#HIV am 11.08.2022

Leben mit HIV: Der alltägliche Kampf zwischen Normalität und Diskriminierung

Glücklich trotz Diagnose HIV? Ein junge Frau liegt in ihrem Schlafzimmer nachdenklich auf dem Bett.
Stocksy / Lucas Ottone

Wir sprechen mit dem Stuttgarter Ahmed Mnissi über sein Leben als HIV-Infizierter und fragen nach, wie gut es heutzutage um die Aufklärung in der Gesellschaft bestellt ist.

Diagnose HIV-positiv: Vor sechs Jahren verändert ein Anruf seiner Ärztin das Leben von Ahmed Mnissi komplett. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, wählt der erfolgreiche Hair and Make-up-Artist & Maskenbildner einen anderen Weg. Er geht offen mit seiner Infektion um, engagiert sich öffentlich – unter anderem ist er das Gesicht der Kampagne der Deutschen Aidshilfe 2022 – und kämpft für mehr Aufklärung.

In unserem Interview berichtet Ahmed Mnissi über sein Leben mit HIV, sich hartnäckig haltende Vorurteile, Diskriminierung im Alltag und darüber, was er sich vom gesellschaftlichen Umgang mit HIV wünschen würde.

Porträt von Ahmed Mnissi.
Christina Rollny

Herr Mnissi, warum ist es für viele HIV-positive Menschen nach wie vor so schwer, sich offen zu zeigen?

Weil leider immer noch viele Halbwahrheiten und Mythen unterwegs sind, die schon lange nicht mehr stimmen. Deshalb ist die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen weiterhin sehr weit verbreitet. Generell gibt es zu diesem Thema – vor allem im heteronormativen Bereich – viel zu wenig Aufklärung. Die meisten denken immer noch, dass HIV ein Problem Schwuler sei. Das ist jedoch sehr kurz gedacht und birgt ein persönliches Risiko für jeden.

Wie war das, als Sie Ihre Diagnose bekommen haben?

Im ersten Moment war es surreal. Noch während ich die Nachricht erhalten habe, merkte ich, wie mein bewusster Verstand beim Zuhören erstmal nach hinten gedrängt wurde. Gleichzeitig prasselten unglaublich viele neue Gedanken auf einmal auf mich ein.

Welche Fragen stellt man sich in diesem Moment?

Es sind weniger Fragen als Gedanken. Als Erstes schoss mir – ausgehend von meinem eigenen damaligen Wissensstand – durch den Kopf: „Du wirst nie einen Partner finden und für immer Single bleiben.“ Ein Gedanke, der sich nie bewahrheitete.

Eine einzelne Frage ploppte zudem auch immer wieder auf, der ich aber irgendwann nicht mehr nachging. Nämlich die Frage nach dem „Woher“ beziehungsweise dem „Wie“. Da aber die wenigsten Betroffenen damals ehrlich mit dem Thema HIV umgegangen sind, war die Suche vergebens. Ich entschied mich deshalb irgendwann dafür, meinen Fokus und meine Energie lieber darauf zu verwenden, mich selbst weiterzubilden – quasi ein Selbstbewusstsein für die Thematik aufzubauen und mich für andere einzusetzen.

Wie hat sich die Diagnose auf Ihren Lebensstil ausgewirkt?

Eigentlich bemerkt man als HIV-positiver bei adäquater Therapie mittlerweile kaum noch Auswirkungen oder Einschränkungen aufgrund der Infektion. Dennoch beschloss ich damals, mich mehr mit meinem Körper und meiner Gesundheit auseinander zu setzen. Ich hörte auf Alkohol zu trinken, fing mit Sport an, stellte meine Ernährung um und nahm so 30 Kilo ab. Mittlerweile bin ich ein sehr körpersensibler und bewusster Mensch, aber auch mein Mindset hat sich durch die Diagnose damals um 180 Grad verändert.

Fühlen Sie sich heute noch in irgendeiner Art und Weise durch die Infektion eingeschränkt?

