitgliedsstaaten wird in § 284 SGB III angesprochen.
5. Gleichstellung von Bürgern der EWR-Staaten
Das FreizügG/EU gilt nach Maßgabe des § 12 FreizügG/EU "auch für Staatsangehörige der EWR-Staaten, die nicht Unionsbürger sind, für ihre Familienangehörigen und ihre nahestehenden Personen".
EWR-Staaten sind die Länder (ehemalige EFTA-Staaten, EFTA = Europäische Freihandelsassoziation), die der EU noch nicht beigetreten sind, mit ihr aber am 02.05.1992 das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum geschlossen haben. Dazu gehören zurzeit
Island,
Liechtenstein und
Norwegen.
Die Schweiz war zunächst ebenfalls beteiligt. Sie hat das EWR-Abkommen allerdings nicht ratifiziert. Es gibt aber verschiedene Abkommen zwischen der EU und der Schweiz, die u.a. auch die Freizügigkeit regeln (z.B. das Freizügigkeitsabkommen EU-Schweiz). Die Schweiz ist kein EWR-Staat. Im Ergebnis werden Schweizer aber wie EU-Bürger behandelt. So heißt es im "Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedsstaaten andererseits über die Freizügigkeit" (FreizAbkEU/CH) denn auch:
Art. 1 FreizAbkEU/CH: "Ziel dieses Abkommens zu Gunsten der Staatsangehörigen der Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft und der Schweiz ist Folgendes:
Einräumung eines Rechts auf Einreise, Aufenthalt, Zugang zu einer unselbstständigen Erwerbstätigkeit und Niederlassung als Selbstständiger sowie des Rechts auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien (lit.a));
Erleichterungen der Erbringung von Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien, insbesondere der Liberalisierung kurzzeitiger Dienstleistungen (lit. b));
Einräumung eines Rechts auf Einreise und Aufenthalt im Hoheitsgebiet der Vertragsparteien für Personen, die im Aufnahmestaat keine Erwerbstätigkeit ausüben (lit. c));
Einräumung der gleichen Lebens-, Beschäftigungs- und Arbeitsbedingungen wie für Inländer (lit. d))."
Art. 4 FreizAbkEU/CH: "Das Recht auf Aufenthalt und Zugang zu einer Erwerbstätigkeit wird vorbehaltlich des Artikels 10 nach Maßgabe des Anhangs I eingeräumt."
Art. 5 Abs. 1 FreizAbkEU/CH: "Unbeschadet besonderer Abkommen über die Erbringung von Dienstleistungen zwischen den Vertragsparteien (einschließlich des Abkommens über das öffentliche Beschaffungswesen, sofern es die Erbringung von Dienstleistungen umfasst) wird einem Dienstleistungserbringer einschließlich Gesellschaften gemäß Anhang I das Recht eingeräumt, Dienstleistungen im Hoheitsgebiet der anderen Vertragspartei zu erbringen, deren tatsächliche Dauer 90 Arbeitstage pro Kalenderjahr nicht überschreitet."
Die früheren EWR-Staaten Finnland, Österreich und Schweden sind der EU mit Wirkung zum 01.01.1995 beigetreten.
Ein neuer § 16 FreizügG/EU regelt nach dem Brexit nun die Rechtsstellung britischer Staatsangehöriger und ihrer Familienangehörigen. § 421e SGB III enthält "Vorübergehende Sonderregelungen im Zusammenhang mit dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union".
6. Rechtsprechungs-ABC
An dieser Stelle werden einige der interessantesten Entscheidungen zum Thema Ausländische Arbeitnehmer - EU-Bürger in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt:
6.1 A1-Bescheinigung
"Art. 14 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass ein in einem Mitgliedstaat ansässiges Leiharbeitsunternehmen, um als in diesem Mitgliedstaat 'gewöhnlich tätig' im Sinne von Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 geänderten Fassung angesehen werden zu können, einen nennenswerten Teil seiner Tätigkeit der Überlassung von Leiharbeitnehmern für Unternehmen, die in diesem Mitgliedstaat niedergelassen und tätig sind, ausüben muss" (EuGH, 03.06.2021 – C-784/19 – Leitsatz – Bulgarien).
6.2 Anwendbares Recht - 1
"Art. 8 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 593/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 17. Juni 2008 über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (Rom I) ist dahin auszulegen, dass, wenn das für den Individualarbeitsvertrag geltende Recht von den Vertragsparteien gewählt wurde und es sich von dem nach Art. 8 Abs. 2, 3 oder 4 anzuwendenden Recht unterscheidet, letzteres Recht unanwendbar ist, mit Ausnahme der 'Bestimmungen …, von denen [nach letzterem Recht] nicht durch Vereinbarung abgewichen werden darf', im Sinne von Art. 8 Abs. 1 dieser Verordnung, zu denen Mindestlohnvorschriften grundsätzlich gehören können" (EuGH, 15.07.2021 - C-152/20 u. C-218/20 - 1. Leitsatz - Rumänien).
