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Welche Fragen Arbeitgeber auch zum Thema Sozialversicherungsrecht bewegen: Die Rechtsdatenbank der AOK liefert die Antworten – einfach, fundiert und topaktuell.

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Gerichte - Arbeitsgericht
Gerichte - Arbeitsgericht
Inhaltsübersicht
- 1.
- 2.
- 3.
- 4.
- 5.Rechtsprechungs-ABC
- 5.1
- 5.2
- 5.3
- 5.4
- 5.5
- 5.6
- 5.7
- 5.8
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- 5.42
- 5.43
- 5.44
- 5.45
- 5.46
- 5.47
- 5.48
- 5.49
- 5.50
- 5.51
- 5.52
- 5.53
- 5.54
- 5.55
- 5.56
- 5.57
Information
1. Allgemeines
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist ein Teil der Zivilgerichtsbarkeit, stellt aber einen eigenen Zweig der Rechtsprechung dar. Grundlage ist das Arbeitsgerichtsgesetz(ArbGG).
Die Arbeitsgerichtsbarkeit ist dreizügig gegliedert in
die (örtlichen) Arbeitsgerichte,
die Landesarbeitsgerichte,
das Bundesarbeitsgericht.
Die Arbeitsgerichte sind sachlich zuständig für:
(Im Urteilsverfahren)
Bürgerliche Rechtsstreitigkeiten
zwischen Tarifvertragsparteien oder über das Bestehen von Tarifverträgen
zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern
über Ansprüche von Arbeitnehmern aus dem Arbeitsverhältnis
über das Bestehen oder Nichtbestehen eines Arbeitsverhältnisses
u.a. (§ 2 ArbGG).
(Im Beschlussverfahren)
Angelegenheiten aus dem Betriebsverfassungsgesetz
dem Sprecherausschussgesetz
dem Mitbestimmungsgesetz
u.a. (§ 2a ArbGG).
Um die Frage der sachlichen Zuständigkeit ging es bei der Feststellung des zulässigen Rechtsweges für Klagen ehemaliger "Ostarbeiter" auf Entschädigung für Zwangsarbeit. Die Klägerinnen und Kläger hatten die Zuständigkeit der Gerichte für Arbeitssachen für gegeben erachtet. Sie waren in der Zeit zwischen 1941 und 1945 zur Zwangsarbeit nach Deutschland gebracht worden, hatten an sechs Tagen in der Woche zwölf Stunden zu arbeiten, ohne dass sie Arbeitsentgelt erhielten. Die Unterbringung erfolgte überwiegend in bewachten Lagern. Einzelne Unternehmen bestimmten über ihren Einsatz und gaben die Weisungen. Aus diesen Gründen sei ein Arbeitsverhältnis oder ein ähnliches Rechtsverhältnis zustande gekommen.
Dieser Auffassung hat das BAG nicht zugestimmt. Zuständig seien nicht die Arbeitsgerichte, sondern die Zivilgerichte. Zwar handele es sich um bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten, da die Rechtsverhältnisse der Zwangsarbeiter durch zivilrechtliche Rechtsnormen und nicht durch das öffentliche Recht bestimmt waren. Die Zwangsarbeiter waren jedoch nicht Arbeitnehmer der beklagten Unternehmen, da keine Arbeitsverhältnisse zustande gekommen sind. Voraussetzung des Arbeitnehmerstatus, auch zum Zwecke der Rechtswegbestimmung, ist das Erfordernis einer einvernehmlichen Begründung der Arbeitspflicht, es sei denn, das Arbeitsverhältnis ist durch Gesetz oder aufgrund eines Gesetzes begründet worden.
Das ist hier nicht der Fall (BAG, 16.02.2000 - 5 AZB 32/99 sowie 5 AZB 58/99; 5 AZB 59/99; 5 AZB 71/99;5 AZB 72/99).
Andererseits reicht nach Auffassung des BAG (BAG, 24.04.1996 - 5 AZB 25/95) in den Fällen, in denen der Kläger nur deshalb Erfolg mit seiner Klage haben kann, weil er Arbeitnehmer ist, die bloße Rechtsbehauptung des Klägers aus, er sei Arbeitnehmer, um die arbeitsgerichtliche Zuständigkeit zu begründen.
Diese Konstellation ist daher in der Regel typischerweise bei Kündigungsschutzklagen gegeben, d.h. bei der Frage nach dem Bestehen eines Arbeitsverhältnisses.
Örtlich zuständig ist jeweils dasjenige Arbeitsgericht,
in dessen Amtsbereich der/die Beklagte seinen Wohnsitz oder Sitz hat oder
bei Streitigkeiten um das Bestehen oder die Erfüllung eines Arbeitsvertrags dasjenige, in dessen Amtsbereich der Vertrag zu erfüllen ist.
In den allermeisten Fällen ist also der Firmensitz des beteiligten Arbeitgebers ausschlaggebend.
In der ersten Instanz kann jeder Geschäftsfähige vor den Arbeitsgerichten verhandeln, in den nachfolgenden nur mit einer Prozessvertretung.
Die Verhandlungen vor den Arbeitsgericht sind öffentlich. Das blieben sie auch während der Corona-Pandmie: "Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden" (BAG, 02.03.2022 - 2 AZN 629/21 - Leitsatz).
Verfahrensarten sind:
2. Das Klageverfahren
Es kann Klage erhoben werden bei Streitigkeiten, in denen ein Urteilsverfahren (s.o.), in Frage kommt. Die Klage kann schriftlich eingereicht oder beim Arbeitsgericht zu Protokoll gegeben werden. Zunächst wird eine Güteverhandlung festgesetzt, die der Vorsitzende des Arbeitsgerichts leitet. Der Vorsitzende wird die Rechtslage mit den Parteien erörtern und, soweit möglich, auf die gütliche Einigung der Parteien hinwirken. Eine Alleinentscheidung des Vorsitzenden ist in diesem Stadium des Verfahrens möglich bei Säumnis einer oder beider Parteien, bei Rücknahme der Klage oder Anerkenntnis des Anspruchs oder, falls beide Parteien übereinstimmend eine Entscheidung durch den Vorsitzenden beantragen.
Kommt es hier zu keiner Einigung der Parteien, wird der Kammertermin für die streitige Verhandlung festgesetzt. Richter in der streitigen Verhandlung sind der Vorsitzende sowie zwei ehrenamtliche Richter (jeweils einer der Arbeitnehmer-/Arbeitgeberseite). Das Verfahren endet mit einem Urteil nach mündlicher Verhandlung. Gegen das Urteil kann Berufung beim Landesarbeitsgericht, gegen ein Urteil des LAG Revision beim Bundesarbeitsgericht eingelegt werden.
Bei Rechtssachen, die grundsätzliche Bedeutung haben, ist auch die Sprungrevision vom Arbeitsgericht zum Bundesarbeitsgericht möglich (Zustimmung beider Parteien, Zulassung durch das Arbeitsgericht). Urteile eines Arbeitsgerichts sind vollstreckbare Rechtstitel (Zwangsvollstreckung).
Die Klage muss einen bestimmten Antrag enthalten. In diesem Antrag muss der Kläger darlegen, was er vom Beklagten verlangt. Der Antrag einer Zahlungsklage wegen Gehaltsrückständen sieht beispielsweise so aus: "Es wird beantragt, den Beklagten zu verurteilen, an den Kläger 6.250 EUR brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz nach § 247 BGB seit dem 01.12.2007 zu zahlen."
Um die spätere Zwangsvollstreckung aus dem Urteil sicherzustellen, muss der Klageantrag auch "vollstreckungsfähig" sein. Daran fehlt es, wenn nur beantragt wird, "das Arbeitsverhältnis ordnungsgemäß abzurechnen." Diesem Antrag fehlt die hinreichende Bestimmtheit i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO (BAG, 25.04.2001 - 5 AZR 395/99). Das Gericht des zulässigen Rechtswegs entscheidet den Rechtsstreit nach § 17 Abs. 2 GVG unter allen in Betracht kommenden rechtlichen Gesichtspunkten. Damit wird aber keine Zuständigkeit der Arbeitsgerichte für Fälle begründet, in denen es um die Aufrechnung mit einer Gegenforderung geht, die in die ausschließliche Zuständigkeit einer anderen Gerichtsbarkeit gehört (BAG, 23.08.2001 - 5 AZB 3/01).
3. Das Beschlussverfahren
Der Antrag kann zu Rechtssachen, zu denen ein Beschlussverfahren in Frage kommt (s.o.), beim zuständigen Arbeitsgericht schriftlich oder zur Niederschrift eingebracht werden. Mit Einverständnis der Beteiligten kann das Gericht auch ohne mündliche Verhandlung entscheiden; eine schriftliche Anhörung der Beteiligten ist möglich. Das Verfahren endet mit einem Beschluss (§ 84 ArbGG). Gegen den Beschluss kann Beschwerde bei der nächst höheren Instanz analog zur Berufung bzw. Revision eingelegt werden.
4. Das Mahnverfahren
Der Antrag dazu kann zweckmäßigerweise auf Vordrucken des Arbeitsgerichts erstellt werden. Siehe Mahnverfahren.
5. Rechtsprechungs-ABC
Hier werden wichtige Entscheidungen zum Thema Arbeitsgerichte seit dem 01.01.2016 in alphabetischer Reihenfolge nach Stichwörtern geordnet vorgestellt. Ältere Urteile und Beschlüsse sind im Stichwort Gerichte - Arbeitsgericht: Rechtsprechungs-ABC - bis 2015 abgelegt.