Nein null. Es gibt faktisch auch keinerlei Einschränkungen mehr. Die veralteten Bilder aus den 1980ern von HIV-positiven und Aids-kranken Menschen gehören zum Glück in den meisten Fällen der Vergangenheit an. Das Einzige, was mich in meinem Alltag heute noch an die Thematik erinnert, ist meine tägliche Tablette, die ich als Therapie nehmen muss, um weiterhin unter der Nachweisgrenze zu bleiben.

Zur Erklärung: Nicht nachweisbar = nicht ansteckend. Unter der Nachweisgrenze bedeutet: Das Virus ist im Blut und in Körperflüssigkeiten durch erfolgreiche Therapie nicht mehr nachzuweisen, und man ist somit nicht mehr ansteckend.

HIV-Behandlung ermöglicht ein langes und gutes Leben

Heutzutage lässt sich eine HIV-Infektion sehr gut behandeln. Eine Heilung ist bislang zwar noch nicht möglich – eine weitgehend normale Lebenserwartung unter adäquater Therapie dagegen schon. Wichtig hierfür ist der rechtzeitige Beginn einer entsprechend abgestimmten HIV-Therapie sowie regelmäßige Kontrolluntersuchungen durch spezialisierte Schwerpunktpraxen oder Klinikambulanzen. Der Internetauftritt der Deutschen Aidshilfe klärt umfangreich über die HIV-Behandlung auf. Dort findest du zudem alle wichtigen Informationen rund um das Thema HIV.

Wie haben die Menschen in Ihrem Umfeld reagiert, als Sie ihnen gesagt haben, dass Sie HIV-positiv sind?

Die Reaktionen waren verschieden, alles in allem aber sehr positiv. Wie ich bereits sagte, ich brauchte selbst erstmal einen Moment des Verarbeitens und musste mir Wissen aneignen. In den meisten Gesprächen verstanden alle, welchen Fortschritt wir in der Therapie von HIV erreicht haben und dass ein positiver HIV-Status bei entsprechender Behandlung schon lange keine Einschränkungen, geschweige denn ein Todesurteil mit sich bringt.

Haben Sie Ihre Offenheit schon einmal bereut?

Ich glaube, dass es immer Trolle geben wird, die sich nicht auskennen wollen und einen dann mit Kommentaren provozieren wollen. Damit muss auch ich durch meinen Aktivismus und meine Stellung in der Öffentlichkeit rechnen. Bereut habe ich es aber bisher noch nie. Ich leiste viel Aufklärung generell zum Schutz eines jeden und auch, um das Thema zu normalisieren. Dadurch habe ich schon sehr viel Positives erreicht.

Mit welchen Vorurteilen werden Sie als HIV-positiver konfrontiert?

Das kommt immer auf den Bereich an. In meinem Umfeld habe ich kaum noch Berührungspunkte mit negativen oder vorverurteilenden Aussagen. Erschreckend ist, dass nach wie vor im medizinischen Bereich die Aufklärung viel zu schlecht ist. Selbst in Arztpraxen oder Krankenhäusern werde ich mit Vorurteilen konfrontiert oder diskriminiert. Da ziehen die Pfleger oder Ärzte sich schon mal zwei, drei Paar Handschuhe an. Oder schieben die Termine ans Ende, weil kaum mehr Publikum da ist. Was absolut unnötig ist, da wir unter erfolgreicher Therapie null ansteckend sind.

Welche Aussagen von anderen machen Sie besonders wütend?

Wütend macht mich immer noch die Aussage, dass es eine „Schwulenseuche“ ist. Die Zahlen belegen, dass die Anzahl an heteronormativen Menschen mit HIV nach oben geht und im Vergleich zu queeren Menschen zunimmt – teilweise ist sie sogar höher.