6.3 Anwendbares Recht - 2
"Art. 8 der Verordnung Nr. 593/2008 ist dahin auszulegen, dass" a) "die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum einen auch dann als frei in der Wahl des diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsbestimmungen aufgrund einer nationalen Vorschrift durch das nationale Arbeitsrecht ergänzt werden, sofern die fragliche nationale Vorschrift die Parteien nicht dazu verpflichtet, das nationale Recht als das auf den Vertrag anzuwendende Recht zu wählen, und" b) "die Parteien eines Individualarbeitsvertrags zum anderen grundsätzlich auch dann als frei in der Wahl des auf diesen Vertrag anzuwendenden Rechts anzusehen sind, wenn die Vertragsklausel über diese Wahl vom Arbeitgeber abgefasst wird und sich der Arbeitnehmer darauf beschränkt, sie zu akzeptieren" (EuGH, 15.07.2021 - C-152/20 u. C-218/20 - 2. Leitsatz - Rumänien).
6.4 Auslandsentsendung - 1
"1. Bei einer vertraglich auf zwei Jahre befristeten Entsendung in das europäische Ausland, bei der nach dem Ende des Entsendungszeitraumes die Tätigkeit bei der Arbeitgeberin in Deutschland wieder aufgenommen werden soll, handelt es sich um eine vorübergehende Verrichtung von Arbeit in einem anderen Staat im Sinne des Art. 8 Abs. 2 S. 2 ROM I-VO. 2. Sind beide Seiten tarifgebunden, so gilt im Falle einer vorübergehenden Auslandsentsendung im Sinne des Art. 8 Abs. 2 S. 2 ROM I-VO der Entgelttarifvertrag für die Metall- und Elektroindustrie in Hamburg und Umgebung (TV Entgelt) auch für die Dauer des Entsendungszeitraumesunmittelbar und zwingend. Dem steht der Umstand nicht entgegen, dass der räumliche Geltungsbereich des TV Entgelt auf im Einzelnen genannte Regionen in Norddeutschland beschränkt ist" (LAG Hamburg, 11.01.2022 - 6 Sa 6/21 - Leitsätze 1 u. 2).
6.5 Auslandsentsendung - 2
"3. In Fällen zwingender Tarifbindung bei vorübergehender Auslandsentsendung hat der entsandte Arbeitnehmer auch während der Dauer der Entsendung Anspruch auf die tarifliche Bruttovergütung. Vereinbaren die Parteien im Entsendungsvertrag die Anwendung eines hypothetischen Steuerabzugsverfahrens, bei dem der Arbeitgeber im Entsendungszeitraum weiterhin einen Betrag in Höhe der bei einer Weiterarbeit in Deutschland anfallenden Lohnsteuer (= hypothetische Steuer) vom Gehalt in Abzug bringt und für den Arbeitnehmer die tatsächlich im Entsendungsland anfallende (höhere oder niedrigere) Steuer zahlt, stellt dies eine Abweichung vom TV Entgelt dar. Das nach dem TV Entgelt geschuldete Bruttogehalt sieht nur den Abzug tatsächlich angefallener Steuern und Sozialabgaben vor. Die vertragliche Vereinbarung des hypothetischen Steuerabzugsverfahren ist jedenfalls dann gem. § 4 Abs. 3 TVG unzulässig und daher unwirksam, wenn sie nicht günstiger als die Regelung des Bruttogehalts nach dem TV Entgelt ist" (LAG Hamburg, 11.01.2022 - 6 Sa 6/21 - Leitsatz 3).
6.6 Auslandsentsendung - 3
Das Gesetz sagt in § 4 Abs. 3 TVG nicht, wie die dort angesprochene "Anderung der Regelungen zugunsten des Arbeitnehmers" aussehen muss. Eine punktuelle Betrachtung scheidet jedenfalls als Vergleichsmaßstab aus: "4. In den Günstigkeitsvergleich ist der Umstand, dass der Arbeitgeber die im Entsendungsland anfallende Steuer für den Arbeitnehmer übernimmt, einzubeziehen. Weitere dem Arbeitnehmer zustehende entsendungsbedingte Sonderzahlungen (wie z. B. Mietzuschuss, Kaufkraftausgleichszahlungen, Umzugs- und Einrichtungspauschalen u.a.), die dem Ausgleich von finanziellem Mehraufwand aufgrund der Auslandsentsendung dienen, sind im Wege des Sachgruppenvergleichs nicht einzubeziehen. Dies gilt auch für eine sog. Mobilitätszulage, die nicht der Vergütung der Arbeitsleistung als solcher dient, sondern ebenfalls an die Erbringung der Arbeitsleistung gerade im Ausland anknüpft und insoweit die Erschwernisse ausgleichen soll" (LAG Hamburg, 11.01.2022 - 6 Sa 6/21 - Leitsatz 4).