5.1 Alternative Klagehäufung
"1. Eine alternative Klagehäufung, bei der der Kläger ein einheitliches Klagebegehren aus mehreren prozessualen Ansprüchen (Streitgegenständen) herleitet und dem Gericht die Auswahl überlässt, auf welchen Klagegrund es die Verurteilung stützt, ist grundsätzlich unzulässig. 2. Der Kläger muss zur Vermeidung einer Klageabweisung als unzulässig eine Rangfolge bilden, in der er mehrere prozessuale Ansprüche zur Prüfung durch das Gericht stellen will. Das kann er auch konkludent und noch im Verlauf des Verfahrens einschließlich der Revisionsinstanz tun. Fehlt eine Rangfolgebestimmung, hat das Gericht auf die mangelnde Bestimmtheit hinzuweisen und auf eine zulässige Antragstellung hinzuwirken" (BAG, 02.08.2018 - 6 AZR 437/17 - Leitsätze - mit Hinweis auf § 139 ZPO).
5.2 Arbeits- vs. Dienstvertrag
"1. Der Annahme eines Arbeitsverhältnisses steht es nicht entgegen, wenn der Vertrag der Parteien nicht als Arbeitsverhältnis bezeichnet ist. In diesem Fall kommt es auf die tatsächliche Vertragsdurchführung und nicht auf die Bezeichnung im Vertrag an. Durch Parteivereinbarung kann die Bewertung einer Rechtsbeziehung als Arbeitsverhältnis nicht abbedungen und der Geltungsbereich des Arbeitnehmerschutzrechts nicht eingeschränkt werden. 2. Anders ist dies jedoch im umgekehrten Fall, in dem die Vertragsparteien einen als Arbeitsvertrag bezeichneten Vertrag abschließen und für ein Arbeitsverhältnis typische Rechte und Pflichten im Vertrag regeln. Haben die Parteien ein Arbeitsverhältnis vereinbart, so ist es auch regelmäßig als solches einzuordnen. Die tatsächliche Durchführung des Vertragsverhältnisses ist nur maßgebend, wenn die Parteien ein Vertragsverhältnis nicht als Arbeitsverhältnis bezeichnet haben, tatsächlich jedoch ein solche gelebt wurde. Wollen die Parteien eines Arbeitsverhältnisses ihre Rechtsbeziehungen künftig als freies Dienstverhältnis fortsetzen, müssen sie das hinreichend klar unter Beachtung von § 623 BGB vereinbaren" (LAG Hessen, 01.02.2022 - 19 Ta 507/21 - mit dem Hinweis, dass sich an diesem Ergebnis auch durch die Kodifizierung des Arbeitsvertrags in § 611a BGB nichts geändert hat).
5.3 Auskunftsklage
Wer eine Klage erhebt, muss nach § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO einen "bestimmten" Antrag stellen. Das Gesetz sagt nicht, was ein bestimmter Antrag ist. Die EU-DSGVO gibt betroffenen Personen in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 das Recht, von dem Verantwortlichen eine Bestätigung darüber zu verlangen, "ob sie betreffende personenbezogene Daten verarbeitet werden". Ist das der Fall, hat die betroffene Person darüber hinaus "ein Recht auf Auskunft über diese personenbezogenen Daten und" auf die in lit. a) bis lit. h) vorgegebenen Informationen. Das bedeutet für § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO: "Ein Klageantrag, der ergänzend zum Wortlaut von Art. 15 Abs. 1 Halbs. 2 DSGVOauslegungsbedürftige Begriffe enthält, über deren Inhalt nicht behebbare Zweifel bestehen, ist nicht hinreichend bestimmt" (BAG, 16.12.2021 - 2 AZR 235/21 - Leitsatz).
5.4 Auslegung von Vertragsklauseln
Enthält der zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbarte Arbeitsvertrag so genannte "nichttypische Erklärungen", ist die Auslegung dieser Vertragsklauseln Sache der Tatsachengerichte (Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht, Anm. d. Verf.). Das Bundesarbeitsgericht kann die Erklärungen als Revisionsgericht nur darauf überprüfen, ob das Berufungsgericht die gesetzlichen Auslegungsregeln - §§ 133, 157 BGB - beachtet, gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen oder wesentliche Tatsachen unberücksichtigt gelassen hat (s. dazu auch BAG, 19.12.2018 - 7 AZR 70/17). Enthält ein zeitlich nachfolgender Arbeitsvertrag beispielsweise die Erklärung "Dieser Vertrag ersetzt ab 01.03.2015 den Vertrag vom 27.01.2014", ist das eine deutliche Regelung, die zur Beendigung des 2014er Vertrags führt und nur noch den aktuellen gültig sein lässt (BAG, 19.11.2019 - 7 AZR 311/28).
5.5 Aussetzung bei Vorgreiflichkeit
Ein Gericht kann, wenn seine Entscheidung ganz oder teilweise vom Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, gem. § 148 Abs. 1 ZPO anordnen, "dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits … auszusetzen sei." "Ist in einem Parallelverfahren eine Verfassungsbeschwerde anhängig, kann in entsprechender Anwendung des § 148 Abs. 1 ZPO eine Aussetzung der Verhandlung erfolgen, wenn dies in Abwägung zwischen der Gefahr sich widersprechender Entscheidungen und dem Beschleunigungsgebot des § 9 Abs. 1 ArbGG sowie zur Wahrung der Funktionsfähigkeit des Verfahrens der Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG unter Berücksichtigung der Interessen beider Parteien angemessen erscheint. Die Aussetzung kann zeitlich befristet werden" (BAG, 10.09.2020 - 6 AZR 136/19 (A)).
5.6 Aussetzung wg. Strafverfahrens
Behindertenhilfe-Mitarbeiterin M war in Verdacht geraten, vier Bewohner der Einrichtung getötet zu haben. Arbeitgeber G hat M’s Arbeitsverhältnis daraufhin fristlos – und zwar verhaltens- und personenbedingt – gekündigt, M eine Kündigungsschutzklage erhoben. Parallel dazu lief ein Strafverfahren gegen M. Das Arbeitsgericht hat das Kündigungsschutzverfahren wegen dieses Strafverfahrens und der dort veranlassten Begutachtung der Gekündigten ausgesetzt. Das missfiel G und er griff den Aussetzungsbeschluss des Arbeitsgerichts mit der dafür vorgesehenen Beschwerde an.
Das Beschwerdegericht sah den Sachverhalt anders als die erste Instanz und hob den Aussetzungsbeschluss auf. Begründung u.a.: Es liegt nur dann ein Aussetzungsgrund vor, wenn die strafrechtlichen Ermittlungen für die Entscheidung des Arbeitsgerichts maßgeblich sind. Für die Frage der Schuldfähigkeit der Mitarbeiterin kann diese Maßgeblichkeit hier nicht festgestellt werden. Soweit auf den personenbedingten Anlass abgestellt wird, ist die fachliche Eignung der Arbeitnehmerin auch dann zu verneinen, wenn sie nicht schuldfähig war. Eine weitere Zusammenarbeit mit ihr ist nicht mehr zumutbar (LAG Berlin-Brandenburg, 06.10.2021 – 11 Ta 1120/21 – mit dem Hinweis, dass es nicht auf das strafrechtliche Urteil, sondern die arbeitsvertragliche Pflichtverletzung und den damit verbundenen Vertrauensbruch ankommt).
5.7 Aussetzung wg. Vorabentscheidungsverfahrens
Vor den nationalen Arbeitsgerichten gibt es bisweilen Streitigkeiten, die von der Anwendung und/oder Auslegung des EU-Rechts abhängen. In vielen Fällen muss dabei vorab die Meinung des EuGH eingeholt werden. In dem hier vorgestellten Fall ging es beispielsweise um die Frage, ob unterschiedliche Zuschläge für Nachtarbeit - 15 % bzw. 20 % für nächtliche Schichtarbeit, während für Nachtarbeit außerhalb des Schichtsystems ein tariflicher Zuschlag von 60 % geschuldet war - rechtlich zulässig sind. Dazu waren bereits zwei Vorabentscheidungsersuchen beim EuGH - C-257/21 + C-258/21 - anhängig. Daher setzte das BAG das beim ihm anhängige Verfahren aus. Begründung u. a.: "Ein Rechtsstreit kann in entsprechender Anwendung von § 148 Abs. 1 ZPO ausgesetzt werden, wenn entscheidungserheblich ist, wie Unionsrecht auszulegen ist, und zu dieser Frage bereits ein Vorabentscheidungsverfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängig ist" (BAG, 28.07.2021 - 10 AZR 397/20 (A) - Leitsatz).
5.8 Beendetes Arbeitsverhältnis
Die Gerichte für Arbeitssachen sind gem. § 2 Abs. 1 Nr. 3 lit. d) ArbGG für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern "aus unerlaubten Handlungen, soweit diese mit dem Arbeitsverhältnis im Zusammenhang stehen", ausschließlich zuständig. Und was ist mit dieser ausschließlichen Zuständigkeit, wenn die unerlaubte Handlung (hier: Verletzung des Arbeitnehmer-Persönlichkeitsrechts durch den Arbeitgeber) erst begangen wird, nachdem das Arbeitsverhältnis schon beendet war? Nun, dann steht die Beendigung des Arbeitsverhältnisses der Zulässigkeit einer Klage vor dem Arbeitsgericht nicht von vornherein entgegen. Schon gar nicht, wenn die behaupteten Äußerungen in einem engen zeitlichen Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses stehen und auch ein innerer Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis erkennbar ist (LAG Niedersachsen, 20.02.2020 - 13 Ta 59/20).