Kontaktstelle zu HIV-bedingter Diskriminierung

Die Gesprächspartner der Kontaktstelle HIV-bezogene Diskriminierung der Deutschen AIDS-Hilfe unterstützen dich, wenn du aufgrund deiner HIV-Infektion diskriminiert wurdest – egal ob im Krankenhaus, in der ambulanten Behandlung, am Arbeitsplatz oder bei Behörden.

Sie informieren dich über Beschwerdemöglichkeiten, unterstützen dich bei deiner individuellen Entscheidung und begleiten dich im Beschwerdeverfahren. Die Zusammenarbeit erfolgt eng mit Aidshilfen in deiner Nähe.

Kontaktieren kannst du die Kontaktstelle per Mail oder telefonisch:

Wie viel Unwissen herrscht hierzulande noch bezüglich HIV?

Eine sehr gefährliche Aussage, die leider viel zu oft noch durch eben die oben beschriebene Annahme getroffen wird, ist, dass heterosexuelle Menschen sich nicht schützen müssen, beziehungsweise die Pille als Schutz zählt. Jedoch nur vor Schwangerschaft und nicht vor STI (Sexuell übertragbare Infektionen). Zu wenig Menschen sind gut aufgeklärt. Grund dafür ist, dass wir generell Sex und Geschlechtskrankheiten immer noch viel zu sehr tabuisieren und uns hinter einem in den letzten Jahrhunderten angelegten künstlichen Schamgefühl verstecken.

Geht die heutige Generation zu sorglos mit dem Thema Geschlechtskrankheiten um?

Das muss man differenzieren. Die Generation 35+ geht meiner Einschätzung nach mit dem Thema immer noch schlecht um, weil sie an Unwahrheiten, Klischees und Vorteilen festhalten. Die jüngere Generation ist schon viele aufgeklärter, was das Thema Sex und Sexualität angeht. Allerdings fehlt auch Ihnen durch zu wenig Informationsarbeit oft das nötige Wissen, um sich selbst gut genug zu schützen.

Was muss in Sachen HIV-Aufklärung Ihrer Meinung nach getan werden? Wo hakt es besonders?

Wir müssen dringend rechtzeitig in die Schulen rein. Unsere Kinder werden durch das Internet und die sozialen Medien heutzutage früher sexualisiert als noch vor ein paar Jahren. Deshalb haben wir die Verantwortung, ihnen Werkzeuge als Schutz – ob nun mental, durch Wissen oder Aufklärung – an die Hand zu geben.

Es gibt ja noch so viel mehr als nur HIV. Wir haben den HP-Virus, Hepatitis und selbst Chlamydien können unentdeckt etwa zu Unfruchtbarkeit führen. Der wichtigste Punkt, den leider viel zu wenig Menschen schon mal gehört haben, ist, dass wir heute auf dem Stand Safer Sex 3.0 sind. Dieser besteht aus drei Säulen:

Säule 1: Schutz durch Kondom.

Säule 2: Schutz durch PrEP (Prä-Expositions-Prophylaxe): vorbeugender Schutz durch ein Medikament.

Säule 3: TasP (Treatment as prevention): Schutz durch Therapie, was in meinem Fall auf mich zutrifft.

Welchen Appell möchten Sie an die Gesellschaft richten?

HIV ist zwar heute in den seltensten Fällen körperlich problematisch, aber mental kann dies schon eine Herausforderung sein. Generell müssen wir uns alle selbst mehr aufklären. Eltern müssen mehr mit ihren Kindern sprechen und in der Schule sollte dieses Thema mehr bearbeitet werden. Eine enge Zusammenarbeit mit Organisationen wie der Deutschen Aidshilfe wäre hier wünschenswert.

Darüber hinaus sollten wir alle mindestens einmal im Jahr einen HIV-Test und regelmäßige Testungen auf STI machen lassen. Noch wichtiger ist, dass unser Gesundheitssystem dringend die entsprechenden Kosten für alle übernimmt. Und auch Ärzte und Klinikpersonal müssen sich selbst dringend mehr zu diesen Themen informieren.

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