6.7 Ausschluss des Sonderausgabenabzugs
"Art. 45 AEUV ist dahin auszulegen, dass er der Regelung eines Mitgliedstaats wie der des Ausgangsverfahrens entgegensteht, wonach ein in diesem Mitgliedstaat wohnender und für die öffentliche Verwaltung eines anderen Mitgliedstaats tätiger Steuerpflichtiger Beiträge zur Altersvorsorge- und Krankenversicherung, die im Beschäftigungsmitgliedstaat von seinem Arbeitslohn einbehalten werden, - anders als vergleichbare Beiträge zur Sozialversicherung des Wohnsitzmitgliedstaats - nicht von der Bemessungsgrundlage der Einkommensteuer im Wohnsitzmitgliedstaat abziehen kann, wenn der Arbeitslohn nach dem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung zwischen den beiden Mitgliedstaaten im Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers nicht besteuert werden darf und nur den auf weitere Einkünfte anzuwendenden Steuersatz erhöht" (EuGH, 22.06.2017 - C-20/16 - Leitsatz - Deutschland/Frankreich).
6.8 Berücksichtigung von Dienstzeiten
"Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung über die Anerkennung der beruflichen Entwicklung im Gesundheitsdienst eines Mitgliedstaats, die ausschließt, dass die von einem Arbeitnehmer in einem öffentlichen Gesundheitsdienst eines anderen Mitgliedstaats erworbene Berufserfahrung für die Ermittlung des Dienstalters berücksichtigt wird, entgegenstehen, sofern die Beschränkung der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die diese Regelung mit sich bringt, nicht einem im Allgemeininteresse liegenden Ziel dient, die Erreichung dieses Ziels gewährleistet und nicht über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist" (EuGH, 28.04.2022 - C-86/21 - Leitsatz - Spanien).
6.9 Berufsunfähigkeitsrente
"Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19. Dezember 1978 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung, die es den der sozialen Sicherheit angeschlossenen Beschäftigten verwehrt, zwei Renten wegen vollständiger Berufsunfähigkeit desselben Systems der sozialen Sicherheit kumulativ zu beziehen, während eine solche Kumulierung bei Renten verschiedener Systeme der sozialen Sicherheit zulässig ist, entgegensteht, sofern diese Regelung weibliche Beschäftigte in besonderer Weise gegenüber männlichen Beschäftigten benachteiligt, insbesondere indem sie einem signifikant höheren Anteil männlicher Beschäftigter – ermittelt auf der Grundlage aller der fraglichen Regelung unterliegenden männlichen Beschäftigten – als dem entsprechenden Anteil weiblicher Beschäftigter die Inanspruchnahme dieser Kumulierung gestattet, und sofern die Regelung nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben" (EuGH, 30.06.2022 – C-625/20 – Leitsatz – Spanien).
6.10 Beschäftigungsort - 1
"Art. 11 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ... ist dahin auszulegen, dass eine Arbeitnehmerin mit Staatsbürgerschaft eines Mitgliedstaats, in dem sie und ihre Kinder auch ihren Wohnort haben, die mit einem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ein Beschäftigungsverhältnis als Entwicklungshelferin eingeht, das nach den Rechtsvorschriften dieses anderen Mitgliedstaats dessen Pflichtversicherungssystem unterfällt, und die zwar nicht unmittelbar nach Einstellung, jedoch nach Absolvierung einer Vorbereitungszeit im anderen Mitgliedstaat – in dem sie nach Rückkehr eine Wiedereingliederungszeit verbringt – in einen Drittstaat entsendet wird, als Person anzusehen ist, die im anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung im Sinne der genannten Bestimmung ausübt. 2. Art. 288 Abs. 2 AEUV ist dahin auszulegen, dass er dem Erlass einer mitgliedstaatlichen Vorschrift, deren persönlicher Geltungsbereich insofern über den der Verordnung Nr. 883/2004 hinausgeht, als sie eine Gleichstellung der Angehörigen der Vertragsstaaten des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 mit seinen eigenen Staatsangehörigen vorsieht, nicht entgegensteht, sofern diese Vorschrift im Einklang mit dieser Verordnung ausgelegt wird und deren Vorrang nicht in Frage gestellt wird" (EuGH, 25.11.2021 - C-372/20 - Leitsätze 1. u. 2. - Österreich).