5.9 Beschwerde
Gegen die das Verfahren beendenden Beschlüsse der Arbeitsgerichte findet gemäß § 87 Abs. 1 ArbGG die Beschwerde an das Landesarbeitsgericht statt. "Das Rechtsmittel der Beschwerde nach § 87 Abs. 1 ArbGG setzt voraus, dass eine in der angefochtenen Entscheidung liegende Beschwer beseitigt werden soll. Werden im Rahmen der Beschwerdeinstanz infolge einer Antragsänderung ausschließlich neue prozessuale Ansprüche geltend gemacht und die Beseitigung der erstinstanzlichen Beschwer nicht weiterverfolgt, ist die Beschwerde unzulässig" (BAG, 24.10.2017 - 1 ABR 45/16 - Leitsatz).
5.10 Bürgerlich-rechtliche Streitigkeit
Die Arbeitsgerichte der Republik sind nach § 2 ArbGG für bürgerliche Rechtsstreitigkeiten zuständig. Bürgerlich-rechtliche Streitigkeiten sind von öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten (Verwaltungsgericht!) abzugrenzen. Bei der Abgrenzung entscheidet die Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem sich der behauptete Anspruch ergibt (s. dazu GmS-OGB, 29.10.1987 - GmS-OGB 1/86; GmS-OGB, 10.04.1986 - GmS-OGB 1/85; BAG, 11.06.2003 - 5 AZB 1/03; BVerwG, 26.05.2010 - 6 A 5.09 und BGH, 14.07.2011 - III ZB 75/10). Will man ein öffentliches Rechtsverhältnis bejahen, müssen "die Beteiligten zueinander in einem hoheitlichen Verhältnis der Über- und Unterordnung stehen und sich der Träger hoheitlicher Gewalt der besonderen Rechtssätze des öffentlichen Rechts" bedienen (so: GmS-OGB, 29.10.1987 - GmS-OGB 1/86; GmS-OGB, 10.04.1986 - GmS-OGB 1/85 und BVerwG, 26.05.2010 - 6 A 5.09).
Aber: öffentlich-rechtliche Streitigkeiten können auch auf einem Gleichordnungsverhältnis beruhen. Zum Beispiel, "wenn die das Rechtsverhältnis beherrschenden Rechtsnormen nicht für jedermann gelten, sondern Sonderrecht des Staates oder sonstiger Träger öffentlicher Aufgaben sind, das sich zumindest auf einer Seite nur an Hoheitsträger wendet" (s. dazu GmS-OGB, 10.07.1989 - GmS-OGB 1/88; BVerwG, 26.05.2010 - 6 A 5.09 und BVerwG, 02.05.2007 - 6 B 10.07). Gegenstand und Zweck eines Vertrags entscheiden, wenn man ein Rechtsverhältnis als bürger- oder öffentlich-rechtlich einordnen will. "Die Rechtsnatur des Vertrags bestimmt sich danach, ob der Vertragsgegenstand dem öffentlichen oder dem bürgerlichen Recht zuzuordnen ist" (so: GmS-OGB, 10.04.1986 - GmS-OGB 1/85; BVerwG, 26.05.2010 - 6 A 5.09 und BGH, 20.05.2009 - XII ZB 166/08). Typisch für öffentlich-rechtliche Verträge zwischen einem Träger öffentlicher Verwaltung und einer Privatperson ist, dass sie an die Stelle einer sonst möglichen Regelung durch Verwaltungsakt (s. dazu § 54 Satz 2 VwVfG) treten (BAG, 22.11.2016 - 9 AZB 41/16 - mit dem Ergebnis, dass für die Vergütungsklage einer beamteten Professorin als Ärztliche Direktorin an einer Uni-Klinik in diesem Fall wegen ihrer Weisungsgebundenheit das ArbG zuständig war).
5.11 Corona-Pandemie
"1. In arbeitsgerichtlichen Verfahren kann auch bei Zurückweisung eines Antrags auf Erlass einer einstweiligen Verfügung ohne mündliche Verhandlung durch den Vorsitzenden entschieden werden, wenn eine solche insbesondere wegen der pandemiebedingten Umstände nicht kurzfristig anberaumt werden kann und die Sache besonders dringlich ist. 2. Die Mindestanzahl von 5 Arbeitnehmern der im Betrieb Beschäftigten ist nicht nur Voraussetzung für die Errichtung, sondern auch für den Fortbestand eines Betriebsrats. Sinkt die Zahl der ständig beschäftigten wahlberechtigten Arbeitnehmer nicht nur vorübergehend unter diese Zahl, endet das Amt des Betriebsrats (…). 3. Aufgrund des Weisungsrechts kann der Arbeitgeber die im Arbeitsvertrag nur rahmenmäßig umschriebene Leistungspflicht nach Ort, Zeit und Art bestimmen" (ArbG Rostock, 25.03.2020 – 4 Ga 6/20 – Leitsätze – mit Hinweis auf BAG, 25.10.1989 – 2 AZR 633/88; bestätigt durch LAG Mecklenburg-Vorpommern, 29.04.2020 – 3 SaGa 5/20).
5.12 Ehrenamtliche Richter
"Art. 2 Abs. 2 Buchst. a und Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist im Licht der Art. 21 und 26 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sowie des durch den Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26. November 2009 im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigten Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen dahin auszulegen, dass sie dem entgegenstehen, dass eine an Blindheit leidende Person von jeder Möglichkeit ausgeschlossen wird, die Aufgaben eines Schöffen in einem Strafverfahren auszuüben" (EuGH, 21.10.2021 - C-824/19 - Leitsatz - Bulgarien).
5.13 Elektronischer Rechtsverkehr
Das Arbeitsgerichtsgesetz gibt Rechtsanwälten mit § 46g Satz 1 ArbGG auf, den Gerichten vorbereitende Schriftsätze und deren Anlagen sowie schriftlich einzureichende Anträge und Erklärungen als elektronisches Dokument zu übermitteln. Ausnahme: "Ist eine Übermittlung aus technischen Gründen vorübergehend nicht möglich, bleibt die Übermittlung nach den allgemeinen Vorschriften zulässig" - § 46g Satz 3 ArbGG. Dabei sind allerdings die weiteren Vorgaben des § 46g Sazu 4 ArbGG zu beachten: "Die vorübergehende Unmöglichkeit ist bei der Ersatzeinreichung oder unverzüglich danach glaubhaft zu machen; auf Anordnung ist ein elektronisches Dokument nachzureichen" (LAG Schleswig-Holstein, 13.10.2021 - 6 Sa 337/20).
5.14 Elementfeststellungsklage
Eine Feststellungsklage "kann sich auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis, auf bestimmte Ansprüche oder Verpflichtungen oder auf den Umfang einer Leistungspflicht beschränken (sog. Elementenfeststellungsklage)." Das Feststellungsinteresse für eine Elementenfeststellungsklage lässt sich allerdings nur bejahen, "wenn der Streit durch die Entscheidung über den Feststellungsantrag insgesamt beseitigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann." Die weitere gerichtliche Auseinandersetzung über die zwischen den Parteien strittige Frage um denselben Fragenkomplex muss durch die Rechtskraft der Entscheidung ausgeschlossen sein. Das Feststellungsinteresse fehlt also, "wenn durch die Entscheidung kein Rechtsfrieden geschaffen wird, weil nur einzelne Elemente des Rechtsverhältnisses zur Entscheidung des Gerichts gestellt werden" (BAG, 03.12.2019 - 9 AZR 54/19 - mit Hinweis auf BAG, 21.05.2019 - 9 AZR 260/18 - und BAG, 15.01.2013 - 9 AZR 430/11).
5.15 Feststellungsinteresse - 1
Beantragt der Betriebsrat die gerichtliche Feststellung eines Mitbestimmungsrechts (hier: aus § 87 Abs. 1 Nr. 10 BetrVG bezüglich der Zuteilung von Aktienoptionen), zielt sein Antrag auf die Feststellung eines Rechtsverhältnisses i.S.d. § 256 Abs. 1 ZPO. Hier ist von Amts wegen auf das erforderliche Feststellungsinteresse zu achten, das besondere Interesse an der gerichtlichen Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses. "Für eine nur auf die Vergangenheit gerichtete Feststellung, aus der sich keinerlei Rechtsfolgen für die Zukunft mehr ergeben, besteht regelmäßig kein besonderes rechtliches Interesse. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, einem Beteiligten zu bescheinigen, dass er im Recht war, oder eine die Verfahrensbeteiligten interessierende Rechtsfrage gutachterlich zu klären" (BAG, 23.10.2018 - 1 ABR 18/17 - mit Hinweis auf BAG, 15.04.2008 - 1 ABR 14/07).
5.16 Feststellungsinteresse - 2
Statt auf Leistung kann unter bestimmten Umständen auch auf Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses geklagt werden (§ 256 Abs. 1 ZPO). Dabei setzt die Feststellungsklage ein – besonderes – rechtliches Interesse des Klägers voraus, "dass das Rechtsverhältnis … durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt werde." Die Feststellungsklage muss sich dabei nicht zwingend auf ein Rechtsverhältnis als Ganzes beziehen. Es genügt bereits, wenn sie auf einzelne Beziehungen oder Folgen aus einem Rechtsverhältnis zielt (s. dazu BAG, 15.07.2020 – 10 AZR 507/18). Das von § 256 Abs. 1 ZPO verlangte Feststellungsinteresse lässt sich bejahen, "wenn der Streit durch die Entscheidung über den Antrag insgesamt beseitigt wird und das Rechtsverhältnis der Parteien abschließend geklärt werden kann" (BAG, 09.12.2020 – 10 AZR 334/20).