6.11 Beschäftigungsort - 2
"3. Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ... sind dahin auszulegen, dass sie den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats und den Träger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats derart miteinander verbinden, dass der Antragsteller auf Familienleistungen nur einen einzigen Antrag bei einem dieser Träger einbringen muss, der dann von diesen beiden Trägern gemeinsam zu erledigen ist. 4. Die Art. 45 und 48 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat nicht untersagen, generell Familienleistungen abzuschaffen, die er bis dahin Entwicklungshelfern gewährte, die ihre Familienangehörigen an ihren Einsatzort im Drittland mitnehmen, sofern diese Abschaffung zum einen unterschiedslos sowohl für Berechtigte mit Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats als auch für solche mit Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaats gilt und zum anderen eine unterschiedliche Behandlung der betroffenen Entwicklungshelfer nicht danach bewirkt, ob sie von ihrem Recht auf Freizügigkeit vor oder nach der Abschaffung Gebrauch gemacht haben, sondern danach, ob sie mit ihren Kindern in einem Mitgliedstaat oder in einem Drittland wohne" (EuGH, 25.11.2021 - C-372/20 - Leitsätze 3. u. 4. - Österreich).
6.12 Einschlägige Berufserfahrung
"1. Die bei der Stufenzuordnung anlässlich einer Einstellung in § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L vorgesehene, anders als in Satz 2 dieser Tarifnorm, auf die Stufe 3 begrenzte Anrechnung einschlägiger Berufserfahrungszeiten verstößt gegen die Arbeitnehmerfreizügigkeit des Art. 45 Abs. 1 AEUV und ist unanwendbar, soweit der Arbeitnehmer diese Erfahrung in einem vorherigen Arbeitsverhältnis mit einem anderen Arbeitgeber in einem anderen Mitgliedstaat und damit im Anwendungsbereich des Unionsrechts erworben hat. Solche Berufserfahrungszeiten sind uneingeschränkt zu berücksichtigen. 2. Hat der Arbeitnehmer die einschlägige Berufserfahrung ausschließlich in einem vorherigen Arbeitsverhältnis zu einem anderen inländischen Arbeitgeber erworben, verbleibt es hingegen bei der Nichtberücksichtigung dieser Zeiten gemäß § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L, soweit sie über drei Jahre hinausgehen. Der differenzierten Behandlung dieser unterschiedlichen Sachverhalte sowohl innerhalb des § 16 Abs. 2 Satz 3 TV-L als auch im Verhältnis zu Satz 2 dieser Tarifnorm stehen weder Unionsrecht noch nationales Verfassungsrecht entgegen" (BAG, 29.04.2021 – 6 AZR 232/17 – Leitsätze).
6.13 Entsendung
"Art. 14 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 ... zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 ... zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit in der durch die Verordnung (EU) Nr. 465/2012 ... geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass ein im Hinblick auf seine Entsendung in einen anderen Mitgliedstaat eingestellter Arbeitnehmer im Sinne von Art. 14 Abs. 1 der Verordnung Nr. 987/2009 "unmittelbar vor Beginn [seiner] Beschäftigung bereits den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaats [unterlag], in dem das Unternehmen, bei dem [er] eingestellt wird, seinen Sitz hat", auch wenn er unmittelbar vor Beginn seiner Beschäftigung kein Versicherter im Sinne der Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats war, sofern er zu diesem Zeitpunkt seinen Wohnort in dem betreffenden Mitgliedstaat hatte; dies zu prüfen ist Sache des vorlegenden Gerichts" (EuGH, 25.10.2018 - C-451/17 - Leitsatz - Bulgarien).
6.14 Europäische Sozialversicherungstarife
EU-Arbeitnehmer unterliegen grundsätzlich den sozialversicherungsrechtlichen Bestimmungen nur eines EU-Mitgliedstaates - und das ist in der Regel der, in dem sie beschäftigt sind. Die VO 1408/71/EWG und 883/2004/EG sehen jedoch die Möglichkeit vor, dass zwei oder mehr Mitgliedstaaten oder zuständige Behörden dieser Mitgliedstaaten im Interesse bestimmter Personen oder Personengruppen Ausnahmen vorsehen können. Aber: "Unternehmen aus der Europäischen Union haben grundsätzlich keinen Anspruch auf den Abschluss von Ausnahmevereinbarungen, durch welche die sozialrechtlichen Bestimmungen am Sitz des Unternehmens auch dann für dessen Beschäftigte gelten, die über Jahre hinweg in Deutschland tätig sind. Die Ablehnung einer Vereinbarung ist allerdings gerichtlich überprüfbar" (BSG, 16.08.2017 - B 12 KR 19/16 R - Pressemitteilung).