5.17 Freie richterliche Beweiswürdigung - 1
Die Tatsachengerichte - Arbeits- und Landesarbeitsgericht - entscheiden gemäß § 286 Abs. 1 Satz 1 ZPO "nach freier Überzeugung", "ob eine tatsächliche Behauptung für oder nicht für wahr zu erachten sei." Das Revisionsgericht - Bundesarbeitsgericht - kann die freie richterliche Beweiswürdigung nur beschränkt überprüfen. Nämlich danach, ob sich das Tatsachengericht umfassend und widerspruchsfrei mit dem Prozessstoff auseinandergesetzt hat, die Beweiswürdigung also vollständig und rechtlich möglich ist und kein Verstoß gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze vorliegt. Zudem gilt: "Der Angriff gegen die Beweiswürdigung des Landesarbeitsgerichts bedarf einer Verfahrensrüge" (BAG, 16.01.2018 - 7 AZR 312/16 - mit Hinweis auf BAG, 20.08.2014 - 7 AZR 924/12 und BAG, 16.01.2008 - 7 AZR 603/06).
5.18 Freie richterliche Beweiswürdigung - 2
Die Tatsacheninstanzen müssen nach § 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO unter Berücksichtigung des gesamten Inhalts der Verhandlung und des Ergebnisses einer etwaigen Beweisaufnahme nach freier Überzeugung entscheiden, ob sie eine Tatsache für wahr oder nicht wahr halten. Mögliche Zweifel müssen sie überwinden, obwohl sie sie nicht komplett ausschließen können. Es genügt daher, wenn ein für das praktische Leben brauchbarer Gewissheitsgrad erreicht ist, "der Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen" (s. dazu BAG, 16.07.2015 - 2 AZR 85/15 und BGH, 18.10.2017 - VIII ZR 32/16). Bei einem Indizienbeweis hat das Tatsachengericht zu prüfen, ob die behaupteten Hilfstatsachen, wenn man deren Richtigkeit unterstellt, es von der Wahrheit der Haupttatsache überzeugen. "Dabei sind die Tatsacheninstanzen grundsätzlich frei darin, welche Beweiskraft sie den behaupteten Indiztatsachen im Einzelnen und in einer Gesamtschau beimessen" (BAG, 25.04.2018 - 2 AZR 611/17).
5.19 Friedensrichter
"1. Art. 267 AEUV ist dahin auszulegen, dass der Giudice di pace (Friedensrichter, Italien) unter den Begriff 'Gericht eines Mitgliedstaats' im Sinne dieses Artikels fällt. 2. Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung und Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sind dahin auszulegen, dass ein Friedensrichter, der im Rahmen seiner Aufgaben tatsächliche und echte Leistungen erbringt, die weder völlig untergeordnet noch unwesentlich sind und für die er Entschädigungen mit Vergütungscharakter erhält, unter den Begriff 'Arbeitnehmer' im Sinne dieser Bestimmungen fallen kann, was zu überprüfen Sache des vorlegenden Gerichts ist" (EuGH, 16.07.2020 – C-658/18 – Leitsätze 1 u. 2, 1. Absatz – Italien).
5.20 Gebot fairer Verfahrensgestaltung
Aus Art. 20 Abs. 3 GG folgt das "Gebot fairer Verfahrensgestaltung". Ein gerichtliches Verfahren muss danach so angelegt werden, wie es die Parteien eines Zivilprozesses vom Gericht erwarten dürfen. Das Gebot fairer Verfahrensgestaltung verbietet u.a. widersprüchliche Verhaltensweisen des Gerichts. Zudem darf ein Gericht nicht aus Fehlern, die es entweder selbst gemacht hat oder die ihm zuzurechnen sind, nachteilige Folgen herleiten. Schließlich ist es ganz allgemein zur Rücksichtnahme gegenüber den Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation verpflichtet (s. dazu BVerfG, 18.07.2013 - 1 BvR 1623/11). "Der Zugang zu den Gerichten und zu den Rechtsmittelinstanzen darf durch die Auslegung des Prozessrechts nicht in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert werden" (BAG, 22.03.2018 - 8 AZR 779/16 - mit Hinweis auf BVerfG, 26.07.2007 - 1 BvR 602/07).
5.21 GmbH-Geschäftsführer - Abberufung - 1
Die richtige Antwort auf die Frage, ob ein abberufender GmbH-Geschäftsführer (wieder) Arbeitnehmer ist und damit vor dem Arbeitsgericht klagen kann, ist für viele Ansprüche richtungsweisend: "1. Macht ein ehemaliger Geschäftsführer nach Abberufung bei streitiger (Neu-)Begründung eines Arbeitsverhältnisses Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall geltend und fehlt eine vertragliche Regelung zu einem solchen Anspruch, so dass er allein auf § 3 Abs. 1 EFZG gestützt werden kann, begründet dieser Teil der Klage einen sog. sic-non Fall, in dem allein aufgrund der doppelrelevanten Rechtsansicht des Klägers, im Streitzeitraum Arbeitnehmer gewesen zu sein, insoweit der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten begründet ist. 2. Werden neben der Entgeltfortzahlungsklage weitere Ansprüche geltend gemacht, ist für diese gesondert die Rechtswegzuständigkeit zu prüfen, denn sic-non-Fälle können keine Zusammenhangszuständigkeit nach § 2 Abs. 3 ArbGG begründen" (LAG Düsseldorf, 19.07.2022 - 3 Ta 90/22 - 1. und 2. Leitsatz).
5.22 GmbH-Geschäftsführer - Abberufung - 2
"3. Schließen bislang durch einen Arbeitsvertrag verbundene Vertragsparteien einen schriftlichen Geschäftsführerdienstvertrag, wird damit das bisherige Arbeitsverhältnis, selbst wenn es in dem Vertrag keine Erwähnung findet, in der Regel formwirksam konkludent aufgehoben. Das gilt auch, wenn der Geschäftsführerdienstvertrag auf Unternehmensseite durch einen Vertreter der Gesellschafter und nicht durch einen (anderen) Geschäftsführer unterzeichnet wird. Denn insoweit ist von einer Annexvertretungskompetenz der Gesellschafterversammlung und ihrer Vertreter auszugehen (Anschluss an LAG Hamburg vom 19.11.2008 - 4 Ta 20/08). 4. Zwar wandelt sich der Geschäftsführerdienstvertrag dann nach Abberufung als Geschäftsführer nicht automatisch wieder in einen Arbeitsvertrag um. Erklärt jedoch der Vertreter der Gesellschafter, dass man das bisherige Arbeitsverhältnis mit der dort geregelten Tätigkeit, jedoch dem Gehalt aus dem Geschäftsführerdienstvertrag fortsetzen wolle und setzen die verbleibende Geschäftsführung und der abberufene Geschäftsführer dies dann um, indem Letzterer entsprechend weiterbeschäftigt wird, liegt darin eine wirksame konkludente Neubegründung des früheren Arbeitsverhältnisses. Für die hieraus abgeleiteten Ansprüche ist der Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten begründet" (LAG Düsseldorf, 19.07.2022 - 3 Ta 90/22 - 3. und 4. Leitsatz).
5.23 GmbH-Geschäftsführer = arbeitnehmerähnliche Person?
Gekündigte GmbH-Geschäftsführer versuchen häufig, ihren Kündigungsrechtsstreit vor das Arbeitsgericht zu bringen - und das trotz der mehr oder weniger eindeutigen Regelungen in § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG und § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG. Aber auch wenn ein Geschäftsführer abberufen wird: Der rechtliche Charakter seines Anstellungsverhältnisses als Organvertreter ändert sich durch die Abberufung nicht. "Das Anstellungsverhältnis wird durch den Abberufungsakt nicht zum Arbeitsverhältnis" (s. dazu BAG, 15.11.2013 - 10 AZB 28/13; BAG, 25.06.1997 - 5 AZB 41/96 - und BAG, 21.02.1994 - 2 AZB 28/93). Daher gilt: "Der Fremdgeschäftsführer einer GmbH nimmt Arbeitgeberfunktionen wahr und ist deshalb keine arbeitnehmerähnliche, sondern eine arbeitgeberähnliche Person" (BAG, 21.01.2019 - 9 AZB 23/18 - Leitsatz; bestätigt durch BAG, 08.02.2022 – 9 AZB 40/21).
5.24 GmbH-Geschäftsführer - Fremdgeschäftsführer
Die Arbeitsgerichte sind nur für Klagen von Arbeitnehmern zuständig. Wer Arbeitnehmer ist, sagt § 5 ArbGG. Kein Arbeitnehmer sind nach § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG "in Betrieben einer juristischen Person oder einer Personengesamtheit Personen, die kraft Gesetzes, Satzung oder Gesellschaftsvertrags allein oder als Mitglied des Vertretungsorgans zur Vertretung der juristischen Person oder Personengesamtheit berufen sind." Wird ein Organvertreter abberufen, ändert das nicht den Charakter seines Anstellungsverhältnisses. Es wird durch die Abberufung nicht zu einem Arbeitsverhältnis und der Organvertreter wird nicht zu einer arbeitnehmerähnlichen Person. Der Geschäftsführer einer GmbH wird in der Regel auf Grundlage eines freien BGB-Dienstvertrags tätig – nicht aufgrund eines Arbeitsvertrags. Und damit ist ihm der Rechtsweg für Klagen vor dem Arbeitsgericht verschlossen (BAG, 08.02.2022 – 9 AZB 40/21 – mit dem Hinweis, dass die Annahme einer Arbeitnehmereigenschaft nur in extremen Ausnahmefällen in Betracht kommt).
5.25 Internationale Zuständigkeit - 1
"Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass im Fall der Klage eines Mitglieds des bei einer Fluggesellschaft beschäftigten oder ihr zur Verfügung gestellten Flugpersonals zur Klärung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts der Begriff 'Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet' im Sinne dieser Vorschrift nicht mit dem Begriff 'Heimatbasis' im Sinne von Anhang III der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 des Rates vom 16. Dezember 1991 zur Harmonisierung der technischen Vorschriften und der Verwaltungsverfahren in der Zivilluftfahrt in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1899/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 geänderten Fassung gleichgesetzt werden kann. Der Begriff 'Heimatbasis' ist jedoch ein wichtiges Indiz für die Bestimmung des 'Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet'" (EuGH, 14.09.2017 - C-168/16 - Belgien/Irland - Leitsatz).
5.26 Internationale Zuständigkeit - 2
Der stark vereinfachte Fall: Geschäftsführer G wurde von einem italienischen Unternehmen eingestellt. Danach wurde er an ein 100-prozentiges Tochterunternehmen des Vertragsarbeitgebers in Polen versetzt, mit dem er parallel dazu einen Arbeitsvertrag nach polnischem Recht schloss. Der italienische Arbeitgeber kündigte N. aus wichtigem Grund. N erhob vor dem Tribunale di Torino (= Landgericht) gegen die Kündigung Klage. Im Wege der Widerklage verlangte der italienische Arbeitgeber von N Zahlung zu Unrecht erhaltener Vergütungsbestandteile, die er sich von dem polnischen Tochterunternehmen hatte abtreten lassen.
Stellt sich die Frage: Ist das Turiner Landgericht für Klage und Widerklage zuständig? "Art. 20 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass er in einem Fall wie dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden dem Arbeitgeber das Recht einräumt, vor dem Gericht, bei dem die von einem Arbeitnehmer erhobene Klage selbst ordnungsgemäß anhängig ist, eine Widerklage zu erheben, die sich auf eine Forderungsabtretung stützt, die der Arbeitgeber und der ursprüngliche Forderungsinhaber vertraglich vereinbart haben, nachdem die Klage selbst erhoben worden war" (EuGH, 21.06.2018 - C-1/17 - Leitsatz - Italien - mit Bejahung der Zuständigkeit des LG Turin).
5.27 Internationale Zuständigkeit - 3
Der vereinfachte Fall: Pilotin P wurde von einer ausländischen Fluggesellschaft mit Sitz im EU-Ausland eingesetzt. Der Ort, an dem oder von dem aus sie gewöhnlich ihre Arbeit verrichtete, war Bremen in der Bundesrepublik Deutschland. Von dort startete sie überwiegend ihre Flüge und kehrte auch überwiegend dorthin wieder zurück. Hier nahm sie auch Anweisungen ihres Arbeitgebers entgegen. Einen schriftlichen Arbeitsvertrag gab es nicht. Über eine weitere ausländische Firma wurde P zudem für Pilotendienstleistungen an eine ausländische Fluggesellschaft vermittelt. Zwischen den Parteien gab es dann Streit um die Frage, ob P Arbeitnehmerin oder Selbstständige sei. P klagte vor einem deutschen Arbeitgericht - und das passte. P's Heimtbasis war Bremen in Deutschland - und daher hatte das deutsche Arbeitsgericht Bremen-Bremerhaven die internationale Zuständigkeit für P's Klage (LAG Bremen, 30.10.2018 - 1 Sa 157/17).
5.28 Kartellsachen
Der vereinfachte Fall: Arbeitgeber A betreibt ein Stahlhandelsunternehmen. Arbeitnehmer N war Geschäftsführer des A. Gegen ihn verhängte das Bundeskartellamt wegen wettbewerbswidriger Kartellabsprachen Geldbußen von insgesamt 191 Millionen EUR. In einem Schadensersatzprozess gegen N verlangte A die Erstattung der Geldbußen - und mehr. § 87 Satz 1 GWB weist die dort angesprochenen Kartellsachen ohne Rücksicht auf den Streitwert den Landgerichten zu (= ausschließliche Zuständigkeit).
§ 87 Satz 2 GWB sagt: "Satz 1 gilt auch, wenn die Entscheidung eines Rechtsstreits ganz oder teilweise von einer Entscheidung, die nach diesem Gesetz zu treffen ist, oder von der Anwendbarkeit des Artikels 101 oder 102 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union oder des Artikels 53 oder 54 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum abhängt." Das heißt: Kann der Arbeitsrechtsstreit nicht ohne Beantwortung kartellrechtlicher Fragen entschieden werden, sind die Arbeitsgerichte für die Entscheidung dieses Rechtsstreits nicht (mehr) zuständig (BAG, 29.06.2017 - 8 AZR 189/15).
5.29 Konkurrentenklage - öffentliches Amt
"1. Die weitere Beschwerde gemäß § 17a Abs. 4 Satz 4 GVG ist im Rahmen eines auf die Vergabe eines öffentlichen Amtes i.S.v. Art. 33 Abs. 2 GG gerichteten Konkurrentenstreitverfahrens auch im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes statthaft. 2. Der von der Rechtsprechung aus Art. 33 Abs. 2 GG entwickelte Bewerbungsverfahrensanspruch ist weder von vornherein öffentlich-rechtlich noch bürgerlich-rechtlich zu verorten. 3. Die Gerichte für Arbeitssachen sind für Konkurrentenstreitverfahren zuständig, bei denen sich allein Arbeitnehmer und Selbstständige um die Besetzung einer Stelle im Arbeitsverhältnis des öffentlichen Dienstes bewerben. 4. Der Bewerbungsverfahrensanspruch aus Art. 33 Abs. 2 GG hat - für alle Mitbewerber - einen einheitlichen öffentlich-rechtlichen Charakter i.S.v. § 40 Abs. 1 Satz 1 VwGO, wenn entweder ein Beamter um Rechtsschutz nachsucht (unabhängig davon, ob die Stelle als Statusamt oder nach Tarifvertrag besetzt werden soll) oder wenn sich ein - auch nicht beamteter - Mitbewerber gegen die Auswahlentscheidung zugunsten eines Beamten wendet" (BVerwG, 17.03.2021 – 2 B 3/21 – Leitsätze).
5.30 Konkurrentenklage - öffentlicher Dienst
"1. Für den Antrag eines Bewerbers auf vorläufige Untersagung, eine als Arbeitsverhältnis ausgeschriebene Stelle im öffentlichen Dienst mit einem anderen Bewerber zu besetzen, ist der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen gegeben. Es handelt sich nicht um eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit. 2. Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss, mit dem das Landesarbeitsgericht im Verfahren über den Erlass einer einstweiligen Verfügung über die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtswegs entscheidet, ist nicht ausgeschlossen. Der Ausschluss der Rechtsbeschwerde im Eilverfahren bezieht sich nicht auf das vorgelagerte Rechtswegbestimmungsverfahren. Hierfür bedürfte es einer ausdrücklichen gesetzlichen Regelung" (LAG Niedersachsen, 14.01.2021 – 10 Ta 316/20).
5.31 Konsularische Tätigkeiten
Die deutsche Gerichtsbarkeit erstreckt sich nach § 20 Abs. 1 GVG nicht auf Repräsentanten anderer Staaten und deren Begleitung, die sich auf amtliche Einladung der Bundesrepublik Deutschland im Geltungsbereich dieses Gesetzes aufhalten. Und § 20 Abs. 2 GVG ergänzt: "Im übrigen erstreckt sich die deutsche Gerichtsbarkeit auch nicht auf andere als die in Absatz 1 und in den §§ 18 und 19 genannten Personen, soweit sie nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, auf Grund völkerrechtlicher Vereinbarungen oder sonstiger Rechtsvorschriften von ihr befreit sind." Das heißt für konsularische Tätigkeiten: "Ein ausländischer Staat unterliegt in Bezug auf eine Kündigungsschutzklage nicht der deutschen Gerichtsbarkeit, wenn dem Arbeitnehmer nach dem Vertragsinhalt auch konsularische Tätigkeiten oblegen haben. Dies gilt grundsätzlich unabhängig davon, wie häufig oder in welchem zeitlichen Umfang der Arbeitnehmer solche Tätigkeiten tatsächlich ausgeübt hat" (BAG, 14.12.2017 - 2 AZR 216/17 - Leitsatz).
5.32 Kostenprivileg
"1. § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG schließt als spezielle arbeitsrechtliche Regelung nicht nur einen prozessualen Kostenerstattungsanspruch, sondern auch einen materiell-rechtlichen Anspruch auf Erstattung von bis zum Schluss einer eventuellen ersten Instanz entstandenen Beitreibungskosten - unabhängig von seiner Anspruchsgrundlage - und damit auch einen Anspruch auf Erstattung außer- und vorgerichtlicher Rechtsverfolgungskosten aus. 2. Der Ausschluss materiell-rechtlicher Kostenerstattungsansprüche nach § 12a Abs. 1 Satz 1 ArbGG wirkt im Fall einer Inanspruchnahme der Arbeitsgerichte über die Instanzen fort" (BAG, 28.11.2019 - 8 AZR 293/18 - Leitsätze).
5.33 Mindestlohnklage
Wer eine Klage erhebt, muss sich vor Klageerhebung Gedanken über den richtigen Rechtsweg machen. Klagen aus einem BGB-Dienstverhältnis gehören vor die allgemeinen Zivilgerichte, Klage aus einem BGB-Arbeitsverhältnis vor die Arbeitsgerichte. Und wenn der gesetzliche Mindestlohn Streitpunkt ist? Nun: "Für eine Klage, die auf die Differenz zwischen einer vertraglich vereinbarten Vergütung und dem sie übersteigenden gesetzlichen Mindestlohn gerichtet ist, sind die Gerichte für Arbeitssachen auch dann zuständig, wenn ein Landgericht das Vertragsverhältnis der Parteien in einem vorangegangenen Rechtsstreit der Parteien in einem Urteil als freies Dienstverhältnis qualifiziert und eine Arbeitnehmereigenschaft des Klägers ausdrücklich verneint hat. Denn es handelt sich bei der Differenzklage um einen sog. Sic-non-Fall, bei dem die bloße Rechtsansicht des Klägers, es handele sich um ein Arbeitsverhältnis, den Rechtsweg zu den Arbeitsgerichten eröffne" (LAG Köln, 30.09.2020 - 9 Ta 117/20 - Leitsatz).