6.15 Fahrer im Güterkraftverkehr - 1
"Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im internationalen Straßenverkehrssektor im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem Unternehmen tätig ist, das in einem anderen Mitgliedstaat als jenem ansässig ist, in dem der Betroffene normalerweise arbeitet, ein in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats entsandter Arbeitnehmer im Sinne dieser Bestimmungen ist, wenn seine Arbeitsleistung während des betreffenden begrenzten Zeitraums eine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist. Das Vorliegen einer solchen Verbindung wird im Rahmen einer Gesamtwürdigung von Gesichtspunkten wie der Art der von dem betreffenden Arbeitnehmer in diesem Hoheitsgebiet verrichteten Tätigkeiten, der Enge der Verbindung der Tätigkeiten dieses Arbeitnehmers zu dem Hoheitsgebiet jedes Mitgliedstaats, in dem er tätig ist, und des Anteils bestimmt, den diese Tätigkeiten dort an der gesamten Beförderungsleistung ausmachen" (EuGH, 01.12.2020 – C-815/18 – 2. Leitsatz. 1. Abs. – Niederlande).
6.16 Fahrer im Güterkraftverkehr - 2
Zunächst gilt: "Die Richtlinie 96/71/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 1996 über die Entsendung von Arbeitnehmern im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen ist dahin auszulegen, dass sie auf die länderübergreifende Erbringung von Dienstleistungen im Straßenverkehrssektor anwendbar ist". Und das bedeutet: Dass ein im grenzüberschreitenden Verkehr tätiger Kraftfahrer von "einem in einem Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen einem Unternehmen mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat überlassen wurde, am Sitz dieses zweiten Unternehmens die mit seinen Aufgaben zusammenhängenden Anweisungen erhält, die Ausführung dieser Aufgaben am Sitz dieses zweiten Unternehmens beginnt oder dort beendet, reicht für sich genommen nicht für die Annahme aus, dass dieser Fahrer im Sinne der Richtlinie 96/71 in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats entsandt worden ist, wenn die Arbeitsleistung dieses Fahrers aufgrund anderer Faktoren keine hinreichende Verbindung zu diesem Hoheitsgebiet aufweist" (EuGH, 01.12.2020 – C-815/18 – 1. Leitsatz und 2. Leitsatz, 2. Abs. – Niederlande).
6.17 Fahrer im Güterkraftverkehr - 3
"3. Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass das Bestehen eines Konzernverbunds zwischen den Unternehmen, die Parteien des Vertrags über die Überlassung von Arbeitnehmern sind, als solches für die Beurteilung, ob eine Entsendung von Arbeitnehmern vorliegt, nicht relevant ist. 4. Art. 1 Abs. 1 und 3 sowie Art. 2 Abs. 1 der Richtlinie 96/71 sind dahin auszulegen, dass ein Arbeitnehmer, der als Fahrer im Straßenverkehrssektor tätig ist und im Rahmen eines Chartervertrags zwischen dem ihn beschäftigenden Unternehmen mit Sitz in einem Mitgliedstaat und einem in einem anderen Mitgliedstaat ansässigen Unternehmen Kabotagebeförderungen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats als desjenigen, in dessen Hoheitsgebiet er normalerweise arbeitet, durchführt, grundsätzlich als in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats, in dem diese Beförderungen erfolgen, entsandt anzusehen ist. Die Dauer der Kabotagebeförderungen ist unbeschadet der etwaigen Anwendung von Art. 3 Abs. 3 dieser Richtlinie für die Beurteilung des Vorliegens einer solchen Entsendung unerheblich“ (EuGH, 01.12.2020 – C-815/18 – 3. u. 4. Leitsatz – Niederlande).
6.18 Gerichtszuständigkeit - 1
Der stark vereinfachte Fall: Geschäftsführer G wurde von einem italienischen Unternehmen eingestellt. Danach wurde er an ein 100-prozentiges Tochterunternehmen des Vertragsarbeitgebers in Polen versetzt, mit dem er parallel dazu einen Arbeitsvertrag nach polnischem Recht schloss. Der italienische Arbeitgeber kündigte N. aus wichtigem Grund. N erhob vor dem Tribunale di Torino (= Landgericht) gegen die Kündigung Klage. Im Wege der Widerklage verlangte der italienische Arbeitgeber von N Zahlung zu Unrecht erhaltener Vergütungsbestandteile, die er sich von dem polnischen Tochterunternehmen hatte abtreten lassen.
Stellt sich die Frage: Ist das Turiner Landgericht für Klage und Widerklage zuständig? "Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dem Arbeitgeber das Recht einräumt, vor dem Gericht, bei dem die von einem Arbeitnehmer erhobene Klage selbst ordnungsgemäß anhängig ist, eine Widerklage zu erheben, die sich auf eine Forderungsabtretung stützt, die der Arbeitgeber und der ursprüngliche Forderungsinhaber vertraglich vereinbart haben, nachdem die Klage selbst erhoben worden war" (EuGH, 21.06.2018 - C-1/17 - Leitsatz - Italien - mit Bejahung der Zuständigkeit des LG Turin).