5.34 Öffentlichkeitsgrundsatz
Das Gerichtsverfassungsgesetz sieht in § 169 Abs. 1 Satz 1 GVG unter der Überschrift "Öffentlichkeit und Sitzungspolizei" vor: "Die Verhandlung vor dem erkennenden Gericht einschließlich der Verkündung der Urteile und Beschlüsse ist öffentlich" – wenn nicht ein in den §§ 170 ff. GVG geregelter Ausnahmetatbestand greift. Und dann kam Corona. Die SARS-CoV-2-Pandemie stellte nicht nur den Bürger, sondern auch die Gerichte vor bisher nicht gekannte Herausforderungen. Da galt es nun zur Pandemiebekämpfung Abstand zu halten, eine Mund-Nase-Abdeckung zu tragen, die Hände zu desinfizieren und die Räume zu lüften. Vereinzelt kam daher auch in der Arbeitsgerichtsbarkeit der Wunsch auf, die Öffentlichkeit während der Gerichtsverhandlungen draußen zu lassen – zu hoch war das Infektionsrisiko. Da hat das Bundesarbeitsgericht aber auch in Corona-Zeiten mit einem sehr, sehr kurzen Leitsatz eine vernünftige Meinung: "Auf die Einhaltung des Öffentlichkeitsgrundsatzes kann im arbeitsgerichtlichen Verfahren nicht verzichtet werden" (BAG, 02.03.2022 – 2 AZN 629/21).
5.35 Ort der Arbeitsleistung
"Art. 19 Nr. 2 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 ... über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, dass im Fall der Klage eines Mitglieds des bei einer Fluggesellschaft beschäftigen oder ihr zur Verfügung gestellten Flugpersonals zur Klärung der Zuständigkeit des angerufenen Gerichts der Begriff 'Ort, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet' im Sinne dieser Vorschrift nicht mit dem Begriff 'Heimatbasis' im Sinne von Anhang III der Verordnung (EWG) Nr. 3922/91 ... zur Harmonisierung der technischen Vorschriften und der Verwaltungsverfahren in der Zivilluftfahrt in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1899/2006 ... geänderten Fassung gleichgesetzt werden kann. Der Begriff 'Heimatbasis' ist jedoch ein wichtiges Indiz für die Bestimmung des 'Ortes, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet'" (EuGH, 14.09.2017 - C-168/16 u. C-169/16 - Leitsatz - Belgien (Ryanair)).
5.36 Protokoll-Beweiskraft
Über die Verhandlung und jede Beweisaufnahme ist gem. § 159 Abs. 1 Satz 1 ZPO - der über § 46 ArbGG wie die meisten ZPO-Bestimmungen auch für das Verfahren vor den Arbeitsgerichten gilt - ein Protokoll aufzunehmen. In dieses Protokoll ist - neben vielem anderen - auch die "Verkündung der Entscheidungen" aufzunehmen (§ 160 Abs. 3 Nr. 7 ZPO). Und was gilt, wenn nach der mündlichen Verhandlung (mit dem Hinweis: "Entscheidung am Schluss des Sitzungstages") zwar ein Urteil vorliegt, die Verkündung dieses Urteils aber nicht protokolliert ist? Dann gilt: "Ist im Sitzungsprotokoll nicht festgestellt, dasss ein Urteil verkündet wurde, ist die Verkündung nicht bewiesen" (BAG, 14.10.2020 - 5 AZR 712/19 - Leitsatz - mit dem Ergebnis, dass das erstinstanzliche Verfahren mangels Urteilsverkündigung nicht abgeschlossen und die Revision des Klägers begründet ist).
5.37 Rechtskraft
Die Rechtskraft eines Urteils führt dazu, dass die vom Gericht aus dem zu beurteilenden Sachverhalt hergeleitete Rechtsfolge unangreifbar zwischen den Parteien verbindlich feststeht. Das gilt auch insoweit, als sie für die in einem neuen Prozess zur Entscheidung gestellte Rechtsfolge vorgreiflich ist (s. dazu BGH, 05.06.1963 - IV ZR 136/62).
Es gibt allerdings Fälle, in den sich die Rechtskraft gegenüber einem Schadensersatzanspruch aus § 826 BGB (vorsätzliche sittenwidrige Schädigung) nicht durchsetzt (s. dazu BAG, 03.11.1982 - 7 AZR 62/79; BAG, 15.02.1973 - 2 AZR 16/72; BAG, 27.01.1970 - 1 AZR 198/69; BGH, 20.06.2018 - XII ZB 84/17; BGH, 13.09.2005 - VI ZR 137/04; BGH 29.06.2005 - VIII ZR 299/04; BGH, 11.07.2002 - IX ZR 326/99 – und BGH, 09.02.1999 - VI ZR 9/98). § 826 BGB stellt zwar nicht die rechtskräftige Entscheidung in Frage. Die auf § 826 BGB gestützte Klage ist viel mehr darauf gerichtet, "die hierdurch verursachte Einbuße im Wege des Schadensersatzes auszugleichen, wobei zur Erreichung dieses Zwecks die materielle Rechtskraft zurücktreten muss. Die Klage aus § 826 BGB ist daher kein ‚außerordentlicher Rechtsbehelf‘ gegen eine gerichtliche Entscheidung, sondern die Anwendung materiellen Zivilrechts" (BAG, 19.12.2019 – 8 AZR 511/18 – mit Hinweis auf BGH, 13.09.2005 - VI ZR 137/04).
5.38 Richterliche Hinweispflicht - 1
"Weist das Landesarbeitsgericht eine Klage als unzulässig ab und macht es hilfsweise Ausführungen zur Unbegründetheit der Klage, darf das Revisionsgericht auf die Begründetheit der Klage nur eingehen, wenn das Berufungsurteil einen Sachverhalt festgestellt hat, der für die rechtliche Beurteilung des Falls eine verwertbare tatsächliche Grundlage bietet, und bei Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht ein anderes Ergebnis nicht möglich erscheint. Diese Voraussetzung ist etwa erfüllt, wenn der Klagevortrag in jeder Richtung unschlüssig ist und auch durch weiteres Parteivorbringen nicht schlüssig gemacht werden kann" (BAG, 20.04.2016 - 10 AZR 111/15 - mit dem Ergebnis, dass das Landesarbeitsgericht die Klägerin auf seine Bedenken bezüglich der mangelnden Bestimmtheit der Teilklage hätte hinweisen müssen).
5.39 Richterliche Hinweispflicht - 2
Im Prozessrecht verankerte richterliche Hinweispflichten haben u. a. den Zweck, a) Überraschungsentscheidungen zu vermeiden und b) den Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör zu konkretisieren. Meint ein Rechtsmittelgericht beispielsweise anders als die Vorinstanz, dass ein gestellter Antrag nicht sachdienlich ist, muss es die Parteien rechtzeitig darauf hinweisen. "Hält ein Gericht einen Antrag abweichend vom Ausspruch der Vorinstanz für unzulässig, weil er seines Erachtens dem Bestimmtheitserfordernis des § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO nicht genügt, so muss es auf eine Heilung dieses Mangels hinwirken." Das Gericht hat der betroffenen Partei Gelegenheit zu geben, ihren Sachvortrag entsprechend nachzubessern (BAG, 27.07.2016 - 7 ABR 16/14).
5.40 Richterliche Hinweispflicht - 3
Das Gericht darf seine Entscheidung gemäß § 139 Abs. 2 ZPO nur dann auf einen von einer Partei erkennbar übersehenen oder für unerheblich gehaltenen (oder vom Gericht anders als von beiden Parteien beurteilten) Gesichtspunkt stützen, wenn es die Parteien darauf hingewiesen und ihnen Gelegenheit zur Äußerung gegeben hat. Mit der richterlichen Hinweispflicht nach § 139 ZPO soll der Anspruch der Parteien auf rechtliches Gehör konkretisiert und Überraschungsentscheidungen vermieden werden. "Die Hinweispflicht nach § 139 Abs. 2 ZPO besteht auch gegenüber anwaltlich vertretenen Parteien, wenn der Prozessbevollmächtigte der substanziierungspflichtigen Partei ersichtlich darauf vertraut, dass sein schriftlicher Vortrag ausreicht" (BAG, 15.11.2018 - 6 AZR 294/17 - mit Hinweis auf BGH, 27.09.2006 - VIII ZR 19/04 - und dem Ergebnis, dass in diesem Fall ein Revisionsgrund i.S.d. § 551 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 ZPO vorlag).
5.41 Solo-Selbstständige (Bau)
"Nimmt die Urlaubs- und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft 'Betriebe', die keine Arbeitnehmer beschäftigen (Solo-Selbstständige), auf Zahlung des Mindestbeitrags für die Berufsbildung gemäß § 17 des Tarifvertrags über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 3. Mai 2013 i.d.F. vom 10. Dezember 2014 in Anspruch, ist nicht der Rechtsweg zu den Gerichten für Arbeitssachen gegeben, sondern nach § 13 GVG der zu den ordentlichen Gerichten. Solo-Selbstständige sind keine Arbeitgeber i.S.v. § 2 Abs. 1 Nr. 6 ArbGG" (BAG, 01.08.2017 - 9 AZB 45/17 - Leitsätze).