6.19 Gerichtszuständigkeit - 2
"Art. 14 Nr. 2 Buchst. a Ziff. i der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (...) sowie Art. 11 Abs. 5 der Verordnung Nr. 883/2004 in der durch die Verordnung Nr. 465/2012 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit, die auf fliegendes Personal einer in einem Mitgliedstaat ansässigen Fluggesellschaft anwendbar sind, das nicht von E101-Bescheinigungen erfasst ist und täglich 45 Minuten in einem für die Besatzung bestimmten, als 'crew room' bezeichneten Raum arbeitet, über den die Fluggesellschaft im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats verfügt, in dem das fliegende Personal wohnt, das sich für den Rest der Arbeitszeit an Bord von Flugzeugen dieser Fluggesellschaft befindet, die Rechtsvorschriften des letztgenannten Mitgliedstaats sind" (EuGH, 19.05.2022 - C-33/21 - Leitsatz - Italien).
6.20 Gleiches Entgelt für Frauen/Männer
Art. 157 Abs. 1 AEUV sagt: "Jeder Mitgliedsstaat stellt die Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei gleicher oder gleichwertiger Arbeit sicher." Nach ständiger EuGH-Rechtsprechung entfaltet Art. 157 AEUV "unmittelbare Wirkung, indem er für Einzelne Rechte begründet, die die nationalen Gerichte zu gewährleisten haben" (s. dazu EuGH, 07.10.2019 – C-171/18). "Art. 157 AEUV ist dahin auszulegen, dass er in Rechtsstreitigkeiten zwischen Privaten, in denen ein Verstoß gegen den Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen bei 'gleichwertiger Arbeit' im Sinne der Vorschrift geltend gemacht wird, unmittelbare Wirkung entfaltet" (EuGH, 03.06.2020 – C-624/19 – Leitsatz – Vereinigtes Königreich).
6.21 Grenzgänger - Hinterbliebenenpension
"Art. 45 AEUV und Art. 7 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 5. April 2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union in der durch die Verordnung (EU) 2016/589 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2016 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie einer Regelung eines Aufnahmemitgliedstaats entgegenstehen, nach der dem überlebenden Lebenspartner einer in einem anderen Mitgliedstaat wirksam eingegangenen und eingetragenen Lebenspartnerschaft eine Hinterbliebenenpension, die ihm wegen der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit durch den verstorbenen Lebenspartner im Aufnahmemitgliedstaat zusteht, nur gewährt wird, wenn die Lebenspartnerschaft zuvor in ein von diesem Staat geführtes Register eingetragen wurde" (EuGH, 08.12.2022 - C-731/21 - Leitsatz - Luxemburg).
6.22 Hafenarbeiter
"Die Art. 49 und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, die Personen oder Unternehmen, die Hafenarbeiten – einschließlich Tätigkeiten ohne Zusammenhang mit dem Be- und Entladen von Schiffen im strengen Sinne – in einem Hafengebiet ausführen möchten, dazu verpflichtet, dafür nur Hafenarbeiter einzusetzen, die gemäß den in Anwendung dieser Regelung festgelegten Bedingungen und Modalitäten als solche anerkannt sind, sofern diese Bedingungen und Modalitäten zum einen auf objektiven, diskriminierungsfreien und im Voraus bekannten Kriterien beruhen, die den Hafenarbeitern aus anderen Mitgliedstaaten den Nachweis ermöglichen, dass sie in ihrem Herkunftsstaat Anforderungen erfüllen, die den für inländische Hafenarbeiter geltenden Anforderungen gleichwertig sind, und zum anderen kein begrenztes Kontingent von Arbeitern festlegen, die anerkannt werden können" (EuGH, 11.02.2021 – C-407/19 u. C-471/19 – 1. Leitsatz – Belgien).
6.23 Inländerdiskriminierung
Art. 45 Abs. 2 AEUV und Art. 7 Abs. 1 der EU-Freizügigkeitsverordnung sind nicht verletzt, wenn bei der Stufenzuordnung nach § 16 Abs. 2 TVöD-AT (Bund) a.F. eine bei anderen Arbeitgebern als dem Bund erworbene einschlägige Berufserfahrung bei rein innerstaatlichen Sachverhalten nicht berücksichtigt wird. Art. 7 Abs. 4 EU-Freizügigkeitsverordnung kann die Unwirksamkeit einer nationalen Regelung in Fällen ohne Auslandsbezug nicht anordnen. "Bei der Einstellung von Beschäftigten mit einer im Gebiet der Europäischen Union erworbenen einschlägigen Berufserfahrung ('Wanderarbeitnehmer') und der von sog. Inländern ohne auslandsbezogene Berufserfahrung handelt es sich nicht um vergleichbare Sachverhalte, die nach Art. 3 Abs. 1 GG hinsichtlich der tariflichen Stufenzuordnung gleich behandelt werden müssten" (BAG, 25.01.2018 - 6 AZR 791/16 - Leitsatz).