5.42 Staatenimmunität
"Eine Klage, mit der das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses mit einem ausländischen Staat festgestellt werden soll, in dessen Rahmen der Arbeitnehmer Tätigkeiten auszuüben hat, die in einem engen funktionalen Zusammenhang mit den diplomatischen und konsularischen Aufgaben des ausländischen Staats i.S.v. Art. 3 Abs. 1 Buchst. d und e des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (...) vom 18. April 1961 bzw. Art. 5 Buchst. b und c des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen (...) vom 24. April 1963 stehen, ist unzulässig.Für diese Streitigkeit ist der ausländische Staat der deutschen Gerichtsbarkeit nach § 20 Abs. 2 GVG nicht unterworfen, weil sie seine hoheitliche Tätigkeit betrifft" (BAG, 21.03.2017 - 7 AZR 207/15 - Leitsatz).
5.43 Streitgegenstand
Im arbeitsgerichtlichen Urteilsverfahren gilt ein zweigliedriger Begriff des Streitgegenstands. Der Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens wird zum einen durch den in diesem Verfahren gestellten Antrag (= Klageantrag) bestimmt, zum anderen durch den diesem Antrag zugrundeliegenden Lebenssachverhalt (= Klagegrund). "Der Streitgegenstand erfasst alle Tatsachen, die bei einer natürlichen, vom Standpunkt der Parteien ausgehenden, den Sachverhalt seinem Wesen nach erfassenden Betrachtungsweise zu dem zur Entscheidung gestellten Tatsachenkomplex gehören, den der Kläger zur Stützung seines Rechtsschutzbegehrens dem Gericht unterbreitet hat" (s. dazu BAG, 26.06.2013 - 5 AZR 428/12). Der so durch Antrag und Klagevorbringen festgelegte Streitgegenstand wird weder durch den Vortrag des Beklagten noch durch Vorbringen des Klägers zur Verteidigung gegenüber dem Beklagtenvortrag geändert (BAG, 20.02.2018 - 1 AZR 787/16 - mit Hinweis auf BAG, 18.11.2014 - 1 AZR 257/13).
5.44 Stufenklage
Hängt die Höhe eines Bonus' von Faktoren ab, die dem Arbeitnehmer nicht so ohne Weiteres zugänglich sind, kann er im Wege einer Stufenklage vorgehen. Auf Stufe 1 steht das Verlangen einer Auskunft, mit deren Hilfe die noch fehlende Bestimmbarkeit des Leistungsanspruchs herbeigeführt werden soll. Die Stufenklage ist ein besonders geregelter Fall objektiver Klagehäufung. Dabei wird auch der Zahlungsanspruch mit Einreichen der Auskunftsklage rechtshängig. Über die verschiedenen Stufen muss dann allerdings gesondert und nacheinander verhandelt und entschieden werden - z. B. durch Teilurteil. "Eine einheitliche Entscheidung über die mehreren in einer Stufenklage verbundenen Anträge kommt nur in Betracht, wenn die Klage unzulässig ist oder sich bereits bei der Prüfung des Auskunftsanspruchs ergibt, dass dem Hauptanspruch die materiell-rechtliche Grundlage fehlt. Dann kann die Stufenklage insgesamt durch Endurteil abgewiesen werden" (BAG, 08.09.2021 - 10 AZR 11/19 - mit Hinweis auf BAG, 26.08.2020 – 7 AZR 345/18 – und BGH, 13.11.2019 – IV ZR 317/17).
5.45 (Teil)Urteil
Wenn von mehreren in einer Klage geltend gemachten Ansprüchen nur der eine oder nur ein Teil eines Anspruchs oder bei erhobener Widerklage nur die Klage oder die Widerklage zur Endentscheidung reif ist, "so hat das Gericht die Entscheidung nach § 301 Abs. 1 Satz 1 ZPO durch Endurteil (Teilurteil) zu erlassen. Ein Teilurteil darf nur ergehen, wenn der Teil, über den entschieden wird, vom Rest des geltend gemachten prozessualen Anspruchs unabhängig ist, so dass die Gefahr einander widersprechender Entscheidungen nicht besteht. § 301 Abs. 1 ZPO setzt die Teilbarkeit der Klageforderung voraus" (s. dazu BAG, 18.03.2014 - 3 AZR 874/11). Sie fehlt, "wenn in einem Teilurteil eine Frage entschieden wird, die sich dem Gericht in dem weiteren Verfahren über andere Ansprüche oder Anspruchsteile noch einmal stellt oder stellen kann. Dazu reicht die Möglichkeit einer unterschiedlichen Beurteilung von bloßen Urteilselementen aus, die weder in Rechtskraft erwachsen noch das Gericht nach § 318 ZPO für das weitere Verfahren binden. Vor diesem Hintergrund darf ein Teilurteil nur ergehen, wenn der weitere Verlauf des Prozesses die zu treffende Entscheidung unter keinen Umständen mehr berühren kann" (BAG, 20.06.2018 - 7 AZR 689/16 - mit Hinweis auf BAG, 29.06.2017 - 8 AZR 189/15; BGH, 21.11.2017 - VI ZR 436/16 - u.a.).
5.46 Tod einer Prozesspartei
Es kommt immer wieder einmal vor, dass eine Prozesspartei während eines laufenden Verfahrens stirbt. § 239 Abs. 1 ZPO sieht für diesen Fall vor, dass "eine Unterbrechung des Verfahrens bis zu dessen Aufnahme durch die Rechtsnachfolger" eintritt. "Fand in den Fällen des Todes (…) eine Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten statt, so tritt eine Unterbrechung des Verfahrens nicht ein" (§ 246 Abs. 1 Halbs. 1 ZPO). Aber: Das "Prozessgericht hat .. auf Antrag des Bevollmächtigten (…) die Aussetzung des Verfahrens anzuordnen" (§ 246 Abs. 1 Halbs. 2 ZPO). Dieses besondere Recht steht nicht der vertretenen Partei, sondern nach dem ausdrücklichen Wortlaut des Gesetzes dem Bevollmächtigten zu. Liegen die gesetzlichen Aussetzungsvoraussetzungen vor, ist die Aussetzung zwingend. Dabei ist es unerheblich, wie lange der Tod der Prozesspartei schon zurückliegt. Der Antrag kann selbst dann noch gestellt werden, wenn der Rechtsnachfolger zweifelsfrei feststeht (BAG, 26.01.2021 – 3 AZR 119/19 (A)).
5.47 Unberücksichtigtes Parteivorbringen
Bei ihrer Entscheidung sind die Gerichte gehalten, (relevantes) Parteivorbringen nicht bloß zur Kenntnis zu nehmen, sondern auch in Erwägung zu ziehen. Dagegen sind sie nicht verpflichtet, in den Entscheidungsgründen jedes Vorbringen ausdrücklich zu behandeln (s. dazu BAG, 22.03.2005 – 1 ABN 1/05). Geht das Gericht allerdings in seinen Entscheidungsgründen "auf einen erkennbar wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags einer Partei zu einer Frage, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, nicht ein, lässt dies jedenfalls dann auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, wenn dieser vom Rechtsstandpunkt des Gerichts aus nicht unerheblich oder offensichtlich unsubstanziiert war oder aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht berücksichtigt wurde" (BAG, 15.06.2021 – 9 AZR 413/19 – mit Hinweis auf BVerfG, 19.10.2004 – 2 BvR 779/04 – und BVerfG, 19.05.1992 – 1 BvR 986/91).
5.48 Unterlassene Vereidigung
Das Deutsche Richtergesetz sagt in § 45 Abs. 2 Sätze 1 und 2 DRiG: "Der ehrenamtliche Richter ist vor seiner ersten Dienstleistung in öffentlicher Sitzung des Gerichts durch den Vorsitzenden zu vereidigen. Die Vereidigung gilt für die Dauer des Amtes, bei erneuter Bestellung auch für die sich unmittelbar anschließende Amtszeit." Und was gilt, wenn sich zwischen zwei Amtszeiten ein gewisser Unterbrechungszeitraum aufgetan hat? "Liegt zwischen zwei Amtszeiten eines ehrenamtlichen Richters eine zeitliche Lücke, muss er nach § 45 Abs. 2 DRiG vor seiner ersten Dienstleistung in der sich anschließenden Amtszeit erneut vereidigt werden" (BAG, 27.02.2020 – 2 AZN 1389/19 – Leitsatz – mit dem Ergebnis, dass die unterbliebene Vereidigung des ehrenamtlichen Richters ein absoluter Revisionsgrund i.S.d. § 547 Nr. ZPO ist).
5.49 Verfassungsbeschwerde
Häufig drohen Beschwerdeführer (wie Kläger und Beklagte, Anm. d. Verf.), die ihren arbeitsgerichtlichen Prozess verloren haben, mit einer Verfassungsbeschwerde. Was Nichtjuristen dabei häufig übersehen: § 90 Abs. 2 Satz 1 BVerfGG. Der sagt nämlich: "Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden" (Subsidiaritätsprinzip). Das heißt für arbeitsrechtliche Streitigkeiten: Die beschwerdeführenden (oder klagenden, Anm. d. Verf.) Parteien müssen erst die prozessualen Möglichkeiten des Ausgangsverfahren ausgeschöpft haben, "um die geltend gemachte Grundrechtsverletzung in dem unmittelbar mit ihr zusammenhängenden sachnächsten Verfahren zu verhindern oder zu beseitigen".