6.24 Kindergeldanspruch
"Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, nach der einem Unionsbürger, der Staatsangehöriger eines anderen Mitgliedstaats ist, der seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Hoheitsgebiet des erstgenannten Mitgliedstaats begründet hat und der wirtschaftlich nicht aktiv ist, weil er in diesem Staat keine Erwerbstätigkeit ausübt, die Gewährung von 'Familienleistungen' im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j in Verbindung mit Art. 1 Buchst. z der Verordnung Nr. 883/2004 in den ersten drei Monaten seines Aufenthalts im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats verweigert wird, während einem wirtschaftlich nicht aktiven Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats, nachdem dieser gemäß dem Unionsrecht von seinem Recht Gebrauch gemacht hat, sich in einem anderen Mitgliedstaat frei zu bewegen und aufzuhalten, diese Leistungen auch in den ersten drei Monaten nach seiner Rückkehr in diesen Mitgliedstaat gewährt werden" (EuGH, 01.08.2022 - C-411/20 - 1. Leitsatz - Deutschland).
6.25 Nichtselbstständige Tätigkeit
"Unter Umständen wie denjenigen des Ausgangsverfahrens (hier: Aufnahme einer nichtselbstständigen Erwerbstätigkeit durch mit einem Unionsbürger verheirateten Drittstaatsangehörigen) gewährt Art. 11 der Verordnung (EWG) Nr. 1612/68 des Rates vom 15.10.1968 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Gemeinschaft in der durch die Verordnung (EWG) Nr. 2434/92 des Rates vom 27.08.1992 geänderten Fassung einem Angehörigen eines Drittstaats kein Recht, in einem anderen Mitgliedstaat als demjenigen, in dem sein Ehegatte, der als Gemeinschaftsbürger von seinem Freizügigkeitsrecht Gebrauch gemacht hat, eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausübt oder ausgeübt hat, eine nichtselbstständige Erwerbstätigkeit aufzunehmen" (EuGH, 30.03.2006 - C-10/05 - Leitsatz - Luxemburg).
6.26 Pflegekraft 24/7
In gewissen Kreisen ist es chic, für die Betreuung pflegebedürftiger Angehöriger Kräfte aus dem Ausland anzuheuern – vornehmlich aus Osteuropa (hier: Bulgarien). Die sollen dann jeden Tag 24 Stunden für den Betreuten da sein – bekommen diese 24 Stunden aber nicht bezahlt, sondern nur die vereinbarte Arbeitszeit (hier: 30 Stunden). Das ist nach einem Urteil des LAG Berlin-Brandenburg seit September 2022 vorbei. Zu vergüten ist nicht nur die "echte" Arbeitszeit, zu vergüten ist auch die Zeit, die überwiegend aus Arbeitsbereitschaft besteht. Und das mit dem gesetzlichen Mindestlohn. Darlegungs- und beweispflichtig für die tatsächlichen Arbeits- und Bereitschaftszeiten ist der klagende Arbeitnehmer – dem es in dem hier vorgestellten Fall gelungen war, die erbrachten Bereitschaftszeiten bis auf ein paar kleinere Lücken darzutun (LAG Berlin-Brandenburg, 05.09.2022 – 21 Sa 1900/19).
6.27 Pflegekräfte aus dem Ausland
Ein oft genutztes Beschäftigungs- und Geschäftsmodell ist mit der hier vorgestellten Entscheidung überholt: Da haben sich viele deutsche Familien in den letzten Jahren über ausländische Firmen Pflegekräfte ins Haus geholt, um Vater, Mutter oder beide zu umsorgen. Im Extremfall 24/7-Betreuung bei Tag und Nacht, Wohnung und Verpflegung im Haushalt - und das alles "für'n Appel und'n Ei". Jetzt steht amtlich fest: Auch in einen Privathaushalt entsandte ausländische Betreuungskräfte haben Anspruch auf den gesetzlichen Mindestlohn für geleistete Arbeitsstunden - wozu auch Bereitschaftsdienste gehören. Die Verpflichtung zur Zahlung des gesetzlichen Mindestlohns nach § 20 MiLoG i.V.m. § 1 MiLoG trifft nicht bloß deutsche, sondern auch ausländische Arbeitgeber, die Mitarbeiter zum Artbeiten in die Bundesrepublik schicken (BAG, 24.06.2021 - 5 AZR 505/20 - zu einer Sozialassistentin aus Bulgarien).