Der Beschwerdeführer (ebenso wie Kläger und Beklagter, Anm. d. Verf.) muss das fachgerichtliche Verfahren nicht gleich als "Verfassungsprozess" führen. Er braucht also nicht von Anfang an verfassungsrechtliche Erwägungen und Bedenken geltend machen (s. dazu BVerfG, 26.02.2016 - 1 BvR 2836/14). Allerdings: Können Beschwerde und Klage bei verständiger Würdigung der Rechtslage und Einschätzung der maßgeblichen verfahrensrechtlichen Situation nur erfolgreich sein, wenn verfassungsrechtliche Gesichtspunkte in das Verfahren eingeführt werden, ist das anders. Insbesondere dann, "wenn der Ausgang des Verfahrens von der Verfassungswidrigkeit einer Vorschrift abhängt oder eine bestimmte Normauslegung angestrebt wird, die ohne verfassungsrechtliche Erwägungen nicht begründbar ist" (BVerfG, 10.03.2017 - 1 BvR 201/14 - mit Hinweis auf BVerfG, 26.02.2016 - 1 BvR 2836/14 - und Nichtannahme der Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 BVerfGG, weil der Beschwerdeführer nicht auf verfassungsrechtliche Zusammenhänge abgestellt hatte).
5.50 Verweisung - Bindungswirkung
Gemäß § 17a Abs. 2 Satz 3 GVG, der wegen § 48 ArbGG auch im arbeitsgerichtlichen Verfahren gilt, ist der Beschluss für das Gericht, an das ein Rechtsstreit wegen Unzuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts verwiesen worden ist, hinsichtlich des Rechtswegs bindend. Die vom Gesetz vorgesehene Bindungswirkung bezieht sich auf den Rechtsstreit, in dem er ergangen ist. Der im Gesetz verwendete Begriff "Rechtsstreit" betrifft zum einen das kontradiktorische Erkenntnisverfahren, zum anderen "weitere, dem Erkenntnisverfahren vor-, nach- oder nebengelagerte Verfahren". Ein im Verfahren auf Bestellung eines Prozessvertreters für eine nicht prozessfähige Partei – § 57 ZPO – ergangener Verweisungsbeschluss hat für das anschließende Hauptsacheverfahren keine bindende Wirkung. Hier handelt es sich nämlich um zwei verschiedene Rechtsstreitigkeiten (BAG, 08.02.2022 – 9 AZB 40/21 – mit weiteren Erläuterungen).
5.51 Vorfragen
Die erste Vorsitzende des Betriebsrats und der Arbeitgeber stritten in einem Vorabentscheidungsverfahren darüber, ob die im vorliegenden Verfahren erhobenen Zahlungsanträge im Urteilsverfahren oder im Beschlussverfahren zu entscheiden sind. Rechtsgrundlage für Ansprüche eines Betriebsratsmitglieds auf Weiterzahlung seines Entgelts für Arbeitszeit, die er wegen seiner Betriebsratstätigkeiten bzw. wegen seiner Freistellung versäumt hat, ist immer sein Arbeitsvertrag (= § 611a Abs. 2 BGB) - was auch gilt, "wenn betriebsverfassungsrechtliche Voraussetzungen als Vorfrage dieser Ansprüche zu klären sind" (s. dazu BAG, 25.10.2017 - 7 AZR 731/15). "Die Gerichte für Arbeitssachen dürfen in der für den gestellten Sachantrag statthaften Verfahrensart auch über solche Vorfragen mitentscheiden, für die an sich eine andere Verfahrensart gegeben wäre, wenn über den Gegenstand der Vorfrage isoliert gestritten würde." Auf der anderen Seite darf über einen Sachantrag "nicht in der unzutreffend gewählten Verfahrensart entschieden werden, nur weil eine für den Streitgegenstand notwendige Vorfrage ein Rechtsverhältnis betrifft, für dessen Klärung die gewählte Verfahrensart zulässig ist" (BAG, 12.06.2018 - 9 AZB 9/18 - mit Hinweis auf BAG, 25.11.1992 - 7 ABR 80/91).
5.52 "Vortragsverhinderung"
Das Grundgesetz gibt Verfahrensbeteiligten mit Art. 103 Abs. 1 GG "das Recht, sich nicht nur zu dem der Entscheidung zugrunde liegenden Sachverhalt, sondern auch zur Rechtslage zu äußern." In besonderen Fällen kann es geboten sein, "die Verfahrensbeteiligten auf eine Rechtsauffassung hinzuweisen, die das Gericht der Entscheidung zugrunde legen will, damit sie bei Anwendung der von ihnen zu verlangenden Sorgfalt zu erkennen vermögen, auf welche Gesichtspunkte es für die Entscheidung ankommen kann. Es kann im Ergebnis der Verhinderung eines Vortrags zur Rechtslage gleichkommen, wenn das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielfalt vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen braucht." Auf der anderen Seite: Die Verfahrensbeteiligten müssen – auch wenn die Rechtslage umstritten oder problematisch ist – "grundsätzlich alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte von sich aus in Betracht ziehen und ihren Vortrag darauf einstellen" (BAG, 03.06.2020 – 3 AZR 255/20 (F) – mit Hinweis auf BVerfG, 27.09.2018 - 1 BvR 426/13).
5.53 Zurückweisung von Vorbringen
Es passiert nicht gerade selten, dass Klägern oder Beklagten in einem arbeitsgerichtlichen Verfahren erst spät etwas einfällt, mit dem sie noch angreifen oder sich verteidigen wollen. Arbeitsrichter sehen das nicht immer gerne und können verspätet vorgebrachte Angriffs- und Verteidigungsmittel u.a. nach § 296 Abs. 2 ZPO i.V.m. § 61a ArbGG zurückweisen. Vorausgesetzt, "ihre Zulassung" würde "nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern ... und die Verspätung" beruht "auf grober Nachlässigkeit". So ganz einfach ist das aber auch für die Gerichte nicht: "Die den Vorwurf der groben Nachlässigkeit iSd. § 296 Abs. 2 ZPO begründenden Tatsachen müssen vom Gericht positiv festgestellt werden" – auch in einer Bestandsschutzstreitigkeit (BAG, 11.06.2020 – 2 AZR 400/10 – Leitsatz).
5.54 Zuständigkeit - "Corona-Prämie"
"Die zugelassenen Pflegeeinrichtungen werden" nach § 150a Abs. 1 Satz 1 SGB XI "verpflichtet, ihren Beschäftigten im Jahr 2020 zum Zweck der Wertschätzung für die besonderen Anforderungen während der Coronavirus-SARS-CoV-2-Pandemie eine für jeden Beschäftigten einmalige Sonderleistung nach Maßgabe der Absätze 2 bis 6 und 8 zu zahlen (Corona-Prämie)." So weit, so gut. Und vor welchem Gericht müssen sich die Beschäftigten mit ihren Arbeitgebern über die Euro- und Centbeträge dieser gesetzlichen Prämie streiten? Klare Ansage der obersten Arbeitsrichter: "Für Rechtsstreitigkeiten zwischen zugelassenen Pflegeeinrichtungen und deren Arbeitnehmern über die Berechnung und Höhe des Bundesanteils der Corona-Prämie nach § 150a Abs. 1 Satz 1 SGB XI ist der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit eröffnet" (BAG, 01.03.2022 – 9 AZB 25/21 – Leitsatz).
5.55 Zuständigkeit - Fiktionswirkung
Die Rechtswegzuständigkeit wird durch alle bis zur letzten Verhandlung in der Tatsacheninstanz eintretenden Umstände beeinflusst. Das gilt auch für die Fiktion des § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG (keine Arbeitnehmereigenschaft von Geschäftsführern oder Mitglieder eines Vertretungsorgangs) - es sei denn, es liegt ein rechtskräftiger Verweisungsbeschluss vor (s. dazu BAG, 03.12.2014 - 10 AZB 98/14). Die BAG-Rechtsprechung zu § 5 Abs. 1 Satz 3 ArbGG ist jedoch auf die Fiktion des § 14 Abs. 1 Nr. 1 KSchG nicht übertragbar. Verfahrensökonomische Gesichtspunkte sind für die rechtliche Beurteilung der Frage, ob das KSchG Anwendung findet, bedeutungslos (BAG, 21.09.2017 - 2 AZR 865/16).
5.56 Zuständigkeit Inland/Ausland - 1
"1. Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 ('Zuständigkeit für individuelle Arbeitsverträge') der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen sind dahin auszulegen, dass sie auf eine Klage eines Arbeitnehmers mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat gegen einen Arbeitgeber mit Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat anzuwenden sind, wenn der Arbeitsvertrag im Wohnsitzmitgliedstaat des Arbeitnehmers ausgehandelt und geschlossen wurde und vorsah, dass sich der Ort für die Erbringung der Arbeitsleistung im Mitgliedstaat des Arbeitgebers befindet, auch wenn diese Arbeit aus einem dem Arbeitgeber zuzurechnenden Grund nicht verrichtet worden ist" (EuGH, 25.02.2021 - C-804/19 - 1. Leitsatz - Österreich).
5.57 Zuständigkeit - Inland/Ausland - 2
"2. Die Bestimmungen in Kapitel II Abschnitt 5 der Verordnung Nr. 1215/2012 sind dahin auszulegen, dass sie der Anwendung nationaler Zuständigkeitsvorschriften auf eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unabhängig davon, ob sich diese Regeln als für den Arbeitnehmer vorteilhafter erweisen, entgegenstehen. 3. Art. 21 Abs. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 1215/2012 ist dahin auszulegen, dass eine Klage wie die in Nr. 1 des Tenors des vorliegenden Urteils angeführte unbeschadet von Art. 7 Nr. 5 dieser Verordnung bei dem Gericht des Ortes erhoben werden kann, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer gemäß dem Arbeitsvertrag den wesentlichen Teil seiner Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber zu erfüllen hatte" (EuGH, 25.02.2021 - C-804/19 - 2. und 3. Leitsatz - Österreich).