6.28 Rückzahlung von Ausbildungskosten
Das Recht macht auch vor Staatsgrenzen nicht halt. Da hatte ein kroatischer Arbeitgeber seinem kroatischen Mitarbeiter eine Ausbildung zum Facharzt finanziert, erfolgreich die Rückzahlung der Ausbildungskosten vor einem kroatischen Gericht erstritten und dann versucht, das Urteil gegen den Mitarbeiter, der in Deutschland arbeitete, zu vollstrecken. Der wehrte sich natürlich gegen die Anerkennung des ausländischen Urteils, hatte vor dem kroatischen Gericht aber nicht dessen internationale Zuständigkeit gerügt, und ist nun damit gescheitert: "1. Über eine sofortige Beschwerde gemäß § 1115 Abs. 5 ZPO entscheidet der zuständige Senat des Oberlandesgerichts in seiner geschäftsplanmäßigen Besetzung als Kollegialorgan (§ 122 Abs. 1 GVG), da § 568 ZPO nicht anwendbar ist. 2. Aus Art. 45 Abs. 2 EuGVVO folgt, dass es dem Schuldner versagt ist, im Versagungsverfahren neuen Sachvortrag einzubringen, der sich auf die Eröffnung der durch Art. 45 Abs. 1 lit e geschützten Gerichtsstände der Art. 10 bis 24 EuGVVO bezieht" (OLG Frankfurt, 10.12.2021 - 26 W 21/21 - Leitsätze).
6.29 Sicherheitsbescheinigung
Die Art. 45, 49 und 56 AEUV sind dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung nicht entgegenstehen, nach der logistische Arbeitnehmer über eine 'Sicherheitsbescheinigung' verfügen müssen, die auf Vorlage ihres Personalausweises und ihres Arbeitsvertrags ausgestellt wird, und die Modalitäten für die Ausstellung und das Verfahren für die Einholung einer solchen Bescheinigung in einem Tarifvertrag geregelt sind, vorausgesetzt, dass die Bedingungen für ihre Ausstellung in Bezug auf das Ziel, die Sicherheit in Hafengebieten zu gewährleisten, erforderlich und verhältnismäßig sind und das Verfahren für ihre Einholung keinen unzumutbaren und unverhältnismäßigen Verwaltungsaufwand erfordert" (EuGH, 11.02.2021 – C-407/19 u. C-471/19 – 6. Leitsatz – Belgien).
6.30 Umgekehrte Diskriminierung
Das Unionsrecht sieht kein Verbot einer "umgekehrten Diskriminierung" (= Inländerdiskriminierung) vor. Unionsrechtliche Bestimmungen über die Freizügigkeit von Arbeitnehmern können nicht auf einen national beschränkten - internen - Sachverhalt angewandt werden. "Die unterschiedliche Behandlung von Beschäftigten, deren Erwerbsbiografie keine Bezüge zum EU-Ausland aufweist ('Inländer') und Beschäftigten, bei denen dies der Fall ist ('Wanderarbeitnehmer'), fällt ... nicht in den Anwendungsbereich des Unionsrechts" (s. dazu EuGH, 16.06. 1994 - C-132/93; EuGH, 25.07.2008 - C-127/08 u. BVerfG, 15.12.2016 - 2 BvR 221/11). Die Einführung der Unionsbürgerschaft (Art. 9 Satz 2 EUV, Art. 20 AEUV) hat daran nichts geändert. Sie bezweckt nicht, "den sachlichen Anwendungsbereich der Verträge über die Europäische Union und deren Arbeitsweise auf interne Sachverhalte auszudehnen, die keinerlei Bezug zum Unionsrecht aufweisen" (BAG, 25.01.2018 - 6 AZR 791/16 - mit Hinweis auf EuGH, 01.04.2008 - C-212/06).
6.31 Zuständigkeit Inland/Ausland
"1. Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 ('Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge') der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind dahin auszulegen, dass sie auf eine Klage eines Arbeitnehmers mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gegen einen Arbeitgeber mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat anzuwenden sind, wenn der Arbeitsvertrag im Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgehandelt und geschlossen wurde und vorsah, dass sich der Ort für die Erbringung der Arbeitsleistung im Mitgliedstaat des Arbeitgebers befindet, auch wenn diese Arbeit aus einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Grund nicht verrichtet worden ist" (EuGH, 25.02.2021 - C-804/19 - 1. Leitsatz - Österreich).
6.32 Zuständigkeit Inland/Ausland
"2. Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften auf eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unabhängig davon, ob sich diese Regeln als für den Arbeitnehmer vorteilhafter erweisen, entgegenstehen. 3. Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unbeschadet von Art. 7 Nr. 5 dieser Verordnung bei dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber zu erfüllen hatte" (EuGH, 25.02.2021 - C-804/19 - 2. und 3. Leitsatz - Österreich).
Siehe auch
Arbeitnehmer - EntsendegesetzAusländische Arbeitnehmer - AbschiebungAusländische Arbeitnehmer - AllgemeinesAusländische Arbeitnehmer - ArbeitsbedingungenAusländische Arbeitnehmer - AufenthaltserlaubnisAusländische Arbeitnehmer - BeschäftigungAusländische Arbeitnehmer - BeschäftigungsverbotAusländische Arbeitnehmer - MitbestimmungAusländische Arbeitnehmer - Niederlassung